Foto: Credit: Saswat Pattanayak
Das ist die Frau, deren Schicksal für eine neue Stufe der abendländischen Vermittelmäßigung stehen könnte.
Seit vielen Jahrhunderten läuft innerhalb der abendländischen Kultur ein Prozeß der methodisch bewußten Vermittelmäßigung. Das theoretische Programm dafür hat Aristoteles mit seiner Tugendlehre vorgegeben. Bei allen menschlichen Dispositionen, heißt es dort, gibt es ein Übermaß, ein Untermaß und ein mittleres Maß. Tugendhaft sei stets nur das mittlere Maß. So etwa bei den Lüsten. Das Untermaß an Lust ist der Stumpfsinn, das Übermaß ist die Genußsucht und tugendhaft ist allein das mäßige, besonnene Lüstchen. Übermaß und Untermaß heißen auch „Extreme“. In der Praxis der Vermittelmäßigung hat das Wort „extrem“ darum weithin einen durch und durch pejorativen Klang angenommen. Derzeit klingt es nur in zwei Kontexten wenigstens neutral: In den Formulierungen „Extremsportarten“ und „extreme sexuelle Praktiken“. Extreme Meinungen, extreme Reaktionen („Überreaktionen“), extreme Empörung usw. usf. gelten dagegen als unbedingt schlecht. Denn das Gute kann immer nur in der Mitte zwischen zwei Extremen liegen. Das ist seit langem zu einer grundlegenden Denkfigur geraten. Natürlich stellen sich zur Tendenz der Vermittelmäßigung periodisch auch gegenläufige Tendenzen ein. Man denke nur an die zeitgenössische Aufwertung des Geizes. Das ist eine von jenen gegenläufigen, das Extreme huldigenden Tendenzen, die aber schlußendlich kulturgeschichtlich unterliegen.
Die große Vermittelmäßigungsmaschine war für Friedrich Nietzsche die Demokratie. Das unabdingbar zur Demokratie gehörige Mehrheitsprinzip bindet das Gute an das Mehrheitsfähige; mehrheitsfähig jedoch ist vor allem das Mittelmäßige.
Aber auch Arbeitswelt und Bildungssphäre kennen ihre systematischen Vermittelmäßigungsprozesse. Ja, der Fortschritt in diesen Sphären scheint nicht zuletzt darin gesucht zu werden, für einen immer weiter gezogenen Kreis von menschlichen Lebensäußerungen ein Untermaß, ein Übermaß und das rechte Mittelmaß zu definieren. In den letzten zehn Jahren wurde z. B. für die kindliche Aktivität ein Übermaß definiert und pathologisiert. Seitdem wird das hyperaktive Kind nach allen Regeln der Therapeutenkunst verfolgt. Als Frau M. sich 1999 um die Leitung eines der Berliner Kulturämter bewarb, mußte sie sich einem mehrtägigen Testverfahren unterziehen, dessen Kriterien eine Forschungsgruppe an der Verwaltungshochschule in Speyer vorgegeben hatte. Am Ende bekam die Bewerberin den mündlichen Bescheid, daß sie für das ausgeschriebene Amt nicht in Frage kommt, weil sie erstens zu intelligent sei (die Verwaltung werde sie nicht verstehen) und weil sie zweitens zu schnell arbeite (da kommt die Verwaltung nicht mit). Zu intelligent, zu fleißig – für eine Leitungsfunktion im öffentlichen Dienst untauglich, weil nicht mittelmäßig genug.
Neuerdings nun kann man für eine Arbeit und ein wirtschaftliches Unternehmen auch deshalb untauglich sein, weil man zu schön ausschaut. Womit der Gedankengang bei der Frau auf dem Foto angelangt ist. Debrahlee Lorenzana, Bankerin und alleinerziehende Mutter, wurde von der Citybank im August vergangenen Jahres entlassen. Die herrschende Wahrnehmung hatte sie als Extremistin einer neuen Art ausgemacht – sie ist extrem hübsch, zu hübsch für die Bank, es fehlt ihr an ästhetischer Mittelmäßigkeit.