Eine Umkehr zwischen Sein und Werden – die Prozeßontologie von Wolfgang Sohst

Der Autor hat den Anspruch, den „metaphysischen Denkstil“ und die „Dialektik als Methode“ in eins zu praktizieren. Er will Dialektik und Metaphysik miteinander verbinden. Ich nenne das „Metaphysica dialectica“. Erfunden haben wir dieses Konzept allerdings beide nicht. Das ausdrücklich formulierte Programm einer Liaison der Metaphysik mit Dialektik geht auf Ernst Bloch zurück.

Unter Dialektik versteht Wolfgang Sohst im Kern „die Behauptung der Entstehung von etwas aus einem vorgängigen Widerspruch“ (Prozeßontologie, Berlin 2009, S. 50). Die Zentrierung der Dialektik um Widerspruchsdialektik kommt mir zwar etwas eilig – topische Dialektiker und hermeneutische Dialektiker könnten sich von ihr aus dem Kreis der Eingeweihten ausgeschlossen fühlen – aber sie bringt doch eine Gestalt des dialektischen Denkens zu Ehren, die ideengeschichtlich wie keine andere attackiert worden ist. Zumal der Widerspruch im Weiteren als ein operationales Verhältnis gefaßt, als solches gegen bloß logische Verhältnisse abgehoben und dieserart unter den ontologisch bedeutsamen Zusammenhängen ausgemacht wird.

Das Buch handelt vom Werden und Sein. Es ist der Versuch, eine Auffassung über die Beziehung zwischen Werden und Sein, die traditionell wieder und wieder ausdrücklich behauptet oder stillschweigend unterstellt wurde, umzukehren. Für die traditionell bevorzugte Auffassung von Sein und Werden mag exemplarisch der Denkeinsatz in Hegels „Wissenschaft der Logik“ stehen. Dort läßt Hegel seinen systematischen Gedankengang unter dem Begriff des Seins einsetzen. Negativ zum Sein macht er das Nichts aus. Darauf folgt seine These von der Einheit des Seins und des Nichts. Und diese These sieht er schließlich zum Begriff des Werdens überleiten. Ontologisch gesprochen: das Sein als irgendwie unmittelbar, das Werden als vom Sein vermittelt, als eine Art Abkömmling oder verwandelte Form des Seins. Das ist die traditionell bevorzugte Gedankenabfolge, die es wahrlich verdient, umgekehrt zu werden. Nicht das Werden als eine gewisse Weise zu sein, sondern umgekehrt, das Sein als eine eigentümliche Weise zu werden. Damit war Heidegger befaßt, wo er das Dasein als ein wesenhaft zeitlich verfaßtes dachte und sich vornahm, den Begriff des Raumes aus dem der Zeit herzuleiten, während in Hegels „Enzyklopädie“ die Naturphilosophie nicht zufällig bei dem des Raumes einsetzt.

Sohst denkt allerdings die Beziehung des Werdens zum Sein, die ideengeschichtlich schon immer im Schwange war, unmittelbar als Beziehung von Prozeß und Gegenstand. Wobei er für „Gegenstand“ auch „Ding“ und „Sache“ als synonyme Ausdrücke gelten läßt. Das Paar „Prozeß und Ding“ hat ausgehend vom Rechtswesen Sprachgeschichte gemacht. Das Wort „Ding“, das sich letztendlich aus dem germanischen Ausdruck „Thing“ herleitet und noch im Mittelalter eine so beziehungsreiche Institution wie das Gericht meinte, bietet wohl das sinnfälligste sprachliche Exempel für Verdinglichung. Wichtiger als die Abkunft von „Ding“ ist im gegebenen Kontext aber die von „Prozeß“. Von seiner sprachgeschichtlichen Abstammung aus dem Rechtswesen her taugt dieses Wort ausschließlich zur Bezeichnung eines eigentümlichen Werdens – des gerichteten Werdens. Das gerichtete Werden, und nur dieses, verdient den Titel „Prozeß“. Ich frage mich, ob der Denkeinsatz beim gerichteten Werden eine Rechnung aufmacht, die aufgehen kann. Muß doch das gerichtete Werden seinerseits geworden sein. Rangiert das Paar „Prozeß und Gegenstand (Ding)“ überhaupt fundamental genug, um eine Metaphysik tragen zu können? Wenn man Werden und Seiendes unversehens auf dem Niveau von Prozeß und Gegenstand anspricht, macht man ein etwas verengtes kategoriales Raster auf. Manches taucht in dem Raster nicht auf, das ungerichtete Werden etwa.

Die gerade kritisch markierte und ideengeschichtlich dominante Grundstellung des Seins zum Werden begegnet einem innerhalb des Rasters unmittelbar in Gestalt von „gegenstandsbasierten Ontologien„. Leicht kann man mit diesem Titel Auffassungen verbinden, die allesamt die Gegenständlichkeit des Universums als irgendwie unmittelbar nehmen und den Prozeß wesentlich als Prozessieren von Gegenständen fassen, als ein Geschehen, das die Gegenstände durchlaufen. Gegen Auffassungen dieser Art wird die „Prozeßontologie“ gestellt. Ihre starke These soll besagen: „Die fundamentalen Kategorien der Weltstruktur gehören dem Reich der Prozesse an, und aus ihnen folgt erst die Gegenständlichkeit der Welt“ (17). Es gelte zu zeigen, „wie aus Prozessen Gegenstände werden, ohne daß dabei ihre ursprüngliche Prozessualität verloren geht“ (18). Wenigsten vier Gedanken impliziert die These, die auch alle vier expliziert werden.

1. Die Gegenstände selbst wollen als Prozesse verstanden werden, als Prozesse von bestimmter Art und Weise. Etwa als „stabile Prozesse“ (19), mit Sicherheit aber als ein verwandeltes, umgewandeltes Geschehen. Dem entspricht, was uns der Physiker Robert B. Laughlin für Atome versichert: Atome sind nicht winzige Billardkugeln, sondern Wellen, sagt er, ebenso wie ihre Bestandteile, die sich in genau der Weise zu Atomen verbinden, wie Schwingungen des Wassers sich zu einer Brandungswoge vereinen (Abschied von der Weltformel, München 2007, S. 58). – 2. Sodann haben wir es bei Prozeß und Gegenstand nach beiden Seiten hin mit Prozessen zu tun, mit Prozessen von differenter Art oder Form. Nämlich mit einem „nichtgegenständlichen Prozeßgemenge“ einerseits und einer „gegenständlichen Prozeßgesamtheit“ andererseits. Wobei das zuerst genannte Gemenge sicherlich nicht mit einer Gesamtheit verwechselt werden will. Prozeß und Gegenstand stehen näher besehen also wie nicht gegenständlicher und gegenständlicher Prozeß zueinander. – 3. An der sich abzeichnenden Konstellation muß eine gewisse Vorgängigkeit des einen gegenüber dem anderen festgehalten werden. „Wenn Gegenstände als das Ergebnis einer Umwandlung von Geschehnissen verstanden werden, so läuft dieser Vorgang dem Gegenstand modelllogisch voraus“ (17). – 4. Für den vorgängigen Prozeß wiederum muß etwas ausbedungen werden, was sich noch als eine besonders gefahrvolle Klippe der Begriffsarbeit herausstellen könnte. „Das, was geschieht, und das, woran es geschieht, ist gleichursprünglich und zunächst ungeschieden“ (45).

Den letzteren Gedanken würde ich gerne reformulieren: Es gibt kein Werden ohne Werdendes, nur daß Werden und Werdendes zunächst ununterschieden ausfallen. Und dies läßt sich am ehesten noch als Werden des Werdens verstehen. Wie dem auch sei, bis zu den wiedergegebenen Thesen kann ich dem Gedankengang als einem – trotz gewisser Engführung – immer noch verheißungsvollen folgen.

Das ändert sich, wo der Autor das vorgegenständliche Prozessieren näher vorstellt. Er tauft es auf den Namen „Pandynamis“ und schreibt ihm dann zu, völlig unbestimmt auszufallen (64), „ein Gebiet vollkommener Beliebigkeit“ zu bilden (57) und indifferent zu sein. Mit dem Begriff der Pandynamis, sagt Sohst, beschreibe er „die totale Indifferenz auch aus der logischen Perspektive, und somit ein Voridentisches“ (68). Daß es sich bei dem als „Pandynamis“ bezeichneten urtümlichen Werden um etwas „Voridentisches“ handeln muß, leuchtet ein. Aber wie soll ausgerechnet das „Voridentische“ von totaler Indifferenz gezeichnet sein können? Wenn es als indifferent unterstellt wird, muß es konsequenterweise schon deshalb als etwas mit sich absolut Identisches angenommen werden. Wozu überhaupt diese asketische Behandlung des urtümlichen Werdens? Das scheint mir für das Begreifen des Seins als ein Werden, der Gegenstände als ein Prozessieren überhaupt nicht nötig zu sein und keinen Sinn zu machen. Und es scheint mir einem fortgesetzten kohärenten Gedankengang im Wege zu stehen. Der Pandynamis wird schließlich Selbstwidersprüchlichkeit zugeschrieben, wenngleich ihr die nicht wie eine Eigenschaft zugesprochen werden soll. Und das unter Verweis darauf, daß sie „sowohl homogen als auch inhomogen“ ausfalle (64). Aber wie sollte etwas, das sich zutreffend als zugleich homogen und inhomogen beschreiben läßt, indifferent genannt werden können? Etwas Inhomogenes differiert mit Sicherheit.

Bei diesen meinen Anmerkungen halte ich mich sehr wohl an die These, auf die ich mich schon festgelegt habe: Werden und Werdendes fallen urtümlich ununterschieden aus. Dabei bleibt es. Aber das bedeutet natürlich alles andere als Indifferenz. „Ununterschiedenheit“ meint eine dem Unterschied zuvorkommende Differenz, eine noch nicht zum Unterschied herabgesetzte Differenz, eine, die folgerichtig in der Tat nicht mit Identität korrelieren kann und statt dessen mit einem Wiederholen, das der Identität zuvorkommt, korrelieren muß.

Der vorgegenständliche Prozeß wird von Sohst in vielfältigen Wendungen als Fluß und fließend vorgestellt. Zum Beispiel möchte er Sein und Werden wie eine stehende Bestimmtheit und eine fließende Möglichkeit unterscheiden (67). Er scheint das Fließende allen Ernstes gegen Gegenständlichkeit gefeit zu sehen. Dabei ist doch jeder Fluß ein Gegenstand, ein Ding und ein Stoff, und eine ordinäre, mit den Händen zu greifende Körperlichkeit obendrein. Die Fluß-Metapher treibt wieder einmal ihr Unwesen, nicht minder verklärend als in Husserls Philosophieren über die Zeit.

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Ein Kommentar

  1. Sehr geehrter Herr Schmidt
    Zur Ihrer Kritik der Prozessontlogie von Wolfgang Sohst möchte ich mit Ihnen diskutieren.

    Wenn die Rede auf das Sein kommt, ist alles in Rede stehende Funktion und Struktur des Seins, so meine These. Sein ist die allgegenwärtige Struktur und Funktion aus der Welt und Weltbewusstsein besteht.
    Damit includiert das Sein alles von dem wir etwas sagen können.
    Grundsätzlich zwischen Sein und Werden zu unterscheiden ist danach unmöglich, weil hinter dem Werden nach der von mir gegebenen Definition das Sein stehen muss. Erörterungen zum Verhältnis von Sein und Werden sind damit grundsätzlich nicht geeignet Struktur und Funktion des Seins aufzuklären.
    Autor Wolfgang Sohst und Sie als Kritiker seiner Prozessontologie diskutieren über Sein und Werden. Eine Erkenntnis zum Sein ist aus o. g. Gründen nicht zu erwarten. Wolfgang Sohst allerdings hierauf zu reduzieren erscheint nicht gerechtfertigt.
    Welt und Weltbewusstsein erweist sich bei genauer Analyse als unvollständig. So ist die Ursache einer Bewegung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht beschreibbar ohne in Widersprüche zu geraten. Die Frage, die zum Sein führt ist deshalb aus meiner Sicht folgende: Wie müssen Struktur und Funktion des Seins beschaffen sein damit Welt und Weltbewusstsein widerspruchsfrei entsteht.
    Trotz obiger Einschränkungen hat Wolfgang Sohst wohl versucht einen ähnlichen Weg zu gehen.

    Mit frdl. Grüßen

    Gerhard Rinn

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