Früchte des Zorns

Es gibt ein Buch, das ich schon vor Jahrzehnten hätte lesen sollen und auch lesen können, aber  erst jetzt zur Kenntnis genommen habe: Früchte des Zorns von John Steinbeck. Es ist ein großer Roman über kleine Leute, einer  über die  Stärke der Schwachen, die mich schon immer ungleich mehr angezogen hat als die Stärke der Starken, weil sie anmutiger wirkt. Bei dieser Gelegenheit kommt mir die Novelle Die Kraft der Schwachen von Anna Seghers in den Sinn. Oder Die Mutter von Maxim Gorki.

Eine Landarbeiterfamilie, der die Umstände zur Zeit der großen Weltwirtschaftskrise übel mitspielen und die wirklich nichts  für ihre Verarmung kann, redet sich nicht auf die Umstände heraus, sondern macht sich auf die riskante und beschwerliche Suche nach einem Leben, in dem sie endlich aufhören kann,  Opfer der Umstände zu sein. Man weiß, daß die  Grenzen, die jeder Mensch hat,  keineswegs unverrückbar sein müssen. Man hat zumindest davon gehört, wie Menschen buchstäblich über sich hinauszuwachsen vermögen. An  Steinbecks Roman läßt sich genau das glaubhaft nachvollziehen. Je weiter der Roman vorankommt, desto größer werden  die kleinen Leute.  Nicht alle freilich. Aber die Mutter, Sohn Tom, der zweite Sohn, die erwachsene Tochter …  Am Ende sind es die nahezu  vollständigen Habenichtse, die mit nichts als einer körpereigenen Kraft das Leben eines fremden Menschen retten.

Anders als ich in meinem Kommentar, schreibt Steinbeck ganz sinnlich. Er erzählt, erzählt und erzählt. Periodisch legt er Passagen von biblisch  eindringlicher und beschwörender Diktion ein. Sie lassen das Kleine, Alltägliche und Persönliche gleichsam historisch vibrieren. Die Beschreibungen von Hitze, Staub und Sturm geraten zu Insignien einer Zeit.

Und er erzählt, wie Leute, die von ihm  ungeschminkt als wenig gebildet vorstellt werden, philosophieren. Eine ganze Schicht seines Textes lebt von diesem Philosophieren in der Perspektive der Akteure. Vor allem in der Perspektive der Mutter. Sagt die Mutter eines Tages: „Männer leben ruckartig, Frauen im Fluß“. Ein Satz, der mich für einige Zeit am Weiterlesen gehindert hat. Das könnte es sein, Männer leben in heftigen aber nicht sehr nachhaltigen Schüben, Frauen in allmählichen aber unermüdlichen Veränderungen. Darin vielleicht liegt der Grund, weshalb das sogenannte starke Geschlecht – wenn es denn ein solches gibt – das weibliche wäre.

Wie schön, daß es für solche Literatur  im Jahre 1962 einen Nobelpreis gegeben hat.

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