Ohne Titel

Der Berliner Philosoph Hartwig Schmidt ist am 19. Juli 2017 nach einer schweren Erkrankung von uns gegangen. Auch die Abhandlungen auf diesen Seiten gehören zu seinem lebenslangen Ringen um philosophische Erkenntnisse. Wir, seine Familie, sind überzeugt, in seinem Sinne zu handeln, wenn wir sie weiterhin zugänglich machen.

Heidi Schmidt
Anne Schmidt
Hannes Schmidt

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Todesstrafe

Ist es nicht gerecht, einen Mörder zur Strafe zu töten? Er hat einen Menschen umgebracht und wird dafür seinerseits getötet. Was er anderen angetan, widerfährt ihm nun selbst. So wird Gleiches mit Gleichem vergolten, äquivalent. Und tatsächlich, bindet man Gerechtigkeit an die Äquivalenz von Tat und Vergeltung, erscheint die Todesstrafe für Mörder als gerecht. Nur muß man dann bei anderen Straftaten genauso verfahren. Körperverletzung muß dann mit Körperverletzung bestraft werden, Beleidigung mit Beleidigung usw. Und das wird schon erheblich weniger einleuchten. Ja, bei vielen Delikten scheint das undurchführbar. Wie wollte man dann Kinderschändung vergelten?

Ideengeschichtlich hat das Prinzip der Äquivalenz von Tat und Vergeltung eine beträchtliche Rolle gespielt. Bei bestimmten Aspekten der Gerechtigkeit wird das Prinzip bis heute realisiert. Man denke nur an die Leistungsgerechtigkeit: ein bestimmtes Quantum geleisteter Arbeit wird mit dem äquivalenten Quantum vergegenständlichter Arbeit in Geldform vergütet. Bei der Entwicklung ihres Strafrechts hat die abendländische Kuktur allerdings einen anderen Weg beschritten. Nicht das Prinzip „Gleiches mit Gleichem vergelten“ ist dafür grundlegend geworden, sondern die Fundierung durch die Menschenrechte, zu denen auch das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrheit gehören. Danach schied die Toderstrafe aus dem Kreis gerechter Bestrafungen genauso aus wie die Folter aus dem Arsenal legitimer Verhörmethoden. Denn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrheit als Menschenrecht bedeutet: Was immer ein Mensch´anstellt, niemals und nirgendwo darf  dafür ihm das Leben genommen und sein Körper gequält werden. Das ist die Konsequenz aus einem strikten Verständnis der Menschenwürde.

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„Deutsche Leitkultur“

Das Wort hat wir nie gefallen. Ähnlich wie „Leithammel“ klingt es so verschämt autoritär. Innerhalb der kulturellen Vielfalt, die hierzulande gelebt wird, soll eine der vielfältigen Kulturen gegenüber den anderen die leitende, bestiemmende, dominante sein, die „führende Rolle“ spielen. Das ist die dahintersteckende Vorstellung. Und die mutet recht altmodisch an, zutreffend auf das 17. Jahrhundert, als der Kathplizismus beschloß den Protestantismus zu dulden, zu tolerieren, vorausgesetzt der Katholizismus bleibt dabei die dominante Mehrheitsreligion. Über eine dominannte Kultur nachzudenken, lohnt sich m. E. nicht. Statt an einer Dominanten sollte uns an kulturellen Werten gelegen sein, die innerhalb der Vielfalt ein Band stiften, in aller Unterschiedlichkeit verbinden stattt trennen und damit auch Verbindlichkeit schaffen für unser Zusammenleben. Woher solche Werte nehmen,was ließe als solche Werte auszeichnen?

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Geist (spiritus)

Der Geist, den das Thema aufruft, hat seinen logischen Ort innerhalb einer vierstelligen Unterscheidung. 1. Das Sinnliche. Sinnlich sind alle Körper, von den Elementarteilchen über die Atome und Moleküle bis hin zu den Himmelskörpern. 2. Das Nichtsinnliche, die Negation des Sinnlichen. Das ist die Leere. 3. Das Unsinnliche, die Pejoration des Sinnlichen. Darunter fällt alles, was sich nur mittelbar sinnlich darstellt, insbesondere die Gesetze, die nur an den von ihnen regierten Körperprozessen und vermittels derselben sinnlich in Erscheinung treten. 4. schließlich: Das Übersinnliche. Das ist der Geist, und zwar der Geist im Sinne von spiritus, noch nicht im Sinne von mens. Anders als  das in der Geistphilosophie zumeist geschieht, reduziere ich den Geist nicht auf den mentalen, sondern unterscheide vom mentalen einen spirituellen Geist. Letzterer ist noch kein Denken, kein Bewußtsein, noch nicht einmal ein Wahrnehmen, und doch geistig weil übersinnlich.

Das Phänomen. Spiritueller Geist taucht naturgeschichtlich spätestens im Zusammenhang mit gewissen molekularen Körpern auf. Bei diesen Körpern handelt es sich um sogenannte Makromoleküle, insbesondere um die als DNA und als Protein bezeichneten Moleküle. Der fragliche Geist steht gleichsam hinter einer eigentümlichen und bis heute durchaus geheimnisvollen Beziehung zwischen den beiden. Fachwissenschaftlich wird die Beziehung vornehmlich von der Genetik untersucht. In deren Sprache läßt sie sich etwa so beschreiben: Die DNA hat vier Nucleotidbasen zu Bausteinen. Jeweils drei der vier Bausteine bilden eine Dreiergruppe, die auch Triplett genannt wird. Indem sich die Bausteine unterschiedlich mischen, ergeben sich unterschiedliche Dreiergruppen. Diese Dreiergruppen sind ihrerseits wieder zu Sequenzen aufgereiht, sagen wir der Einfachheit halber, zu Bausteinsequenzen der DNA. Und je nachdem, in welcher Abfolge die Dreiergruppen sich reihen, ergeben sich unterschiedlich Bausteinsequenzen der DNA. Als solche erlangen sie nun eine Bedeutung für die Einweißbildung, für die Proteinsynthese. Eiweiß hat zwanzig Aminosäuren zu Bausteinen. Jede der Aminosäuren, so heißt es, entspricht einer bestimmten Dreiergruppe auf seiten der DNA. Unter dieser Voraussetzung ergeben sich Bezüge wie die nachstehenden. „Die Nukleinsäure bestimmt die Sequenz des Proteins. Die Reihenfolge der Bausteine in der Nukleinsäure bestimmt diejenige im Protein.” (Francois Jacob, Logik des Lebenden, Frankfurt am Main 1972, S. 293). Und die jeweiligen Aminosäurensequenzen in den Proteinen wiederum bestimmen das Erscheinungsbild und das Verhalten eines Lebewesens. „Die DNA macht die RNA macht das Protein macht das Individuum” (Christian DeDuve, Ursprung des Lebens, Heidelberg-Berlin-Oxford 1994, S. 31). – Das sind Bezüge, deren Vergewisserung eigentlich zu Einsichten in den spirituellen Geist hinführen kann. Der fachwissenschaftliche Diskurs meidet, soweit ich sehe, diesen Weg. Dafür operiert er auffallend häufig mit metaphorisch gemeinten bzw. nur zu Metaphern tauglichen und oft genug auch ausdrücklich apostrophierten Ausdrücken, mit Ausdrücken wie „genetischer Code”, „genetisches Wörterbuch”, „Protein-Nuclein-Wörterbuch”. Fragt man sich aber, worum es sich bei den so umschriebenen Bezügen eigentlich und nicht bloß im übertragenen Sinne handelt, gelangt man schrittweise zu dem Gedanken an einen prämentalen Geist.

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Wer ist dumm?

Ist Dummheit gleichbedeutend mit Mangel an Bildung und Intelligenz? Es gibt einen Vortrag von Robert Musil über Dummheit. Dort heißt es an einer Stelle, die Dummheit bestehe nicht im Mangel an Verstand, sondern im Aussetzen des Verstandes. Wann setzt ein eigentlich reichlich vorhandener Verstand aus? Vor allem dann, wenn die Eitelkeit die Zügel schießt. Die sorgt unfehlbar dafür, daß man seine Grenzen verkennt. Und genau  damit hebt Dummheit an. Wer wenig Bildung  und einen geringen Intelligenzquotienten hat, ist nicht schon deshalb dumm. Dumm ist jemand, weil und insofern er seine Grenzen verkennt, obwohl er intelligent und gebildet genug ist, seine Grenzen zu kennen.

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Das Element des Raumes

Das Element des Raumes ist die Ausdehnung. Um es möglichst bündig zu formulieren: räumlich = in extensio. Aber wie hat man die Ausdehnung zu begreifen?

Das belassende Differieren und Wiederholen macht die Ausdehnung aus. Und was meint wieder der unvertraute Ausdruck „das belassende Differieren und Wiederholen“? Er meint etwas, das bei der Zeit, bei der eigentlichen,  noch vollständig ausbleibt. Typisch zeitlich geschehen Differieren und Wiederholen folgendermaßen: Ein Ereignis differiert zu einem anderen Ereignis, und dann gibt es das erstere nicht mehr. Ein Ereignis wiederholt ein Ereignis, und dann wird es das wiederholte Ereignis gerade durch sein Wiederholen nicht mehr geben. Differenz und Wiederholung lassen hier das Eine und das Wiederholte zum nicht mehr Gegebenen abschatten. Wenngleich es schon wichtig ist, daß etwas nicht mehr Gegebenes alles andere als einfach nicht gegeben ist. Im Kontrast dazu das belassende Wiederholen und Differieren. Das eine Ereignis differiert zum anderen Ereignis, und zwar so, daß dabei das erstere belassen wird. Ein Ereignis wiederholt ein Ereignis, und zwar so, daß das wiederholte belassen wird. All dies ereignet sich, es geschieht in der Zeit, es muß also auch bei dem Belassen irgend etwas zum nicht mehr Gegebene wegtreten. Aber was da ins nicht mehr Gegebene herabsinkt, ist nun lediglich das noch nicht um das andere Ereignis ergänzte Ereignis, das noch nicht um seine Wiederholung ergänzte Ereignis. Im Gefolge des belassenden Wiederholens und Differierens gibt es mithin das Eine und das Andere, das Wiederholte und das Wiederholende gleichzeitig. Das Eine und das Andere, das Wiederholte und das Wiederholende konfigurieren nun. Nicht mehr gibt es dann das Eine ohne das Andere, das zu Wiederholende ohne seine Wiederholung. Das macht den belassenden Charakter der Ausdehnung aus.

Ausdehnung als kraftvoll. In Gestalt der Ausdehnung geht das Werden über sich hinaus, und zwar per se. Per se, das heißt vermittels seiner eigenen Kraft. Diese Kraft erweist sich als das Vermögen zum Belassen. Kraft führt mitten im zeitlichen Differieren und Wiederholen über dieses hinaus, hin zu einem belassenden Differieren und Wiederholen, hin zur Ausdehnung. Von daher bildet die aktive Kraft, wie Leibniz formuliert, ein „der Ausdehnung vorausgehendes Prinzip“.[1] Ohne Kraft keine Ausdehnung, kein Raum, heißt es in einer frühen Schrift von Immanuel Kant.[2] Schon deshalb kann es den absolut leeren Raum nicht geben; noch die Leere strotzt vor Kraft. „Alles ist Kraft“, sagt Friedrich Nietzsche.[3] Möglich, daß einem – wie weiland Oswald Spengler[4] – am Ende das Wort „Kraft“ als der treffendere, weil weniger abstrakte Ausdruck für Raum  erscheint.

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Lust am Leiden

Was ist Grausamkeit? Sie ist die Lust am Leiden – nicht schon das Leiden und Leidzufügen überhaupt, auch nicht das besonders schmerzliche, extreme, schreckliche Leiden und Leidzufügen, sondern erst die Lust am Leiden. Die paradoxe Verknüpfung von Lust und Leid macht das eigentümliche Wesen der Grausamkeit aus. Sie hat viele Gesichter. Lust am Leiden – das kann zum einen die am fremden oder die am eigenen Leiden sein. Zum anderen kann sie am physischen oder am seelischen Leiden empfunden werden. Schließlich kann Grausamkeit noch die Lust am eigens zugefügten Leiden oder die am bloß erlebten Leiden sein.

Grausamkeit hat Abkömmlinge.  Am nächsten steht ihr die Schadenfreude. Das Wort „Schadenfreude“ ist im Deutschen das einzige Wort, das explizit die Struktur der Grausamkeit zum Ausdruck bringt. Schadenfreude = Freude am Schaden = Lust am Leiden. So bruchlos, wie hier die strukturelle Übereinstimmung ausfällt, muß es sich bei der Schadenfreude zweifellos um einen direkten Ableger der Grausamkeit handeln. Und wenn wir nun der Schadenfreude auch nur ein wenig nachspüren und nachgehen, finden wir, wie in ihrer Gestalt die Lust am Leiden plötzlich in Sphären der Kultur auftaucht, die mit Grausamkeit am allerwenigsten zu tun zu haben scheinen.

Es gibt die Schadenfreude nämlich nicht allein als eine individuelle Verhaltensweise. Daran denkt man ja zunächst bei ihr – an ein Verhalten des Einzelnen oder von einzelnen Mitmenschen. Es gibt die Schadenfreude auch in einer kollektiven Form, als eine kollektive, rational organisierte und sogar ritualisierte Schadenfreude. Um kollektive Schadenfreude handelt es sich nicht zuletzt bei den für unsere Kultur überaus bedeutsamen Siegesfeiern. Eine sportlich, politisch, militärisch oder sonstwie motivierte Siegesfeier ist fast immer auch das Feiern einer Niederlage. Man feiert mit dem eigenen Sieg zugleich die Niederlage eines sportlichen Kontrahenten, eines wirtschaftlichen Konkurrenten, eines politischen Gegners, eines militärischen Feindes.

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Lebloses, Entropie, Lebendiges

In den Naturwissenschaften hat es schon eine gewisse Tradition, Lebendiges und Lebloses, Lebewesen und prävitale Wesen im Lichte des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik voneinander unterscheiden zu wollen.

Was den urtümlich von Rudolf Clausius formulierten Hauptsatz selbst betrifft, so nehme ich ihn in der üblichen Weise als einen Satz, der das „Gesetz von der Zunahme der Entropie“ beschreibt. Mit den Worten von Ilya Prigogine gesagt, impliziert er „die Existenz einer Funktion S, der Entropie, die so lange monoton wächst, bis sie im thermodynamischen Gleichgewichtszustand ihr Maximum erreicht“ (Vom Sein zum Werden, München – Zürich 1988, S. 29).

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde wiederholt versucht, unter Berufung auf den viel besprochenen Satz eine fundamentale Differenz zwischen Leblosem und Lebendigem nachzuzeichnen. Damit begonnen hat meines Wissens Felix Auerbach innerhalb seines 1910 erstmals erschienenen Textes „Ektropismus und die physikalische Theorie des Lebens“ (Leipzig 1910). Dort wird eine den leblosen Körpern eigentümliche Tendenz sowie eine den Lebewesen eigentümliche Tendenz ausgemacht und die eine von der anderen geschieden. Die Tendenz lebloser Körper sei die zur Zunahme der Entropie, während die den Lebewesen eigentümliche Tendenz als „vitaler Ektropismus“ bezeichnet wird. Lebloses als von Grund auf entropisch, Vitales als ektropisch. Auf seiten der Philosophie hat sich als erster Helmuth Plessner solchen Thesen gestellt. In seinem 1928 erstveröffentlichten Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ referiert er Auerbach wie eine sichere Quelle. „Während alles physische Sein dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Prinzip der Entropie unterliege, wonach bei allen energetischen Umsetzungen Wärme frei wird, die Gesamtenergie des Weltalls also einem Minimum zustrebt (Kältetod), sei Leben energiesteigernd und -bindend, ektropisch. Nur aus diesem Prinzip der Ektropie sei überhaupt Entwicklung zu begreifen.“  (Berlin – New York 1975, S. 198). Im Gegensatz zum Leblosen sei das Leben energiesteigernd und energiebindend und diesen Sinnes ektropisch.

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Ein Wort für den Vitalismus

Die heftige, fast schon militante Abneigung zeitgenössischer Biologen gegen den Vitalismus hat etwas Unheimliches an sich. Daß man  die Begriffsbildung vis vitalis verwirft, läßt sich noch nachvollziehen – sie stammt von den Alchimisten. Aber wie sollte  dem Leben und Lebewesen eine eigentümliche Lebenskraft (Vitalität, vitalitas) abgesprochen werden können, die  aus (physikalischen und chemischen) Energien sich nährt, zugleich über Energie hinausgeht und sich gegebenenfalls als Zeugungskraft (genius), Kraft der Triebe, Willenskraft usw. geltend macht.

Was versteht man unter Vitalismus? Die „Anschauung, daß sich belebte Materie wesensmäßig von unbelebter Materie unterscheidet“ (John Maddox, Was zu entdecken bleibt, Ffm 2000, S. 149). Die Verwerfung des Vitalismus muß mithin behaupten, belebte Materie würde sich nicht „wesensmäßig“ von unbelebter Materie unterscheiden.

Als ich diese Verwerfung kritisch zu überprüfen begann, glaubte ich zunächst, es gelte zu ergründen, ob sich die belebte Materie nicht doch von der unbelebten wesensmäßig unterscheidet. So fragend, hatte ich mich allerdings auf eine ungereimte Wortfügung eingelassen, auf die  Fügung belebte Materie. Sie unterstellt, es gäbe zwei Arten der Materie, unbelebt die eine, belebt die andere. Und das ist falsch. Von daher stammt auch die Verwechslung der Leiber mit einer Art von Körpern. Mittlerweile scheide ich so: Es gibt die Materien, die au fond stets und überall noch nicht vital sind, und es gibt die Materialisierungen, die sich allein bei Lebewesen finden. Materie und Materialisierungen – um diese Differenz handelt es sich.

Jede Zelle, jeder Organismus, jedes Lebewesen macht eine Materialisierung aus. Und das heißt: die Verwirklichung einer sogenannten genetischen Information, die Realisierung einer Idee in Materien. Durch dieses Verwirklichen, Realisieren stellen Materialisierungen etwas wesentlich anderes als Materien dar, unbeschadet der Tatsache, daß sie ihrer stets bedürfen, und ohne mit dem Gebilde einer belebten Materie verwechselt werden zu können. Von daher läßt sich das antivitalistische Reden über das Vitale  kritisieren.

Abb.: Hendrick De Clerk, Die Lebenskraft des Menschen
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Vom Werden des Lebens

Zwei Thesen über das Werden des Lebens sind in den einschlägigen Wissenschaften verbreitet. Die eine besagt: Omne vivum ex vivo, alles Leben wird aus Leben. Eine Formel, die auch als Gesetz der Biogenese gilt. In dieser Formel faßte man im 19. Jahrhundert empirische Befunde zusammen, die Louis Pasteur und andere Forscher erhoben hatten. Sie zeigten, daß Lebewesen, von denen man bis dahin glaubte, sie würden spontan aus lebloser Materie entstehen, in Wahrheit aus lebendigen Vorgängern hervorgegangen sind. Womit bewiesen war, alles Leben wird aus Leben. Rudolf Virchow hat die mittlerweile schon klassische Formel noch um eine weitere ergänzt: Omnis cellula e cellula, jede Zelle wird aus einer Zelle. „Wo eine Zelle entsteht, da muß eine Zelle vorangegangen sein (omnis cellula e cellula), ebenso wie das Tier nur aus einem Tiere, eine Pflanze nur aus einer Pflanze entstehen kann.“ (Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1871, S. 24). Soweit die eine These. Zu ihr findet sich nun noch eine Art Gegenthese. Ihrem Ansatz nach beinhaltet die Gegenthese den folgenden Gedanken. Es muß ein Werden des Lebens überhaupt geben, ein genuines Werden des Lebens, und das Werden des Lebens überhaupt, kann offenkundig nicht ein Werden aus Leben sein. Aber wie versteht sich solches Werden, wenn es kein Werden aus Leben sein kann? An diesem Fragepunkt angelangt, reklamiert man oft eine „Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie“, um hier eine Formulierung von Ernst Mayr zu bevorzugen (Das ist Biologie, Heidelberg-Berlin 1998, S. 238). Die Behauptung einer Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie gilt auch als zentrale Formel der sogenannten Abiogenese. Gelegentlich werden beide Thesen sogar zugleich, im gleichen Kontext behauptet. So etwa von Francois Jacob. Einerseits akzeptiert er, daß „das Organische zum Lebenden“ geworden sein muß, auch wenn „jene Reihe von Ereignissen schwer zu verstehen ist, die das Organische zum Lebenden werden ließ.“ Im gleichen Text formuliert er andererseits: „Das Leben geht aus dem Leben hervor, und einzig aus ihm.“ (Die Logik des Lebenden, Frankfurt am Main 1972, S. 138, 323). Leben soll also aus dem Organischen, das heißt aus lebloser, molekularer Materie geworden sein und zugleich doch einzig und allein aus Lebendigem werden können. Spätestens dann, wenn beide Gedanken im gleichen Kontext auftauchen, quasi direkt aufeinander treffen, und auch noch eine so bündige Formulierung erfahren wie durch Jacob, wird es bereits fühlbar, wie logisch spannungsvoll sie zueinander stehen. Wie soll Leben aus leblosen organischen Substanzen geworden sein können, wenn es zugleich doch einzig und allein aus anderem Leben hervorgehen können soll? Das ist – wenigstens in der nachlesbar formulierten Weise –  unmöglich.

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