Nachstehender Text liest sich am besten im Anschluß an den Eintrag vom 27. 12. 2012.
Hegel hat einen ausgeprägten Sinn für Fülle, für Fülle durch Mannigfaltigkeit. Er bescheidet sich nicht mit der Unterscheidung von Verstand und Vernunft, die ja folgerichtig lediglich einen Verstand und eine Vernunft hinterläßt. Vielmehr beschäftigt ihn die Vielfalt der Formen, die von der Vernunft geistesgeschichtlich durchlaufen werden: beobachtende Vernunft, gesetzgebende Vernunft, tätige Vernunft … Er definiert das Selbst – als das in sich Zurückgekehrte – mehr noch allerdings interessieren ihn die mannigfachen Typen oder Gestalten, in denen Selbstbewußtsein und Selbst unter Menschen ihr Wesen oder Unwesen treiben: das einfache Selbstbewußtsein kraft Anerkennung, das auf Leben und Tod kämpfende Selbstbewußtsein, das herrische und das knechtische Selbstbewußtsein; sodann ein stoisches, ein skeptisches und ein tief unglückliches christliches Selbstbewußtsein; ferner das Erste Selbst, das die Person im Rechtszustand ausmacht, das Zweite Selbst im Reich der Bildung und das Dritte Selbst, als welches das Gewissen in der moralischen Welt auftaucht.
Für Hegel bilden Gestalten, Formen, Typen wie die exemplarisch aufgelisteten eine Fülle von Phänomen, von Erscheinungsformen, und zwar die Fülle der Erscheinungsformen des Geistes, genauer gesagt eines endlichen Geistes, des menschlichen gewissermaßen. Und es soll sich dabei durchweg um solche Phänomene handeln, die untereinander in einem Entwicklungszusammenhang stehen. Das heißt, sie stehen zueinander als das geringer und das höher Entwickelte. An den äußersten Enden dieses Zusammenhangs befinden sich die einfache sinnliche Gewißheit einerseits und das hochkomplizierte absolute Wissen andererseits. Ferner heißt das, daß es jene Phänomene zumeist nicht schon immer gegeben hat, solange es Menschen gab. Meist entstehen sie erst unter gewissen Umständen, die zu gewissen Entwicklungsstufen gehören. Das Gewissen beispielsweise hat es unter Menschen nicht schon immer gegeben. Vor Sokrates, vermerkt Hegel an einer Stelle, kann von einem Gewissen, ausgestattet mit den berüchtigten Nattern des Gewissens, schwerlich die Rede sein. Die Geburt des Gewissens stellt sogar ein vergleichsweise spätes Ereignis in der moralischen Entwicklung dar, und das sowohl in der, sozusagen, stammesgeschichtlichen moralischen Entwicklung der Menschheit als auch innerhalb der moralischen Entwicklung des Individuums während seiner Ontogenese. Schließlich stehen besagte Phänomene auch noch derart in einem Entwicklungszusammenhang, daß sie auseinander hervorgehen bzw. daß jeweils das eine aus jeweils einem anderen hervorgeht. Und dies immer mit der Tendenz zu Phänomenen, die dem Begriff und Wesen des Geistes besser entsprechen als ihre Vorgänger, auf daß schlußendlich eine Erscheinungsform des Geistes auftaucht, die seinem Begriff in vollendeter Weise entspricht.
So entwickelt sich der menschliche Geist in seinen Erscheinungsformen. Das macht seine phänomenale Entwicklung aus. Diese Entwicklung wird in der „Phänomenologie des Geistes“, die wie gesagt bereits Jahre vor der „Logik“ erschien, nachvollzogen.
Hegel zeichnet dort am Leben menschlicher Individuen eine gewisse Struktur aus, die der Entwicklung des endlichen, menschlichen Geistes eigentümlich sein soll. Sie finde sich weder in der Naturdialektik noch in der logischen Entwicklung des unendlichen Geistes. Es ist der innerliche Zusammenhang, ja die Verschränkung und Verquickung von Selbstsein und Anerkennung in der Lebenstätigkeit menschlicher Individuen. Sie vor allem soll das ausmachen, was in der phänomenalen Geschichte des menschlichen Geistes sich entwickelt. Danach versteht sich die Dialektik des menschlichen Geistes vornehmlich als die aufsteigende Bewegung von Selbstheit und Anerkennung der Individuen.
SELBSTSEIN UND ANERKENNUNG
Die Dialektik des menschlichen Geistes handelt vordergründig von Individuen. Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß menschliche Individuen gemeint seien. Andere Individuen als die menschlichen gibt es für den Autor der „Phänomenologie“ nicht. Ein Individuum zu sein, ist etwas Besonderes und darum auch an etwas Besonderes gebunden. Ein Individuum zu sein, hat das Selbstsein zur unveräußerlichen Bedingung. Das Selbstsein wiederum sieht Hegel als Selbstbewußtsein anheben. Ein richtiggehendes Individuum könne es ohne Selbstbewußtsein nicht geben. Dies meint nicht, Individuum, Individuelles, Individualität ließen sich auf eine Bewußtseinsform reduzieren; sehr wohl ist an ein leibhaftiges Individuum gedacht, auch wenn Hegel das mit Formulierungen wie „die Leibhaftigkeit des Selbstbewußtseins“ recht ungelenk ausdrückt. Gemeint ist vielmehr, daß erst eine bestimmte Einheit, die nur zusammen mit dem Selbstbewußtsein entsteht, aus einem Wesen ein echtes Individuum macht. Ich fühle meinen Leib, ich erkenne mich, ich bestimme über mein Tun, ich verwirkliche darin mich, ich hemme in der Arbeit meine Begierde usw. usf. – solche Bezugnahmen, Bezüge dieser Art machen die „Einheit mit sich selbst“ aus, die dem Selbstbewußtsein eigentümlich ist. Eben diese Einheit mit sich selbst verbürgt die Einzelheit oder Einsheit eines richtiggehenden Individuums. Nur ein Wesen, das über Selbstbewußtsein verfügt, das also nicht bloß Bewußtsein hat und lediglich das Empfinden, Wahrnehmen und den Verstand kennt, das vielmehr auf dem Entwicklungsniveau des Selbstbewußtseins lebt, weist auch jene Einheit auf, die aus diesem Wesen ein ausgesprochenes Individuum macht.
Nun kommt die Einheit mit sich selbst dem Individuum und seinem Selbstbewußtsein schon an sich zu, sie gehört zu seinem Wesen, gehört zu dem, was es sozusagen von Haus aus ist. Zunächst aber kommt sie ihm auch nur an sich zu. Es fragt sich, wie, unter welcher Bedingung das Individuum jene Einheit an und für sich wird, wirklich wird. Hegel entdeckt die Bedingung dafür in der Interaktion des Individuums mit anderen Individuen. Dort vollzieht sich die Anerkennungsbewegung. Sie stellt die gesuchte Bedingung dar. „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem … es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ Ein Individuum kann es selbst nur sein, kann ein Selbst überhaupt oder ein Selbst in besonderer Form nur wirklich sein, indem es dies für ein anderes Individuum ist. Und das heiße, nur als ein Anerkanntes. Niemand ist ein Selbst, außer als Anerkannter.
Einen spannungsvollen Zusammenhang macht das schon aus, noch bevor von richtiggehenden Widersprüchen die Rede sein kann. Sogar es selbst zu sein, vermag das Individuum nicht von selbst, sondern stets nur vermittels der anderen, kraft ihres Anerkennens. Ausgerechnet sein Selbstsein erweist sich als notwendig bedingt durch die anderen Individuen, durch deren Anerkennen. Die Selbstbeziehung geht eben in Wahrheit über den Sich-Bezug, über die einfache Beziehung auf sich, weit hinaus. Sie erweist sich näher besehen als der ausholende Bezug von etwas auf sich, als der über Anderes ausholende.
Die wie eine notwendige Bedingung zu verstehende Verschränkung von Selbstsein und Anerkennung innerhalb des Verhaltens der Individuen zueinander, darin erblickt Hegel die elementare Struktur der menschlich geistigen Welt. Das ist gleichsam der Stoff, aus dem alle wesentliche Geistigkeit gemacht sei – Familie, Freundschaft und Liebe ebenso wie Vaterland, Staat, Tugend, Ruhm und Ehre, um nur jene Phänomene zu benennen, die im § 436 der „Enzyklopädie“ aufgelistet werden.
Das Verhältnis der Individuen zueinander, in dem sich ihr Selbstsein und Anerkanntsein notwendig ineinander verschlingen, macht vornehmlich das aus, was in der Entwicklung des endlichen Geistes sich entwickelt, was historisch entsteht, sich verändert und nach und nach neue, bestimmungsreichere Gestalten annimmt. In welcher Gestalt immer, stets müssen Anerkanntsein und Anerkanntwerden erlangt, erreicht, erwirkt werden. Eine „Bewegung der Anerkennung“ muß durchlaufen werden, ein „Prozeß des Anerkennens“. Dieser Prozeß besteht aus einem Tun und Handeln leibhaftiger Individuen. Sie streben nach Anerkennung, zollen oder verweigern sie einander, verdienen sie sich, erstreiten sie etc. Und dieses Tun ist es hauptsächlich, was die aufsteigende Bewegung durchläuft.
Historisch urtümlich soll jenes Tun geradezu in einem Kampf um Anerkennung bestanden haben, sogar in einem auf Leben und Tod. Jedes der darin verwickelten Individuen bringt das Leben des anderen in Gefahr und schon dadurch zugleich das eigene Leben. Jedes sucht das eigene Leben zu verteidigen, indem es auf den Tod des anderen sinnt. Ein von Grund auf leibliches Unterfangen und Tun, obendrein ein gewaltsames. Die Kämpfenden suchen Anerkennung, und zwar zugunsten eines leibnahen „Selbstgefühls“. Indem sie die Herausforderung durch einen Widersacher annehmen und den Kampf aufnehmen, verschaffen sie sich Respekt und vermittels dessen Selbstachtung. Der Kampf wird auch als Widerspruch charakterisiert, was bedeutet, daß der Widerspruch nunmehr in etwas besteht, das sowohl ein Verhältnis als auch ein Verhalten der Individuen zueinander ausmacht. Der Widerspruch als wechselseitiges Zuwiderhandeln, als tätiges gegenseitiges Widerstreiten. Bei der Beschreibung dieses Geschehens denkt Hegel erklärtermaßen an Kämpfe, wie sie historisch vor der Gründung und Bildung ausgewachsener Staatswesen typisch gewesen sein sollen. Gewisse Andeutungen, die er dazu macht, erinnern an Vorstellungen, die gut hundert Jahre zuvor durch Thomas Hobbes, John Locke, Shaftesbury und andere Philosophen unter dem Arbeitstitel „Naturzustand des Menschen“ vorgetragen und debattiert worden waren.
Historisch soll der Kampf folgenden Ausgang genommen haben: Weil das Leben so wesentlich ist wie die Freiheit, sichern die Kämpfenden ihr Leben, indem sie zwischen sich ein „einseitiges und ungleiches Anerkennen“ herstellen. Der eine gibt sein Anerkanntwerden auf und zollt dem anderen einseitig Anerkennung, indem er sich ihm unterwirft. So entstehe das Verhältnis von Herr und Knecht. Dieses Verhältnis soll sich zu „Beginn der Staaten“, während der frühen Staatenbildung eingestellt haben. Es handelt sich dabei freilich nur um ein uneigentliches Anerkennen. Zum „eigentlichen Anerkennen“ fehlt die Gegenseitigkeit. Einmal hergestellt, durchläuft das ungleiche Verhältnis eine gewisse Verkehrung. Der Herr überläßt es dem Knecht, die Gegenstände zu bearbeiten und in einer der Begierde gemäßen Weise zu überformen, damit bleibt es aber auch dem Knecht vorbehalten, praktische Macht über Natürliches zu erlangen und einen Eigensinn zu entwickeln, der dem Herrn verschlossen bleiben muß.
Hiermit wird es zusammenhängen, wenn im nächsten Entwicklungsschritt doch noch eine eigentliche, weil gegenseitige Anerkennung hergestellt wird. Und zwar die gegenseitige Anerkennung als freies Selbstbewußtsein. Symptomatisch soll dafür die Idee und Lebensart des Stoizismus sein. Dieser Verweis Hegels irritiert auf den ersten Blick. Zum Stoizismus gehört das Gebot „Mach dich nicht vom Beifall der Menge und dergleichen abhängig, genüge dir selbst“; das aber scheint eher einem Verzicht auf Anerkennung das Wort zu reden, gar einer Befreiung aus Anerkennungszwängen. Tatsächlich gebietet es nur die Abkehr von der gehaltlosen Ehre und dem plump eitlen Ruhm – zwei Gestalten, die Hegel ohnehin verwirft. Unter der Form jener Abkehr vollzieht sich die Besinnung stoischer Individuen auf das eigene Denken, in dem sie bei sich und in diesem Sinne frei sind. Und indem sie die Besinnung als Gebot für jedermann bejahen, erkennen sie einander zu, zur Freiheit begabte Wesen zu sein.
Man sieht, wie die “Bewegung der Anerkennung“ ihrerseits in Bewegung ist, in Veränderung. Am weiteren Gang der Geistesgeschichte zeichnet sich das noch deutlicher ab. Es verändert sich, als wer oder was Individuen die Anerkennung erfahren, auf welche Weise sie das tun und nach welchen Kriterien sich Anerkennung verteilt. Solche Veränderungen sieht Hegel vor allem in den drei „Welten des Geistes“ geschehen, die sein Gedankengang nach Verhandlung des einfachen und vernünftigen Selbstbewußtseins durchquert. Die eine Welt des Geistes bildet der „Rechtszustand“, die andere das „Reich der Bildung“, die dritte die moralische Welt oder „moralische Weltanschauung“. Jede dieser Welten ist zentriert um eine besondere Gestalt des Selbst. Direkt miteinander verglichen werden die drei Gestalten innerhalb der „Phänomenologie“ zu Beginn des Abschnitts „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“. Dem Rechtszustand entspricht „das Selbst der Person“. In der Welt der Bildung agiert das „zweite Selbst“, ein Individuum, das „sein natürliches Selbst“ aufhebt. In der moralischen Weltanschauung schließlich kommt „das Selbst des Gewissens“ zur Welt. Bei jeder Gestalt vollzieht sich der Prozeß des Anerkennens auf besondere Weise.
Innerhalb des Rechtszustands wird das Individuum als Person anerkennt. Ein anerkanntes, ein wirkliches Selbst ist es dort in der Form der Person. Die Person ist die Trägerin von Rechten. Anerkanntermaßen gilt so das Individuum als Träger von Rechten. Vom umgangssprachlichen Wortgebrauch her denkt man bei Anerkennung an das Loben, Respektzollen, Ehren und dergleichen, spontan mag man dabei auch noch an ökonomische Formen wie das Vergüten, Prämieren, Honorieren denken; in der einen wie in der anderen Form wird das Anerkennen vordergründig als ein Werten genommen, als positive Wertung. Hegel versteht es in einem weiterfassenden Sinne: als gelten lassen, zur Geltung bringen, zur Geltung kommen lassen. Dazu gehört auch das Zuerkennen. Daß die Individuen im Rechtszustand als Personen Anerkennung finden, bedeutet vordergründig so ein Zuerkennen. Ihnen wird zuerkannt, zugesprochen Träger von Rechten zu sein. Und bei diesem Zuerkennen handelt es sich gerade nicht um ein Bewerten. Das hängt mit dem zusammen, wofür im Rechtszustand die Anerkennung gezollt wird. Als Person wird das Individuum anerkannt kraft seiner Existenz. Jemand gilt als Person, schon weil er da ist, existiert. Das schlichte Dasein des Individuums verbürgt sein Personsein. Gleichviel wie es um sein Sosein bestellt steht, gleichviel also, wie es sittlich, wirtschaftlich, sozial und in anderer Hinsicht dasteht. Die einzige Bestimmung, die das blanke Dasein des Individuums aufweist, ist die reine Einzelheit und abstrakt allgemeine Wirklichkeit eines Individuums schlechthin und überhaupt. Daran ist die Anerkennung des Individuums als Person geknüpft: „an das reine Eins seiner abstrakten Wirklichkeit oder an es als Selbstbewußtsein überhaupt“. Gegen das konkrete Sosein jedes Individuums verhält sich diese Anerkennung nachgerade gleichgültig. Und es ist diese Gleichgültigkeit, was die Gleichberechtigung ungleicher Individuen ermöglicht. – Zugleich sieht Hegel darin eine „Verkehrung“ geschehen. Indem das Individuum als Person zur Geltung kommt, gewinnt es etwas; auf der Schattenseite dessen aber verliert es etwas. Der Gewinn des Personseins ist zugleich „der Verlust seines Wesens“, der Verlust jenes bodenständigen und konkreten Wesens, das im Personsein eben keine Anerkennung erfährt. Darum wird die Person auch das „substanzleere Selbst“, das „formale Selbst“ und obendrein das „einsame Selbst“ genannt.
Durch das Aufheben des bloßen Rechtszustandes, durch sein Beenden wie Bewahren, eröffne sich eine höhere Welt des Geistes – das Reich der Bildung. Darin taucht das „zweite Selbst“ auf. Anders als in dem aufgehobenen Zustand finden dort die Individuen gerade in Abhängigkeit von ihrem Sosein Anerkennung, und zwar in Abhängigkeit von ihrem gemachten Sosein, das Hegel vornehmlich „Bildung“ nennt, dabei den Begriff der Bildung denkbar weit fassend, weit hinaus über jenen Wissenserwerb, für den der Begriff heute zumeist steht. Der Individuen Bildung ist ihr ganzes gemachtes Sosein, das geschaffene, geschöpfte, erzeugte, produzierte, eingeübte, antrainierte usw. – von der Wissens- und Geschmacksbildung über die politische Willensbildung bis hin zur ökonomischen Reichtumsbildung. Wodurch „das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung“ . Soviel Bildung es hat, „soviel Wirklichkeit und Macht.“ Anders als im Rechtszustand, verteilt sich in der Welt der Bildung die Anerkennung in Maßen und folglich auch im ungleichen Maße. Davon kann bei der Anerkennung als Person nicht die Rede sein. Das Dasein, an welches das Gelten als Träger von Rechten überhaupt geknüpft ist, kennt selbst keine Grade, kein Mehr oder Weniger und kann darum auch nicht mit Anerkennung im ungleichen Maße verbunden sein. Geknüpft an die Bildung der Individuen hingegen, kennt die Anerkennung genauso graduelle Unterschiede wie schon die Bildung. – In dem markierten umfassenden Sinne sich bildend, heben Individuen ihr „natürliches Selbst“ auf, sagt Hegel. Mehr noch, sie würden sich so unweigerlich ihres natürlichen Seins entfremden. Die „Entfremdung des natürlichen Seins“ sei die typische Verkehrung in der eröffneten Welt des Geistes.
Auf eine abermals andere Weise vollzieht sich die Bewegung der Anerkennung, wo das Selbst als ein Gewissen und das Individuum als ein wesentlich gewissenhaftes historisch auf den Plan tritt. In der moralischen Welt und Weltanschauung. Hegel zählt das Gewissen als das dritte Selbst, das in einer Welt des menschlichen Geistes auftaucht. Es sei das „absolute Selbst“. Eine gewagte Begriffsverknüpfung. Es fragt sich, wie ein absolutes Selbst möglich sein soll; „absolut“ bedeutet „unbedingt“, und inwiefern kann ein derart von Anerkennung abhängiges, bedingtes Gebilde wie ein Selbst zugleich ein unbedingtes ausmachen? Die Moralität, an der in einer moralischen Welt gelegen ist, soll stets darin bestehen, der Pflicht Genüge zu tun. Als Gewissen hat das Individuum eine Überzeugung von der Pflicht, eine eigene Überzeugung, buchstäblich eine ureigene. Seine Überzeugung von der Pflicht sei die Pflicht selbst. Das heißt, im Gewissen würde der Unterschied zwischen der Überzeugung von der Pflicht einerseits und der Pflicht an sich andererseits aufgehoben, ja als ein bloß scheinbarer Unterschied überführt. Darin erblickt Hegel sogar die Auflösung einer „Antinomie der moralischen Weltanschauung“ Dem gewissenhaften Individuum ist seine Überzeugung von der Pflicht die Pflicht an sich selbst. Eine solche Auffassung vom Gewissen folgt offenbar nicht der auf Kant zurückgehenden Modellvorstellung vom Gewissen als innerer Gerichtshof. Im inneren Gerichtshof urteilt ein Richter nach einem Gesetz, das er nicht selbst gegeben hat, nach einem ihm vorgegebenen, ihm vorausgesetzten Gesetz. In Hegels Fassung dagegen gibt das Gewissen selbst das verpflichtende Gesetz, in Gestalt seiner Überzeugung von ihm. Es nimmt den Rang der „moralischen Genialität“ ein. Eben das macht es zum absoluten Selbst. Die Anerkennung, die es erheischt, kann darum nicht in irgendeiner Art von Zustimmung bestehen; moralische Genialität bedarf der Zustimmung nicht. Wenn das Gewissen in der Tat Anerkennung erfährt und braucht, so liege die darin, daß man es sich aussprechen läßt. „Durch dieses Aussprechen wird das Selbst zum Geltenden.“ Desgleichen das gewissenhafte Handeln. Die „anderen lassen das Handeln um der Rede willen, worin das Selbst als das Wesen ausgedrückt und anerkannt ist, gelten.“ Der Ausgang, den der ganze Gedankengang nimmt, mutet sonderbar an. Als habe Hegel unter dem Titel „Gewissen“ zu begreifen versucht, wie das Individuum ein wirkliches Selbst ausmachen kann und doch zugleich der zwanghaften Abhängigkeit von Anerkennung wie einer Verfallenheit zu entrinnen vermag.