Andreas Brenner: Leben

Andreas Brenner hat ein sehr lesenswertes Buch über das Leben geschrieben. Er gehört zu den wenigen deutschen Philosophen, die – wenn sie über die Natur philosophieren – mit den Naturwissenschaften selbstbewußt umgehen. Durchaus ein Kenner der einschlägigen naturwissenschaftlichen Theorien, ist er zugleich erfolgreich darum bemüht, diesen Theorien gegenüber einen eigenständigen philosophischen Denkanspruch geltend zu machen. Zumeist verfahren Naturphilosophen nicht so. Sie wollen unbedingt in Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Befunden denken und schreiben, gestatten sich und anderen Autoren ausschließlich Aussagen, die mit solchen Befunden konform gehen, liefern sich philosophisch ungeprüften Begriffsbildungen von Biologen, Chemikern und Physikern aus, um sodann alle eigenständigen Erkenntnisansprüche des philosophischen Denkens zu verfehlen. Man rennt den Naturwissenschaften hinterher, so kommt man sich als Philosoph abhanden. Anders der Autor des neuen  Buches über das Leben. Gleich zu Beginn wird dort der unter Naturwissenschaftlern verbreitete Anspruch, die Natur labormäßig erkennen zu können, gebührend relativiert. „Die Natur kann im Labor schon deshalb nicht erkannt werden, weil sie in der Vorbereitung für die Untersuchung im Labor präpariert und damit zu einem gewissen Grad entnaturalisiert wird.“ (S. 15).

Im Weiteren geht Brenner vielfältige philosophische und biologische Theorien des Lebens durch, die ideengeschichtlich Furore gemacht haben. Er tut dies auch in einer kritisch prüfenden Weise. Auf ein Ergebnis seiner Prüfung will ich etwas näher eingehen. Es betrifft einen Gedankengang, der eine erstaunliche Wendung nimmt.

Zunächst stellt Brenner mehrfach ein Erklärungsdefizit fest.  An den zügig und wohlkonturiert von ihm vorgestellten Theorien macht  er wiederholt aus, daß sie bei allen Erkenntnisvorteilen doch eine Erklärungslücke hinterlassen. So etwa die teleonomische Theorie des Lebens, die auch „Programmtheorie“ genannt wird. Sie sieht alles Leben einem Programm, einer verborgenen Vorschrift folgen. Man meint, dabei an den sogenannten genetischen Bauplan von Lebewesen, an den Genotypus, der den Phänotypus weitgehend, wenngleich keineswegs hinlänglich  „programmiert“, denken zu dürfen. Diese Vorstellung nun hinterlasse besagte Erklärungslücke. Die Programmtheorie hat nämlich „die Frage vollkommen ausgeblendet, wer denn das Programm geschrieben hat.“ (S. 72). Das Programm und mithin der programmierte Lebensprozeß bleiben unerklärt.

Sodann wird  die Erklärungslücke, inspiriert nicht zuletzt von der Theorie der Synergetik, geschlossen: „Wir können nun also festhalten: Leben ist ein selbstorganisiertes System, wobei das Selbst erst durch den Vorgang des Lebens selbst entsteht.“  (S. 72).  An die Stelle eines unerklärt bleibenden Programms tritt die „Selbstwerdung“ des vitalen Selbst.

Schließlich die angekündigte  erstaunliche Wendung des Gedankengangs: Gerade die  Einsicht, die das Erklärungsdefizit eben noch getilgt hat – die Einsicht in die „Selbstwerdung“ des vitalen Selbst – läßt das Leben zugleich wieder in gewisser Hinsicht oder in gewissem Maße unerklärlich dastehen. „Wenn  man lebende Organismen als Selbste betrachtet, dann betrachtet man sie zugleich als nicht herstellbar und als nicht völlig erklärbar. Ein Selbst ist nicht herstellbar, weil – dies ist die Lehre aus der Autopoiesistheorie – es durch Selbstwerdung wird. Was durch Selbstwerdung wird, das ist auch nicht völlig aufklärbar, es bleibt mithin immer ein Rest, nennen wir ihn Geheimnis, der nicht geklärt werden kann, da er im Dunkeln des Selbst liegt. Mit der Unerklärbarkeit des Lebendigen rückt auch die Frage nach seinem Sinn ins Dunkel. … Anders als das tote Artefakt stiftet das Lebendige nämlich Sinn. Was aber selbst Sinn stiftet, kann in seinem Sinn nicht vollständig erfaßt werden, da dazu auch die sinnstiftenden Momente des jeweiligen Selbst im aktuellen Vollzug mitbegriffen werden müßten.“  (S. 75). –  Eine ebenso folgerichtige wie doch paradoxe Wendung.

Andreas Brenner: Leben, Reclam Verlag, Stuttgart 2009, 113 S.
Foto: Tabitha Hart

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