1968 findet sich eine Gruppe französischer Intellektueller zusammen, die man allerdings schwerlich als 68er in dem üblicherweise gemeinten Sinne bezeichnen kann, eine Gruppe von Rechtsintellektuellen. Fortan wird sie unter dem Namen „Nouvelle Droite“ öffentliche Aufmerksamkeit zu finden versuchen. Von Anfang an das Haupt der Gruppe: Alain de Benoist, Jahrgang 1943, Autor von rund 50 Büchern, darunter von einem, das die honorige Académie francaise 1978 mit ihrem Grand Prix de l’Essai auszeichnet. Er und die Seinen legen großen Wert darauf, als neue Rechte wahrgenommen und mit den alten Rechten nicht verwechselt zu werden. Von Nazismus, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus distanzieren sie sich. Dem Selbstverständnis nach denken sie dezidiert rechts und sind doch weder dem Nazismus noch dem Neonazismus verhaftet. Das hat Benoist nun nicht davon abhalten können, zur deutschen Ausgabe eines seiner Bücher das Vorwort von Armin Mohler schreiben zu lassen, einem deutschen Rechtsintellektuellen, der gelegentlich schon einmal bekannt hat, ein Faschist zu sein. Um so interessanter die Frage, worin das Neue an diesen neuen Rechten bestehen soll, ob und inwiefern sie rechtes Denken, Rechtsideologie allen Ernstes auf neue Weise darbieten.
Differenzpolitik rechts gewendet
Benoist erhebt den Anspruch, eine ganze Weltanschauung auszuarbeiten und anzubieten, von der Kosmologie über die Anthropologie bis hin zur gesellschaftspolitischen Zukunftsvision. Zentrale politische Thesen begründet er darum nicht lediglich politisch. Die Begründung holt weit aus, geht bis auf kosmologische Prämissen zurück. Unter den Prämissen findet sich eine, die Benoist bereits in einem Text der 70er Jahre, in „Vu de droite“ (Aus rechter Sicht, Tübingen 1983/84) auszuformulieren begann. Die Prämisse lautet: Wir leben gar nicht in einem Universum, sondern in einem Pluriversum; unsere Welt stellt ein Pluriversum dar. Das heißt, das Weltall ist, und zwar von Grund auf, vielgestaltig. Hinter der Vielheit ist nichts mehr, schon gar nicht eine Einheit. Nicht irgendeine Einheit bildet den uranfänglichen und grundlegenden Zusammenhang, sondern die Vielheit. Das Viele, die vielen Ladungswolken, Elektronen, Atome, Moleküle usw. verbinden sich natürlich, und durch ihre Verbindung konstituieren sie eine Art Einheit der Welt, aber die bildet doch nur einen sekundären statt primären Zusammenhang.
Vor diesem kosmologischen Hintergrund greift Benoist den emphatischen Differenzbegriff auf, dessen Ausbildung zu den Großereignissen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört. Die Welt ist voll von Differenz, und sie ist von Grund auf different.
Schließlich erfährt die Differenz noch eine Wertschätzung bzw. ihr wird ein gewisser intrinsischer Wert abgelesen, ein Wert, der ihr vielleicht wegen ihrer Fundamentalität zukomme. Wie auch immer, jedenfalls gilt Differenz als gut. Erklärtermaßen hält sich Benoist an den altehrwürdigen Synkretismus des Wahren, Guten und Schönen. Ist es wahr, daß die Welt von Grund auf differiert, so muß Differenz auch als gut und schön erkannt werden.
An dieser Stelle angelangt, mündet der Gedankengang folgerichtig in eine Konsequenz ein, die so etwas wie eine politische Grundannahme hergeben soll. Weil die Menschheit in einem Pluriversum lebt, weil darum die Menschenwelt au fond different und Differenz per se gut ist, deshalb muß es heißen: „Der wahre Reichtum der Welt liegt vor allem in der Vielfalt ihrer Kulturen und ihrer Völker“. So stets im Manifest „Die Nouvelle Droite des Jahres 2000″ geschrieben (Aufstand der Kulturen, Berlin 1999, S. 36). Jeder Versuch die Vielfalt der Völker und ihrer Kulturen einzuebnen und zu nivellieren muß danach wie ein Frevel am Pluriversum verworfen, zurückgewiesen und bekämpft werden. Die Nouvelle Droite wird richtig pathetisch, wenn sie Gelegenheit bekommt, zu versichern, daß sie gegen nichts einen so tiefen Widerwillen verspürt wie gegen kulturelle Indifferenz. Zum Beispiel gegen jene „weltweite Verbreitung des Gleichen“, die auch als kultureller Amerikanismus kritisiert wird, und für die man zupackende Formulierungen findet. Am Ende wird sogar ein einschlägiges Recht behauptet, das „Recht auf Verschiedenheit“ (eb., S. 41).
Aus diesen Zeilen spricht ein intellektueller Gestus und ein sozialästhetisches Grundgefühl, das so gar nicht an Nazismus und Faschismus erinnert. Nazismus und Faschismus sind vom Einheitswahn gezeichnet, auch wenn der Einheitswahn keineswegs für sie spezifisch ist. Dazu paßt der Gleichschritt als bevorzugte Gangart, die Gleichschaltung der Köpfe und Institutionen als bevorzugte Form der politischen Transformation, die Vereinheitlichungswut, die am sinnfälligst der makabre Spruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ bezeugt. Solcher Einheitswahn, hat Benoist einmal gesagt, verursache ihm regelmäßig Ekelgefühle.
Das behauptete Recht auf Verschiedenheit erinnert zudem ganz direkt an die Differenzpolitik, die innerhalb der politischen Raumordnung auf der Linken heimisch ist. Dieses Recht ist ehedem genau dort aufgestellt worden. Urtümlich meint die sprachgeschichtlich junge Wortfügung Differenzpolitik einen Minderheitenschutz. Sie meint das vernehmlich an Mehrheiten gerichtete Gebot: „Ihr sollt ethnische, religiöse, kulturelle Minderheiten euch nicht einverleiben wollen, euch nicht gleichzumachen versuchen. Achtet sie in ihrer Andersheit. Respektiert die Differenz!“.
Nach alldem mag man sich fragen, was an den referierten Thesen und Gedankengängen ein auf neue Weise rechtes Denken verbürgen könnte. Nun, rein gar nichts. Nichts davon ist rechts, nichts davon ist neu. Dem Weltall einen wie immer gearteten Vorrang der Vielheit vor der Einheit nachweisen zu wollen, stellt ein traditionsreiches wenngleich nicht sehr erfolgreiches Unternehmen der Philosophiegeschichte dar. Den emphatischen Differenzbegriff haben Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Jean Francois Lyotard ausgearbeitet – im Anschluß an gewisse Überlegungen von Martin Heidegger – Luce Irigaray vor allem hat ihn zum Begriff der sexuellen Differenz entfaltet. Die helle Freude an der Vielfalt der Völker und ihrer Kulturen kannte bereits Herder, und daß das Recht auf Verschiedenheit von der Nouvelle Droite keineswegs erfunden worden ist, wurde gerade vermerkt.
Den neuen Rechten eigentümlich ist einzig die Wendung, die das Denken der kulturellen Differenz in ihren Auslegungen nimmt. Für sie spezifisch ist allein der Schluß, den sie aus dem Wert der kulturellen Vielfalt ziehen: Weil der wahre Reichtum der Menschheit in der Vielfalt der Völker und ihrer Kulturen besteht, weil darum die Nivellierung der kulturellen Vielfalt verworfen und verhindert gehört, deshalb müsse man gegen Immigration schlechthin und überhaupt sein, gegen jegliche Integration von Ausländern vorgehen, eben deshalb habe man auch alle Verschmelzung mit fremden Kulturen, alle Assimilation und Schmelztigel-Ideen als eine kulturgeschichtliche Zumutung sondergleichen von sich weisen. Kooperation mit anderen Völkern ja, aber Immigration, Assimilation und Ausländerintegration nein (eb., S. 43f, 113).
Kulturhistorischer Fehlschluß
Die kulturgeschichtliche Erfahrung spricht eher gegen den nachvollzogenen Schluß. Denn die kulturelle Vielfalt der Völker, die zu verteidigen die neuen Rechten meinen oder vorgeben, ist doch zum gut Teil auch die Frucht jener Assimilation, Ausländerintegration und Vermischung, gegen die sie angeblich verteidigt werden müsse. Man denke nur an die Geschichte der französischen Kultur, einer unverkennbar reichen und eigentümlichen Kultur. Eine lange Reihe von Ausländern gehört zu den historischen Akteuren dieser Kultur und ihres Gedeihens. Wer hat nicht alles an dem mitgewirkt, was man französische Malerei nennt? Der Engländer Sisley, der Holländer van Gogh, der Italiener Modigliani, der Spanier Picasso, der Russe Chagall. Die französische Oper hat der Italiener Lully begründet. Zu den prominenten französischen Aufklärern zählt der Deutsche Holbach. Der Pole Kostrowiecki vermochte – unter dem Pseudonym Guillaume Apollinaire – wie kaum ein anderer die französische Dichtung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu prägen. Unter dem Pseudonym Jean Moréas führte der Grieche Papadiamantopoulos die französischen Symbolisten an. Einer der Einflußreichsten unter den Parnassiens war der Kubaner Hérédia. Der Durchdringung von Eigenem und Fremden verdankt sich zum gut Teil der eigentümliche Reiz und Reichtum französischer Kultur. Solange Fremdenfeindlichkeit dort ein untergeordnetes Phänomen war, blühte sie auf. Oder besser gesagt: Solange sie kraftvoll wuchs, konnte sie Ausländer mit Gewinn verkraften.
Man muß sich eines ethnologischen Faktums von erstaunlicher Geläufigkeit vergewissern: Die meisten der heute lebenden humanen Ethnien sind Mischlinge. Nicht nur die wenigen Gruppen, die man ausdrücklich als Mischlinge bezeichnet, fast alle menschlichen Ethnien lassen sich ethnologisch genau genommen auf massenhafte „Mischehen“ in der historischen Vergangenheit zurückführen. Um wieder das französische Volk als Beispiel zu nehmen. Monsieur Benoist und seine Landsleute stammen doch nicht geradewegs von Asterix und Obelisk ab. Das Gallische hat sich mit dem Romanischen (Römischen) vermischt. Außerdem mit dem Germanischen, in Gestalt der Normannen, die der Normandie den Namen stifteten. Ferner mit Keltischem aus dem Norden, in Gestalt der Bretonen, die von den britischen Inseln kamen und deren Sprache noch heute nicht wenige Franzosen in der Bretagne sprechen. Ein ausgesprochener Mischling die große Nation, und trotzdem – oder gerade deshalb – von eigentümlicher Mentalität und Kulturalität insgesamt.
Die tatsächlichen Gefahren die man in diversen europäischen Ländern angesichts des Fremden mit seismographischer Sensibilität und Genauigkeit registriert, lauern nicht im Fremden selbst, sondern in der Schwäche des Eigenen. Ob man von einem Untergang des Abendlandes sprechen möchte oder nicht, es ist die interne Schwäche der eigenen Kultur die das Fremde bedrohlich macht oder wenigstens so erscheinen läßt. Man hat nicht mehr die Kraft, wirkungsvoll zu integrieren, und gibt dafür der Ausländerintegration die Schuld. Gegen interne Schwäche hilft aber einzig und allein eigene Kreativität, niemals die Exklusion des Fremden. Und was die zurecht kritisierte „weltweite Verbreitung des Gleichen“ betrifft – überall die gleiche Coca Cola, die gleichen Hiltonhotels, die gleiche Popmusik – diese grelle Tristesse stellt doch nicht einen Ausfluß der Immigration dar. Um einen Effekt kapitalistischer Globalisierung handelt es sich dabei, wie Benoist sehr gut weiß.
Kurzum, der Schluß von der Wertschätzung der kulturellen Vielfalt auf die Verneinung jeglicher Immigration, Ausländerintegration, Assimilation und Vermischung dürfte sich bei näherer Prüfung als ein Fehlschluß erweisen. Er unterstellt als stillschweigend mitgeführte Prämisse, daß die letzteren Prozesse unbedingt und mit eherner Notwendigkeit der kulturellen Vielfalt abträglich seien. Eben diese Unterstellung wird einer gebührend ausführlichen kulturgeschichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Daß besagter Fehlschluß allerdings einen typisch neurechten darstelle, sei hier vorsorglich nicht bestritten.
Benoist und Kollegen nehmen sich recht modern aus, wenn sie im Namen der Differenz argumentieren. Die Rede von der Differenz hat Furore gemacht. Wenn diese Rede nun in eine von der nationalen Differenz überführt wird, geschieht dabei nicht eine bloße Besonderung. Da widerfährt dem Differenzbegriff mehr als eine Spezifizierung. Um an dieser Stelle den Standort der neurechten Vorliebe für Differenz begrifflich genauer zu markieren. Bekanntlich hat Derrida eine angenehm eigenwillige Laut- und Begriffsbildung hinterlassen. Differenz als difference (mit e) – Differenz als differance (mit a). Die erstere Bildung meint soviel wie Unterschied und Verschiedenheit. Die letztere macht nur Sinn, wenn sie etwas, sagen wir, Tieferes als Unterschied und Verschiedenheit meint. Und tiefer geht sie gerade dadurch, daß sie jenseits von Grenzen, Begrenzungen und Grenzziehungen liegt. Die erstere hingegen bleibt nach allen Seiten an Grenzen und Grenzziehungen gebunden und eben deshalb der Oberfläche verhaftet. Dort, an der Oberfläche der Differenz, wo sich die ordinären Unterschiede tummeln, wo die Grenze ein Gemeinplatz ist, haust auch die von den Neurechten gemeinte nationale Differenz. Ihr geläuterter Sinn für Unterschiede ist im Kern eine Vorliebe für Grenzziehungen, für Ein- und Abgrenzungen. Die Intention der Differenzphilosophie wird von ihnen vollständig verfehlt. Schon deshalb wäre es übrigens töricht, die Differenzphilosophie durch ähnlich klingende neurechte Redensarten kompromittiert zu sehen. So wenig man Nietzsche für Hitler und Marx für Stalin verantwortlichen machen kann, so wenig auch die Differenzphilosophie von Derrida und Deleuze für die neuerlichen Beschwörungen der nationalen Differenz.
„Basisdemokratie“ & „Neue Aristokratie“
Wie eine für die Nouvelle Droite wünschenswerte Gesellschaft der Zukunft nicht aussehen soll, ist nach dem Nein zur Immigration wenigstens nach einer Seite hin klar. Was aber soll die wünschenswerte Gesellschaft positiv ausmachen? Welche politische Struktur, welche Herrschaftsform soll sie charakterisieren? Auf diese Frage gibt Benoist gleich zwei Antworten. Er favorisiert zwei Prinzipien, die ideengeschichtlich eher unverträglich scheinen.
In der politischen Publizistik, vor allem innerhalb programmatischer Texte, die sich an ein breiteres Publikum wenden, führt er der Demokratie das Wort. Das bereits zitierte Manifest der Nouvelle Droite gebietet die Verstärkung der Demokratie. Eine dezentralisierte Basisdemokratie soll sich etablieren. Was erklärtermaßen zu Lasten des heute vorherrschenden liberalen Parlamentarismus ginge. Das Verfahren des Volksabstimmung soll durch das Volksbegehren neubelebt werden. Gegen die Allmacht des Geldes will man die Trennung von Reichtum und politischer Macht weitestgehend durchsetzen. Nach solchen Verheißungen erscheint Benoist als passionierter Basisdemokrat.
Jenseits der politischen Publizistik, in eher kulturphilosophischen Texten favorisiert er noch ein anderes Prinzip, ein ganz anderes: das aristokratische Prinzip. Wir brauchen, sagt er, eine „neue Aristokratie“ (Kulturrevolution von rechts, Krefeld 1985, S. 82). Gemeint ist dabei wohlgemerkt nicht einfach, wir bräuchten eine neue Elite. Die heute grassierenden und vorzugsweise soziologisch geprägten Vorstellungen von einer Elite kritisiert er zurecht als inhaltsarm. Nein, eine richtiggehende Aristokratie, eine neuartige, ist gemeint. Allenfalls könne noch von einer Charakterelite gesprochen werden. Woran sich auch ersehen läßt, an irgendwelche Großgrundbesitzer, an einen Geburts- Schwert- oder Geldadel ist natürlich nicht gedacht. Sondern an eine durch Charakter geadelte und ebendarum zur Herrschaft berufene Schar der Edelmütigen.
Basisdemokratie und neue Aristokratie, beide Prinzipien werden präferiert. Zwar ist von ihnen an unterschiedlichen Textstellen die Rede, aber doch ohne Einschränkung, ohne daß sie verschiedenen Zeiten und Räumen zugeteilt würden. So daß man annehmen muß, die projektierte Gesellschaft der Zukunft soll beide Prinzipien zugleich praktizieren, soll Demokratisches und Aristokratisches miteinander verbinden. Und der Gedanke an eine solche Verbindung hat etwas Neuartiges an sich.
Theoretische Versuche, inmitten der Moderne das alte aristokratische Prinzip auf neue Weise zu reaktivieren und in die gesellschaftliche Zukunft zu projizieren, sind schon des öfteren unternommen worden. Es hat bereits eine gewisse Tradition. Ihren Ausgang nimmt sie bei Nietzsches Überlegungen zu einem neuen Adel. Um sowohl der Gewaltherrschaft einzelner Tyrannen als auch dem Ausarten der jungen bürgerlichen Demokratien zur Pöbelherrschaft zuvorzukommen, bedürfe es eines neuen Adels. Anders als der alte Adel würde der neue sich nicht mehr über die blaublütige Herkunft definieren, sondern über die edle Gabe, für die Zukunft der Erde eine herausragende Verantwortung zu übernehmen. Nicht woher einer kommt, kann ihn adeln, sondern wohin er geht. Nach Nietzsche tauchten in der deutschen Öffentlichkeit wieder und wieder Variation zum Thema „Neuer Adel“ auf. Zum größeren Teil waren sie von einem albernen, bisweilen schon ungenießbaren Pathos erfüllt. Exemplarisch kann dafür das Büchlein „Um eine neue Aristokratie“ von Franz Schuerholz (Berlin 1931) stehen. Das Thema selbst aber gehörte einfach zu dem Geist einer aristokratischen Kriegergesellschaft, den Norbert Elias namentlich im wilhelminischen Reich umsichgreifen sieht und in seinen Studien über die Deutschen analysiert. Was dabei allerdings kaum jemals angedacht und niemals systematisch behauptet wurde, ist die Verbindung von Aristokratie und Demokratie. Es sei denn, daß man sich die Verbindung ganz äußerlich dachte, als eine Art Gewaltenteilung, die den Aristokraten und den Volksdeputierten unterschiedliche Entscheidungsbefugnisse zuweist, wie das vor Jahrhunderten in der Republik Venedig recht erfolgreich praktiziert wurde. Eine darüber hinausgehende Verquickung thematisiert zu haben, und das auch noch unter der verschärfenden Bedingung einer Auslegung der Demokratie zur Basisdemokratie, darin könnte unter Umständen ein eigenständiger Gedanke von Benoist liegen. Womit sich die Frage nach dem Neuen an der Nouvelle Droite in diesem Punkte erledigt hätte.
Um so nachdrücklicher fragt sich allerdings, wie die thematisierte Allianz funktionieren können soll. Ideengeschichtlich begegnen sich Aristokratie und Demokratie fast durchweg als Konkurrenten um die souveräne Macht. In der Demokratie gilt das Volk als der Souverän, in der Aristokratie der alte oder neue Adel. Und wie sollte das Volk souverän beherrschen, was schon von einer kleine Gruppe der Edlen beherrscht wird? Benoist selbst zeichnet an dem typisch aristokratischen Ethos gewisse Züge nach, die sich mit einer ernstgemeinten demokratischen Willensbildung schwerlich vertragen. „Jede Aristokratie“, heißt es zum Beispiel, „schöpft ihr Gesetz aus sich selbst“ (eb., S. 89). Jegliche Aristokratie tue das. Also auch die neue, die zu projektieren er gerade begonnen hat. Aber wenn die sich ihr Gesetz selbst gibt, welcher Platz sollte dann noch für die dezentralisierte Basisdemokratie bleiben, die das Manifest der Nouvelle Droite verheißt?
Vielleicht liegen die Dinge ganz einfach. Etwa folgendermaßen: Das Volk wird sich im neurechten Projekt in unmittelbarer Demokratie üben, in Volksabstimmungen, Volksbegehren und anderen Formen der plebiszitären Willensbildung. Zusammen mit dem Parlamentarismus wird die politische Klasse verschwinden, die der Nouvelle Droite in besonderer Weise für Liberalismus steht, und den Liberalismus hat sie als ihren Hauptfeind ausgemacht. An die Stelle der politischen Kasse tritt die Charakterelite. Die wiederum übt nicht eine repressive, sondern eine charismatische Herrschaft aus; mit charismatischer Überzeugungs- und Verführungsmacht souffliert sie dem Volk die plebiszitär zu treffenden Entscheidungen von gesamtgesellschaftlichem Gewicht. Weil und insofern nun die Bevölkerung den charismatisch feilgebotenen Vorgaben ihrer Aristokraten ganz freiwillig folgt, würden neue Aristokratie und Basisdemokratie quasi zusammenfallen, gerieten sie so unzertrennlich wie das Orakel und die Pythia. Das scheint um so plausibler, als die historische Erfahrung zeigt, wie sehr gerade plebiszitäre Formen der Willensbildung mit höchst unterschiedlichen Herrschaftsformen kompatibel sind, sogar mit diktatorischen. Die Rolle des Plebiszitären in der Heim-ins-Reich-Bewegung fällt einem ein, oder wie Calvin in der Genfer Republik die Bevölkerung über Hexenverbrennungen erst noch abstimmen ließ und doch sicher gehen konnte, daß sie stattfinden werden. Allein, die versuchte Deutung setzt eine Hintergrundannahme voraus, die eine Auseinandersetzung mit der Rechtsideologie, die wissenschaftliche Auseinandersetzung jedenfalls, überflüssig machte. Es müßte vorausgesetzt werden, die Nouvelle Droite meine ihre unüberlesbaren Beschwörungen der Volkssouveränität nicht ernst, sie lege falsches Zeugnis ab, erginge sich in Demagogie. Eine gewisse Unwahrhaftigkeit müßte ihr unterstellt werden. Und sosehr die Enthüllung von Unwahrhaftigkeit in der politischen Auseinandersetzung ihren Platz hat, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung entzöge sie den Gegenstand. Bei wissenschaftlich strittigen Aussagen muß Wahrhaftigkeit unterstellt werden. Nimmt man aber das Manifest der Nouvelle Droite darin ernst, es mit dem Volk als Souverän zu halten, muß die vorgetragene Deutung fallen. Denn in dieser Deutung trifft die Bevölkerung ihre Entscheidungen unter der charismatischen Herrschaft neuartiger Aristokraten zwar immer noch selbst, aber sie fällt sie doch nicht souverän.
Wie also soll das zusammengehen, neue Aristokratie und dezentralisierte Basisdemokratie? Benoist sagt es einem nicht, beharrlich schweigt er sich darüber aus, was immer sein Schweigen bedeuten mag, ein beredsames Schweigen oder ein verlegenes. Man muß sich seinen Teil denken, um dabei auf folgenden Gedanken zu kommen. Wenn sich das demokratische und das aristokratische Prinzip überhaupt halbwegs konsistent zusammendenken lassen, dann am ehesten noch unter der gedanklichen Voraussetzung, daß man den Begriff des Volkes von dem der Bevölkerung unterscheidet. Das Volk, das in der Demokratie als Souverän gilt, müßte irgendwie von der Masse, von den vielen leibhaftigen Individuen gedanklich abgehoben werden können, damit sich der fraglichen Verquickung logischer Raum eröffnet. Und eine solche hypothetische Erwägung trifft sich wieder mit den bei Benoist schwarz auf weis nachlesbaren Aussagen.
Die Hypostase von „Volk“
Was er unter einem Volk versteht, faßt sich in zwei Thesen zusammen. Die erste These besagt: Für eine demokratische Gesellschaft sei der Begriff des Volkes der wichtigste Begriff, wichtiger als der der Menschheit, wichtiger auch als der des Einzelnen, des Individuums (Aufstand der Kulturen, Berlin 1999, S. 28). – Die These hat, wenn schon nicht auf den ersten, so doch auf den zweiten Blick etwas Beunruhigendes an sich. Das Volk sei wichtiger als die Menschheit? Am Begriff der Menschheit hängt aber unmittelbar der Geist der Menschenrechte. Was bedeutet es für die Gültigkeit der Menschenrechte, wenn einem die Menschheit für weniger wichtig als ein Volk gilt?
Die zweite These besagt: Das Volk ist mehr als eine Addition von Individuen; Völker seien „Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit“ (eb., S. 41). – Daß ein Volk mehr als die bloße Summe von Individuen darstellt, wird in der Philosophie nirgendwo bestritten. Natürlich bildet jedes Volk ein Ganzes, und vom Ganzen weiß man doch, daß es mehr als die Summe seiner Teile ausmacht. Das ist Elementarphilosophie aus dem Brauereikalender. Vor allem rechtfertigt es nicht die Pointe der These, auf die es Benoist ankommt. Ihre Pointe besteht in der Behauptung, jedes Volk sei eine Wesenheit mit eigener Persönlichkeit. Das folgt keineswegs schon aus der unstrittigen Ganzheit. Ein Volk kann unmöglich eine Wesenheit mit eigener Persönlichkeit sein, nur weil es ein Ganzes bildet, ansonsten müßte nahezu jedes Ganzes, sogar das mechanische, zur Persönlichkeit auswachsen. Die entscheidende Behauptung vom Volk als eigenständiger Persönlichkeit kommt recht unvermittelt daher. Ihre Konsequenzen fallen dafür um so weitreichender aus.
Angenommen, es verhält sich so wie behauptet, gesetzt, ein Volk agiert und figuriert tatsächlich wie eine eigenständige Persönlichkeit. Dann muß es als solches auch einen eigenen Willen haben. Persönlichkeiten ohne eigenen Willen gibt es nicht. Und dieser eigene Wille, sozusagen der eigentliche Volkswille, der muß dann von der Addition der individuellen Willensäußerungen genauso unterschieden sein, wie das Volk von der Summe der Individuen. Er muß unabzählbar, buchstäbliche unberechenbar sein. Läßt sich ein so verstandener Volkswille über die Abstimmungsergebnisse von Wahlen und Volksentscheiden ermitteln, artikulieren und zur Geltung bringen? Das ist offenkundig unmöglich. Denn die Abstimmungsergebnisse aus Wahlen und Volksentscheiden operieren ja gerade mit der Addition von Einzelvoten zu Mehrheitsvoten bzw. Konsensvoten, mit einer Summation, die dem Volk als einer eigentümlicher Persönlichkeit wesenfremd bleibt. Das heißt, über die Definition des Volkes als eigenständiger Persönlichkeit wird – in der Konsequenz – der Volkswille von den ausgezählten Abstimmungsergebnissen der Volksentscheide und Volkswahlen abgekoppelt. Was sich bei diesen Wahlen und Entscheiden als abzählbares Ergebnis hochrechnen und ausrechnen läßt, das kann – so müßte man logisch zwingend folgern – noch nicht der eigentliche Volkswille sein. Der findet in den geläufigen Urnengängen und Wahlgängen keine hinlängliche, ja nicht einmal halbwegs deutliche Artikulation. Danach stellt sich den Angehörigen des betreffenden Volkes eine bange Frage. Wenn wir mit unserer Stimmabgabe bei Wahlen und Plebisziten gar nicht unseren eigentlichen Volkswillen zu artikulieren vermögen, wenn wir ihn mithin nicht selbst artikulieren können, wer dann kann das tun? Wer mag unserem verborgenen Volkswillen doch noch Ausdruck und Geltung verschaffen? Glücklich das Volk, das eine neue Aristokratie zur Seite hat oder über sich weiß, die kraft edler Tugenden einzusehen und zu dolmetschen vermag, was es eigentlich will, wonach es, vielleicht ohne es zu wissen, in Wahrheit sinnt und trachtet.
In dieser sich folgerichtig aufdrängenden Konsequenz einer nachlesbaren These findet auch das logische Rätsel seine Lösung; das Benoist dem unvoreingenommenen Leser mit seinem Schwärmen für die neue Aristokratie und dem gleichzeitigen Beschwören der Volkssouveränität aufgegeben hatte. Als die Wesenheit mit eigener Persönlichkeit, zu der das Volk vom Manifest der Nouvelle Droite erklärt wird, könnte es ohnehin niemals in der Form abzählbarer und berechenbarer Abstimmungsergebnisse souverän entscheiden und als Souverän sich geltend machen, weil in diese Form ein grundsätzlich unabzählbarer und unberechenbarer Volkswille gar nicht hineinpaßt. Anders wenn eine aristokratische oder sonstwie qualifizierte Gruppe von überlegener Subjektivität der Bevölkerung nahebrächte und nahelegte, was das Volk, das gegen Verwechslungen mit der summarischen Bevölkerung verwahrt gehört, eigentlich will. Statt mit der Volkssouveränität zu konkurrieren, würde die Gruppe nachgerade als Garant derselben fungieren. Sinnvollerweise könnten und müßten dann plebiszitäre Formen der Willensbildung wie die sogenannten Volksentscheide für nachgeordnete und untergeordnete Entscheidungsgegenstände reserviert werden, etwa für dezentrale Angelegenheiten. Deshalb wohl der Zusatz, den Benoiste macht, wo er die verheißene Basisdemokratie ausdrücklich eine dezentralisierte nennt. Der Zusatz wird einschränkend gemeint sein.
Das weniger wichtige Individuum
In der Hypostase des Volkes zu einem Wesen von eigener Persönlichkeit lauern bedenkliche Implikationen. Gleichviel ob Benoist diese Implikationen im Sinn hat oder nicht, ob er sie schon einmal expliziert und an irgendeiner Textstelle ausformuliert hat oder davon nirgendwo etwas zu lesen steht, sie gehören zu den folgerichtigen Konsequenzen seines Denkansatzes, und im Falle praktischer Anwendung würden die Konsequenzen mit Sicherheit gezogen, von wem immer. Angemessen erfassen lassen sie sich erst in der Perspektive der ersten Person Singular, erst wenn ich mich frage, was sie für mich bedeuten.
Das deutsche Volk tritt mir als eine Persönlichkeit gegenüber. Das ist die nächste Konsequenz. Nicht nur jeder Deutsche ist eine Persönlichkeit, auch der Zusammenhang, der uns zum Volk macht und der über die bloße Summe gleichnamiger Größen in der Tat weit hinausgeht, tritt uns als Persönlichkeit gegenüber. Deutlicher gesagt, das deutsche Volk ist selbst ein Deutscher, einer der nicht nur im Namen des Volkes spricht, sondern es direkt inkarniert bzw. der ein Gruppe anführt, die ihrerseits für das Volk steht. Was aber noch ungleich mehr ins Gewicht fällt: Ich hab zu befürchten, daß die Persönlichkeit namens Volk darauf pochen wird, sie sei wichtiger als ich, sie genieße mir gegenüber einen Vorrang, jenen Vorrang nämlich, den Benoist implizit schon behauptet hat, als er in der oben an erster Stelle referierten These dem Begriff des Volkes eine im Vergleich mit den Begriffen des Einzelnen und der Menschheit größere Wichtigkeit zuschrieb. Mein Verhältnis zu der Persönlichkeit Volk gerät so zu einer Unterordnung. Die Subsumtion des Individuums unter das Volk. Als ein Verhältnis zwischen zwei Persönlichkeiten nimmt die Subsumtion obendrein die Form einer persönlichen Unterordnung an. Etwas, das ich weniger noch als vieles andere ertragen kann. Postwendend wird es heißen, das gemeine Wohl stellt den wichtigsten Wert dar; es ist wichtiger als mein individuelles Interesse (eb., S. 81, 99). Sattsam bekannte Formeln wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ machen wieder die Runde. Und während die Persönlichkeit namens Volk dabei doch unentwegt an sich denken darf, mutet sie mir „Regeln der Uneigennützigkeit und der Selbstlosigkeit“ zu. (eb., S. 99). Nun gut, mit Zumutungen dieser Art (die ich übrigens für durch und durch verlogen halte) könnte man noch irgendwie umgehen, auf listige Art und Weise etwa. Schwieriger gestalten sich die Dinge bei den anschließenden Konsequenzen, den weitergreifenden. Die Vorrangigkeit des Volkes, die meine Nachrangigkeit unmittelbar einschließt, macht mich im bedrohlichen Maße disponierbar. Selbst meine Menschenrechte können dann im Namen des Volkes zur Disposition gestellt werden. Mir in heiklen Situationen Menschenrechte zu verweigern, kann dann nämlich als das kleinere Übel gelten, das dem größeren Übel, einer Beschädigung von Volk und Gemeinwohl, logischerweise vorgezogen wird. Was, wenn ich mich an den Vorrang des Volkes nicht halte und einfach das meinige tue. Dann wäre ich ein Liberaler, und der Liberalismus, so stets geschrieben, ist der Hauptfeind. Ich als Feind des inkarnierten Volkes, ein Volksfeind. Was das bedeutet, will ich mir gar nicht erst ausmalen; zu direkt erinnert es an historische Ereignisse unseligen Gedenkens. Meine Urteilskraft könnte davon über die Maßen getrübt werden.
Um die Darstellung von der persönlichen Betroffenheit wieder abzuheben. Jede Unterordnung des Individuums unter das Volk – und werde sie auch nur mit der vergleichsweise harmlos klingenden Wendung „weniger wichtig als“ ausgesprochen und festgeschrieben – relativiert die Menschenwürde des Individuums. Eine relativierte Menschenwürde aber könnte nicht mehr als unverletzlich beansprucht und eingeklagt werden. Das absolute Folterverbot beispielsweise hat absolut unveräußerlich zur logischen Voraussetzung, daß die Würde des Individuums gerade nicht für „weniger wichtig“ gilt als die Würde mehrerer Menschen und eines ganzen Volkes. Bereits der Ansatz einer geringeren Wichtung des Individuellen zugunsten des Völkischen machte ein generelles Folterverbot rechtsförmig undenkbar. Muß deshalb der Würde des Einzelnen der Vorrang gegeben und das Verhältnis der Vorrangigkeit zwischen Volk und Individuum umgekehrt werden? Volk und Individuum lassen sich nicht auf die Waage bringen. Da gibt es nichts zu wägen. Weil Menschenwürde keine Quantität hat, sie ist pure Qualität. Nirgendwo steht sie der graduellen Abstufung, niemals der portionsweisen Zuteilung zu Gebote.
Die Hypostase von „Volk“ mit all ihren bedrohlichen Implikationen, das ist rechte Ideologie, das ist sogar rechtsextrem, und diesmal fällt der neurechte Standpunkt alles andere als brandneu aus. Man darf sich höchst unangenehm erinnert fühlen. Vorzeiten wurde die Subsumtion des Individuums unter ein Volk von eigentümlicher Persönlichkeit so ausgedrückt: Das Volk ist ein Körper, ein gesunder oder kranker Volkskörper. Das Individuum müsse sich wie ein Glied dem Volkskörper einfügen, wie ein Organ, wenn es hoch kommt. Es muß – so hieß es – „gliedlich“ genommen werden. Und „gliedlich“ genommen, kann es Geltung beanspruchen allein als echter Volksgenosse.