Der Schlußstein im Gewölbe der abendländischen Kultur

Es „ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt.“ Das ist  natürlich kein  typisch abendländischer Rechtsgrundsatz. Vielmehr handelt es sich um den Artikel  2a aus der „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990. Er ordnet das Lebensrecht jedes Menschen der Scharia, der Rechtsordnung des Islams unter.  Ganz ähnliche Einschränkungen machen zahlreiche Artikel der Kairoer Menschenrechtserklärung. So auch der über die körperliche Unversehrtheit. „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird garantiert … außer wenn ein von der Scharia vorgeschriebener Grund vorliegt.“ (Artikel 2b).  Was bedeutet es, wenn Artikel, die Menschenrechte zu erklären verheißen,  wiederholt den Verweis auf die Scharia wie eine Klausel angehängt bekommen? Leben und körperliche Unversehrtheit des Individuums haben danach zwar einen Wert, aber doch nur einen bedingten. Sie haben keinen unbedingten Wert, keinen absoluten Wert. Und das heißt, sie gelten wohl als Werte, nicht aber als Würde.

Denn was ist Würde? Der absolute Wert. Und was ist ein absoluter Wert? Ein bedingungslos zu wahrender Wert, einer, der unter keinen Umständen und zugunsten keines anderen Wertes – auch nicht zugunsten eines Gemeinwohls – in Frage gestellt oder sonstwie relativiert werden darf. Diesen Rang, der erst den Titel „Würde“ verdient, bekommen das Leben des Individuums, seine körperliche Unversehrtheit und  dergleichen in der Kairoer Erklärung nicht zugesprochen.

„Jeder Mensch hat das Recht auf Leben“, ohne Einschränkung, ohne Konditionierung, bedingungslos. So hat jedes  menschliche Leben absoluten Wert, Würde. Verbrieft im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Der Artikel 5 der nämlichen Erklärung läßt nichts gelten, dem zuliebe er relativiert werden dürfte. So wird dem Individuum mit seinem Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit nicht nur Wert , sondern Würde zuerkannt.

Die markierte Differenz zwischen zweierlei Auffassungen von den Menschenrechten wurzelt  in kontroversen Definitionen des Trägers der Menschenwürde. Wer gilt als der genuine Träger von Menschenwürde?   Das ist die Hauptfrage. Ist es das Individuum, jedes Individuum, das als  Träger der Menschenwürde figuriert,  oder ist es ein Gemeinwesen, ein nationales, religiöses oder wie immer  verfaßtes  Gemeinwesen? Wenn das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Individuums nur so lange  für bewahrenswert befunden werden, wie der Kodex einer Gemeinschaft nichts Gegenteiliges  vorschreibt, dann läßt diese  Gemeinschaft allein sich selbst als Träger der Menschenwürde gelten. Und nicht das Individuum.  Nur die Gemeinschaft in ihrer jeweiligen Verfaßtheit hat dann einen bedingungslos zu wahrenden Wert, das Individuum darf dem geopfert werden.  Wo dagegen gerade das Individuum als der genuine Träger von Menschenwürde Anerkennung findet, dürfen sein Leben, seine körperliche Unversehrtheit und anderes mehr für nichts und niemand geopfert werden. Eben diese Idee mutet gleichsam wie der Schlußstein im Gewölbe der abendländischen Kultur an: die Menschenwürde ist stets und ausschließlich die des menschlichen Individuums. Jedes menschlichen Individuums. Daraus erwuchsen so erhabene Prinzipien wie der altenglische Grundsatz „Lieber zehn wirkliche Verbrecher entkommen lassen, als einen einzigen Menschen unschuldig verurteilen“.

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