Eine plotinische Figur

Im 3. Jahrhundert entwickelte Plotin eine spannungsvolle Denkfigur. Erstmals aufgeboten hat er sie bei dem Versuch, die urtümliche Genese des Alls zu denken. Daß alles aus Einem hervorgegangen sein muß, war ihm bereits gewiß. Aber wie konnte alles aus dem Einen hervorgehen, wie aus einem  Einfachen  all das Vielgestaltige werden, das sich zum Universum ausgebreitet  und gefügt hat? Seine Antwort: Indem jenes Eine unbeschadet seiner Einfachheit doch „von einer vollkommenen Fülle ist – es sucht ja nichts, hat nichts, braucht nichts – so ist es einfach übergeflossen,und seine Überfülle hat das Andere hervorgebracht.“ (Enn. V 2, 1) Aus dem Einen konnte alles andere werden, weil und insofern es eine Überfülle ausmacht und als  solche einfach überschießen muß – hin zum Anderen. Die Figur, die an der zitierten Textstelle in einen kosmologischen Kontext eingearbeitet ist, läßt sich in Reinform folgendermaßen auszeichnen. Es handelt sich bei ihr um eine Art, gedanklich vom einen zum anderen überzugehen. Besser gesagt, es handelt sich um eine eigentümliche Art und Weise, wie das Eine ins Andere übergeht. Nämlich so, daß es von sich aus über sich hinausgeht, und dies einzig und allein kraft einer Überfülle, vermittels überschießender Fülle. Weshalb das Eine im Anderen auch nicht aufgeht, sondern überfließend bleibt. Diese Figur hat Plotin in das abendländische Philosophieren eingeführt. Etwas geht kraft überschießender Fülle von sich aus über sich hinaus, hin zum Anderen, aber ohne in diesem aufzugehen. Daß seine Innovation Anregungen weiterführt, die vor allem der persischen Ideenwelt entstammen und  von seinem Lehrer Ammonios übermittelt wurden, gilt als erwiesen.

Und es handelt sich um eine dialektische Figur. Alles Dialektische liegt elementar darin, daß etwas von sich aus über sich hinausgeht und dieserart ins Andere übergeht. Von sich aus und über sich hinaus – diese elementare Figur des Dialektischen bedient auch Plotins Gedanke. Was ihn auszeichnet, ist die Art, wie er sie vermittelt sieht. Durch überschießende Fülle sieht er sie vermittelt. Sowohl von sich aus als auch über sich hinaus gehe das Eine vermöge seiner Überfülle.  Genau dieser Punkt hebt ihn von einer Denkweise ab, die als eine dialektische Denkungsart ungleich vertrauter ist und vor allem von Hegel geprägt wurde.

Auch Hegels Dialektik bedient die elementare Figur, wonach etwas von sich aus über sich hinaus treibt. Nur daß er sie anders vermittelt sieht: nicht durch überschießende Fülle, sondern durch das Negative. Alles habe sein Negatives an sich, gehe mit seiner Negation einher, stets sei es auch nicht das, was doch ist.  Sein Negatives an sich habend, widerspricht es sich, und zwar antinomisch. Sich widersprechend aber, treibt es über sich hinaus – hin zu etwas Anderem, hin zu seiner Veränderung, wie auch immer. Die Einschränkung, etwas weise per se nur deshalb über sich hinaus, weil es mit seiner Negation einhergeht, macht Hegels Denkweise zur Dialektik der Negativität. Dagegen verheißt Plotins Gedanke eine Dialektik der Fülle, oder sagen wir, eine Dialektik des Luxurierens. Dialektik der Negativität exekutiert stets einen Mangel. Hegel ist Protestant genug, um es noch mit einem pathetischen Unterton zu beteuern, wie wenig die per Selbstnegation über sich hinaus treibende Bewegung als eine Art von Überfluß verstanden werden will.  Sie gehorcht der Not, ist buchstäblich notwendig. Die Dialektik des Luxurierens hingegen vollstreckt statt der Armut einen Reichtum, anstelle des Mangels eine Fülle, ja die Überfülle, für die auch der von Georges Bataille in Die Erotik systematisch gebrauchte Ausdruck „Plethora“ zu stehen vermag .

Was ist aus Plotins Ansatz geworden? Abgesehen von seinem  Fortwirken in der neuplatonischen Tradition, taucht er nach Hegel in prominenten Lehren und Theorien auf. Nicht zuletzt im Denken Friedrich Nietzsches. So unüberlesbar die ausdrücklichen Verwerfungen von Dialektik bei Nietzsche ausfallen, so prononziert hat er doch die alternative, vom Prinzip der Negativität sich abhebende dialektische Figur zur Geltung gebracht. Daß etwas per se über sich hinaustreibt – und zwar vermöge einer Fülle, anstatt vermittels einer Selbstnegation – das findet er unter den tiefsten Wesenszügen des Lebens. Seine Überlegungen über die volle Lebenskraft und das Über-sich-hinaus-Schaffen gehören ganz dahin. Das Leben selbst hat es ihm als sein innerstes Geheimnis anvertraut: Ich bin das, was sich immer selber überwinden muß (Also sprach Zarathustra, KGA VI-1, S. 144). Über sich hinaus zu schaffen ist des Leibes letzter Wille (eb. S. 36). Und wenn das Leben sich selber zu überwinden trachtet, so gerade nicht im Gefolge einer Negation, nicht vermittels Selbstverneinung, Selbstverleugnung, Selbstkasteiung, sondern als Ausfluß der vollen, üppig pulsierenden Lebenskraft. Alle Kraft ist an sich schon etwas Überschießendes, etwas Luxurierendes. Volle Lebenskraft kann gar nicht anders, als ganz von sich aus über sich hinaus zu schaffen, statt sich in unentwegter Rückkehr zu sich selbst, in  möglichst lückenloser Selbstbestätigung und dergleichen zu ergehen.

Plotins Denkfigur hat niemals einen philosophischen oder wissenschaftlichen Zeitgeist durchgreifend geprägt, aber sie taucht doch periodisch in irgendeiner Region der Ideenwelt auf, mal in der einen mal in der anderen. Nachdem man sie gerade an Nietzsches leibnahem Philosophieren ausgemacht hat, begegnet sie einem plötzlich in einem eher unsinnlichen wissenschaftlichen Metier, in der Mathematik, in der Mengenlehre des Georg Cantor. Dort hat sie die Gestalt folgenden Satzes angenommen: /α/ < /P (α)/. Das heißt, eine Menge ist kleiner als ihre Potenzmenge; die Potenzmenge einer Menge ist größer als diese Menge. Oder zünftig gesprochen, die Mächtigkeit der Potenzmenge einer Menge ist größer als die Mächtigkeit dieser Menge. Alain Badiou, dem sich unsere Aufmerksamkeit für den Satz des Cantor verdankt, hat ihn so gedeutet: „Dies ist das Gesetz des quantitativen Überschusses der Verfassung einer Situation über die Situation.“ (Sein und Ereignis, Berlin 2005, S. 550) . Ein Gesetz des quantitativen Überschusses – der Überschuß oder das  Überschießen liegt hier darin, daß es eben die der Menge eigene Potenzmenge ist, was sie übersteigt. Indem es ihre eigene Potenzmenge ist, was sie übersteigt, geht die Menge per se über sich hinaus. Und dies wohlgemerkt ohne alle Dazwischenkunft von Negation.

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