Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll“. Seine Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute“ vorstellen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz“, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß“, hier auf Erden jedenfalls (Theaitetos 176 a – 176 b). Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zu lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zu hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zu hassen nicht ausrotten kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden. Und wir Heutigen, die wir die Weisheit der Alten zu schätzen wissen, müssen mit unseren später entstandenen und geläufig gewordenen Begriffen ähnlich verfahren und folgende Konsequenz ziehen: All die Sollsätze, denen zufolge man das Gute tun und das Böse lassen soll, das moralisch Richtige machen und das Falsche meiden soll, gültige moralische Normen einhalten statt verletzen soll, stehen unter dem Verdacht, bloßes Geschwätz zu sein, weil und insofern sie unzertrennliche menschliche Lebensäußerungen trennen, in seinsollende und nicht seinsollende aufspalten.
Die Unzertrennlichkeit jener Lebensäußerungen, die von der Moral in Gut und Böse, Tugend und Laster, Richtiges und Falsches usw. eingeteilt werden, und derentwegen Platon das übliche Postulieren verhöhnt, hat in der nachfolgenden Geschichte der Ethik wieder und wieder Bestätigung erfahren. So schreibt Michel de Montaigne: „Die Laster spielen folglich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eine gleich große Rolle wie die Gifte für die Bewahrung der Gesundheit“ (Essais, Frankfurt am Main 1998, S. 391). Ganz ähnlich urteilt LaRochefoucauld: „Die Laster mengen sich in das Zusammenspiel der Tugenden wie die Gifte in das System der Heilmittel“ (Maximen 182). Würden sie tatsächlich ausgetilgt, beschwört Bernard Mandeville seine Zeitgenossen, müßte die Menschheit glatt „die Fähigkeit verlieren, sich zu großen, mächtigen und kultivierten Gesellschaften zu entwickeln“ (Die Bienenfabel, Leipzig – Weimar 1988, S. 7). Er will sie davon überzeugen, daß noch „die höchsten Tugenden der Stützung durch die schlimmsten Laster bedürfen“ (S. 86), weshalb schon um der Tugenden willen das Laster niemals aussterben dürfe. Schließlich sagt er vom Bösen in der Welt sogar, daß es „das großartige Prinzip ist, das uns zu geselligen Wesen macht“. Und „in dem Augenblick, da das Böse verschwindet, muß die Gesellschaft vor dem Ruin, wenn nicht gar der gänzlichen Auflösung stehen“ (S. 357). Immanuel Kant erkannte in den Erzlastern der Habsucht, Herrschsucht und Ehrsucht Triebfedern des kulturellen Fortschritts (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz). Man könnte sie nicht ausrotten wollen, ohne sich der mächtigsten Triebfedern kulturellen Fortschreitens zu berauben. – Das ist lediglich ein Ausschnitt aus der langen Liste von Positionen, die allesamt als Argumente zugunsten des platonischen Vorbehalts gelesen werden können. Und dann geschieht etwas Frappierendes. Einer von den Zeugen zugunsten des Vorbehalts wider das Postulieren in der Art des Psalms „Meide das Böse und tue das Gute“ ergeht sich ausdrücklich und mit programmatischer Diktion in eben diesem Postulieren. Es ist Bernard Mandeville.
Das Mandeville-Paradox. Einerseits plädiert Mandeville wie kaum ein anderer vor und nach ihm für den Wert der Laster. Wie oben bereits zitiert, sagt er, daß in dem Augenblick, da das Böse verschwände, die Gesellschaft vor ihrer Auflösung stünde. Und während wir demzufolge nichts mehr zu fürchten haben, als das Verschwinden des Bösen, sagt er doch zugleich und andererseits: „Mein erster Grundsatz lautet, daß in allen Gesellschaften … jedes Mitglied verpflichtet ist, sich sittlich zu verhalten; daß Tugend gefördert, Laster mißbilligt, die Gesetze eingehalten und Gesetzesbrecher bestraft werden müssen“ (a. a. O. S. 212). Ausgerechnet derjenige, der sich nichts Gefährlicheres für den Bestand der menschlichen Gesellschaft vorstellen kann als das Verschwinden des Bösen, will zugleich und unverdrossen zur Tugendhaftigkeit gemahnen, Laster mißbilligen und das Böse sogar verfolgen. Wie reimt sich das? Mit Platon stimmt er nur hinsichtlich der Unabdingbarkeit der Laster überein. Anders als dieser zieht er daraus nicht den Schluß, das Gebieten „Folge der Tugend, meide das Laster“ fahren zu lassen. Das Böse sei unabdingbar und dennoch zu mißbilligen und zu verfolgen. Das ist doch paradox.
Eine Differenz zwischen der Bedeutung und dem Sinn des moralischen Gebietens. Wenn sich Mandevilles paradoxe Aussagenverknüpfung überhaupt zusammendenken läßt, dann unter folgender Vorraussetzung: Das Untersagen des Bösen stimmt mit der Behauptung seiner Unabdingbarkeit zusammen, weil und insofern es gar nicht der Sinn des Untersagens ist, das untersagte Tun und Treiben tatsächlich zum Verschwinden zu bringen, weil und insofern also das Untersagen einen Sinn hat, der mit seiner Bedeutung, etwas ausdrücklich zu verneinen, keineswegs zusammenfällt. Schlichter formuliert, Mandeville hat das moralische Verneinen, dieses „Meide das Böse!“, eben nicht für bare Münze genommen, hat es als Verneinen nicht ernst genommen, hat es vielmehr als eine Ironie und List der praktischen Vernunft genommen. Während Platons Spott und Hohn offensichtlich unterstellt, das Untersagen der Schlechtigkeit sei als solches ernst gemeint und für bare Münze zu nehmen, als würde der Sinn dieser Untersagung mit ihrer Bedeutung, also mit dem, was sie sichtlich und hörbar besagt, zusammenfallen. Diese Unterstellung müßte man für naiv halten, wenn die hinter der so ungereimt anmutenden Haltung Mandevilles steckende Annahme sich bestätigt. Über solche Naivität dürfen wir uns vielleicht erhaben wähnen, wenn wir folgendes annehmen. Das Wort „nicht“ innerhalb des Ausdrucks „Du sollst nicht böse sein“ hat eine Bedeutung und einen Sinn, es besagt etwas und es sinnt auf etwas, und zwar sinnt es auf etwas anderes als das, was es besagt. Es bedeutet und besagt eine Negation, die Negation des bösen Tun und Treibens, und es sinnt auf etwas anderes als diese Negation. Worauf immer. Zweifellos unterstellt diese Erwägung, die Moral würde ihre Adressaten zum Narren halten. Schauen wir nun in diese Denkrichtung, zeichnen sich auf Anhieb mehrere ergiebige Ideengeschichtliche Phänomene ab. Ich will einige Exempel geben.
Exempel I. Der Sündenfall der Moral – das Verbot des Begehrens als Anstoß des Begehrens. Was hat der Apostel Paulus nicht alles geboten und untersagt. Nicht selten tat er das mit einer didaktischen Penetranz, die leicht zu der Annahme verführen kann, er sei mit einem einfältigen Glauben an eine einschichtige Bedeutung des moralischen Postulierens geschlagen gewesen. Um so mehr überraschen gewisse Passagen in den paulinischen Briefen, die eine ebenso tiefe wie machtbewußte Kenntnis ihres Autors von dem doppelten Boden des moralischen Postulierens anzeigen. An einer Stelle macht er sich – jenseits aller didaktischen Betulichkeit – Gedanken über das Gebot und Gesetz „Du sollst nicht begehren“. Mit zwei Aussagen, die es wahrlich in sich haben. Die eine besagt: „Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde (Röm. 7, 8). Und die zweite Aussage: „Ich lebte einst ohne das Gesetz; aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig (Röm. 7, 9). Das heißt doch, das Gesetz hat erst erregt, was es verbietet. Es bewirkt nicht, was es besagt, es bewirkt etwas anderes als das, was es bedeutet. Bedeuten und besagen tut es ein Nein zur Gier, bewirken aber eine Erregung der Gier. Und muß man nicht festhalten, es sei sein Hintersinn, hinterrücks das anzuregen, was es vordergründig verwirft? Womöglich liegt mit diesem Fall eine Elementarform des Hintersinns von Moral vor. Es wäre der Sündenfall der Moral.
Exempel II. Die Verwerfung des Selbstseinwollens als Stimulus der Verselbstung. Im Geist des mittelalterlichen Abendlandes, und zwar bereits während der Epoche der Patristik, greift das Gebot um sich:, der Mensch solle nicht nach sich selbst leben, sondern nach Gott. „Nicht weil der Mensch einen Leib hat und sinnlich begehrt, ist er böse geworden“, schreibt Augustinus, „sondern weil er nach sich selbst lebt“. Eben das soll er nicht (Vom Gottesstaat XIV, 3). Ganz ähnlich gebietet noch der Augustiner Martin Luther, „daß ein Christenmensch lebt nit in ihm selb, sondern in Christo und seinem Nächsten“ (Von der Freiheit des Christenmenschen XXX). Zwischenzeitlich wuchs das Gebot zu einem der Selbstverachtung aus. Passagenweise wurde die Selbstverachtung recht militant eingefordert. So etwa von Valentin Weigel in seinem alternativen Büchlein von der Selbsterkenntnis. „Hasset euch selber“, heißt es dort, „verleugnet euch selber … verlieret euch selbst, fallet von euch selber ab. Item, sterbet euch selber ab, so ihr anders wollt in das Reich Gottes einzugehen“ (Ausgewählte Werke, Berlin 1977, S. 232). Die mal radikal, mal moderat gebotene Entselbstung entfaltet nun eine denkwürdige Dialektik. Das Selbstische oder Selbstbezügliche an ihr impliziert nicht allein, daß es das Individuum selbst ist, wogegen sie sich richtet, es impliziert mindestens ebenso, daß das Individuum all dies auch selbst zu vollbringen habe. Die Selbstkasteiung ist nicht nur eine Kasteiung seiner selbst, sondern auch eine Kasteiung durch sich selbst. Noch die wütende Selbstverachtung ist eine echte Technologie des Selbst, wie Michel Foucault das nennt. Und das heißt, gleichsam hinter seiner negativen Beziehung auf sich selbst muß das Individuum als es selbst ganz positiv wieder auftauchen. Das Selbst, das es zu exekutieren gilt, erfährt als Exekutive außerordentliche Bestätigung. Und je geschwächter es als Objekt der Kasteiung, desto kraftvoller muß es als deren Subjekt geraten. Entselbstung verkehrt sich zur Verselbstung. Moral, die Selbstlosigkeit gebietet, erweist sich hinterrücks als Brutstätte des Selbst. Kein Vorgang dürfte dem abendländischen Selbst stärkere Entwicklungsimpulse verliehen haben als der Versuch, es zu tilgen. All das hat sich kulturgeschichtlich mit einer solchen Breiten- und Tiefenwirkung vollzogen, daß man sich schwerlich der folgenden Frage entziehen kann. Könnte es sein, daß die Verkehrung von Entselbstung in Verselbstung nicht nur faktisch vollzogen wurde, sondern auch der Sinn der moralischen Verwerfung des Nach-sich-selbst-Lebens war, ein von ihrer Semantik abweichender Sinn, ihr Hintersinn? Das Gebot, der Mensch soll nicht nach sich selbst leben, sondern nach Gott, war von Augustinus gewiß ernst gemeint, und seine Bedeutung – Selbstlosigkeit ist gut – lag flach auf der Hand. Aber war es auch sein Sinn, der Selbstlosigkeit Bahn zu brechen? Gewiß nicht.
Exempel III. „Das Verbot ist da, um verletzt zu werden“. Das ist eine These von Georges Bataille, formuliert in seinem Buch „Die Erotik“ (München 1994, S. 64). Die These meint mehr, als daß die verbotenen Früchte besonders gut schmecken, was ja schon Ovid wußte und hinterfragte. Sie meint, daß Verbote nicht nur zu gemeinen Übertretungen provozieren, sondern auch und mehr noch zu kreativen Überschreitungen reizen. Und die kreative Überschreitung sei der eigentliche Sinn von fundamentalen Verboten, ihr Hintersinn. Bataille erläutert das an dem mosaischen Verbot „Du sollst nicht morden“. Dieses Verbot war direkt gemünzt auf einen bestimmten Typus des Tötens von Menschen durch Menschen, auf das naturwüchsige Morden. Jeweils einzelne Menschen schlachten einander auf ungeregelte Weise ab. Derlei verbietet das mosaische Gesetz. Ordinäre Übertretungen dieses Gesetzes sind historisch allgegenwärtig. Was aber das Verbot des naturwüchsigen Mordens richtiggehend affiziert hat, ist noch ein anderer Vorgang als der der Übertretung. Das ist der Vorgang seiner Überschreitung, der Vorgang einer kreativen Überbietung des naturwüchsigen Mordens. Über das naturwüchsige Morden hinaus geht das kultivierte Morden, das gesellschaftlich geregelte, kollektiv organisierte, prachtvoll ritualisierte und symbolträchtig aufgeführte Morden – der Krieg, das Duell, die Fehde, die Todesstrafe, die Vendetta … In diese Richtung zu treiben, über naturwüchsiges Morden hinaus zu einem kultivierten Morden zu treiben, gehört zum Sinn des mosaischen Verbotes und Gesetzes. „Ich bin davon überzeugt“, schreibt Bataille an der schon zitierten Textstelle, „daß der Krieg ohne das Verbot unmöglich, unvorstellbar ist!“
Von den skizzierten Exempel darf ich mich zu einer Hypothese ermuntert fühlen, die eine richtiggehende Untersuchung leiten mag: Bei den massiven Schüben, tiefgreifenden Zäsuren und grundstürzenden Umwertungen in der Sittengeschichte geht es sinnhaft um etwas anderes als was der Wertewandel jeweils auf der Zunge trägt. Die menschliche Sittengeschichte ist darin besonders menschlich, daß sie ihre Geheimnisse und Rätsel hat.