Idealismus und Realismus als Raumideen

Es gibt einen Topos, den Ernst Bloch mit unüberlesbarer Ironie wie folgt beschreibt. „Wie einfach scheint es, daß man in sich sitzt und heraussieht. Das Ich wohnt innen, umgrenzt von der Haut, die sonst nicht umsonst eigene Haut heißt. Außerhalb ihrer, in dem, was dadurch Draußen heißt, wohnen die Dinge. In einem Raum ohne uns, durch den wir stets wie besucherisch hindurchgehen, auch mit eigener Hand eingreifen.“ (Tübinger Einleitung in die Philosophie, Bd. 1, Frankfurt am Main 1965, S. 35). Recht durchdringend wirkt an dem nachgezeichneten Gemeinplatz die Innen-Außen-Unterscheidung. Das Ich mit seinem Wahrnehmen finde sich innen, die wahrzunehmenden Dinge befänden sich im „Draußen„. So simpel sich das in der zitierten Beschreibung auch ausnimmt, entlang der nämlichen Innen-Außen-Scheidung entfaltete sich im neuzeitlichen Philosophieren nichts Geringeres als die Opposition von Idealismus und Realismus. Was diese Opposition betrifft, darf ich an eine von Rudolf Carnap vorgenommene und bis heute immer wieder bemühte thesenförmige Profilierung der beiden philosophischen Grundrichtungen erinnern. Danach behauptet der Realist: „die mich umgebenden, wahrgenommenen, körperlichen Dinge sind nicht nur Inhalt meiner Wahrnehmung, sondern sie existieren außerdem an sich (‚Realität der Außenwelt‚)“. Während der Idealist behauptet: „real ist nicht die Außenwelt selbst, sondern nur die Wahrnehmungen oder Vorstellungen von ihr (‚Nichtrealität der Außenwelt‚)“. (Scheinprobleme der Philosophie, Frankfurt am Main 1966, S. 60). So stellt sich die fragliche Opposition in Thesenform dar. Was geschieht näher besehen bei der Entscheidung für die eine oder die andere Grundrichtung?

Erstens gewahrt man wahrzunehmende Dinge, die zu einer Welt konfigurieren, welche als Außenwelt angesetzt wird.

Zweitens unterscheidet man von der Außenwelt das Wahrnehmen derselben. Ob dieser Unterschied dann realistisch oder idealistisch interpretiert wird, jede der möglichen Interpretationen unterstellt ihn.

Drittens. Im Kern besteht die Richtungsentscheidung darin, die Außenwelt, diese Konfiguration wahrzunehmender Dinge, zu statuieren: Existiert sie real oder nicht? Existiert sie an sich, also auch ohne mich – wie das der von Carnap präsentierte Realist ausdrücklich bejaht – oder existiert sie nicht an sich, sondern – das wäre die folgerichtige Ergänzung – nur für mich, nur für das Wahrnehmen und den Wahrnehmenden.

Viertens. Gleichviel, ob die Außenwelt eine Realität zugesprochen oder abgesprochen bekommt, im einen wie im anderen Falle unterstellt die Rede von der Außenwelt (bzw. von Außendingen, äußeren Gegenständen und dergleichen mehr) eine dazu korrelative Innerlichkeit, ein Innen, ja eigentlich eine Innenwelt. Und daß dieses Innere auf seiten des Wahrnehmens anzusetzen ist, liegt auf der Hand. Etwa in dem Sinne, wie Carnap den Realisten sagen läßt, die wahrzunehmenden Dinge seien nicht bloß ein „Inhalt“ seines Wahrnehmens.

Fünftens. Die Opposition von Idealismus und Realismus entfaltet sich also in der Tat entlang einer Außenwelt-Innenwelt-Unterscheidung. (Vgl. dazu auch: Marcus Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, Frankfurt am Main 2003, S 101 f). Die Außenwelt-Innenwelt-Unterscheidung wiederum stellt eine ausgesprochen räumliche Beziehung dar. Um das sagen zu können, muß  man dem Inneren keineswegs unterstellen, es wäre gleich der Außenwelt sinnlich ausgedehnt. Schon die gleichzeitige Gegebenheit von Außenwelt und Innenwelt macht ihren Unterschied zu einem räumlichen, zu einer Konfiguration. Mithin entfaltet sich die Opposition von Idealismus und Realismus entlang einer dezidiert räumlichen Beziehung.

Sechstens. Daß Philosophien neben Auffassungen über Sein, Zeit, Leben usw. auch Auffassungen vom Raum beinhalten, versteht sich. Zu idealistischen und realistischen Lehren scheiden sie sich aber nicht schon durch das Vertreten eines Raumbegriffes, auch noch nicht durch das Vertreten bestimmter Auffassungen über Außenwelten und Innenwelten. Dazu geraten sie erst, indem sie die einmal angenommene Außenwelt-Innenwelt-Konfiguration als solche statuieren, um dann die statuierenden Aussagen ein ganzes Gedankenensemble prägen, durchdringen, einfärben zu lassen. So entstehen Gedankengebäude, die nicht nur einfach Auffassungen vom Raum mit beinhalten, die vielmehr durch eine jeweils bestimmte Interpretation der zutiefst räumlichen Außenwelt-Innenwelt-Konfiguration rundum formiert sind. Sie sind dann mehr als ein Denken auch des Raumes, sie sind ein raumförmiges Denken, weil eben ein von der jeweils spezifisch ausgelegten Außenwelt-Innenwelt-Konstellation formiertes Denken. Es sind Raumideen.

Siebentens. Realisten und Idealisten teilen eine stillschweigend mitgedachte oder ausdrücklich behauptete Annahme: Der Geist ist innen, die Seele ist drinnen, Denken und Wahrnehmen finden sich im Innern. Diese Annahme wurde von Richard Avenarius als kulturgeschichtlich bedingte Introjektion ausgemacht (Der natürliche Weltbegriff, §§ 44 – 64). Im Anschluß daran entwickelte dann Hermann Schmitz eine systematische Kritik der Introjektion. Eine von „vier Verfehlungen des abendländischen Geistes“  hat er in der Introjektion erkannt (Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32 – 37). Wenn man dem folgen kann, darf man einem einschneidenden ideengeschichtlichen Ereignis entgegensehen. Dereinst werden sich die Außenwelt-Innenwelt-Unterscheidung und die Idealismus-Realismus-Opposition ganz  sinnfällig als höchst transitorische Phänomene entpuppen.

Abb.: Raffael, Die Schule von Athen

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