Gewissen – anders als der innere Gerichtshof

Kants Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof ist berühmt, sie bewegt sich aber nicht auf der Höhe seines Kategorischen Imperativs.

Ein Gericht urteilt und verurteilt nach einem Gesetz, das es nicht selbst gegeben hat. Bei der in modernen Gesellschaften üblichen Praxis jedenfalls ist das Gericht nicht zugleich Gesetzgeber. Der Gesetzgeber ist eine andere Institution. Insoweit wird das Gericht von Fremdgesetzgebung, von Heteronomie geprägt. Das gilt uneingeschränkt auch für den inneren Gerichtshof, den Kant das Gewissen nennt.

Anders beim Kategorischen Imperativ. Der soll Kant zufolge die sittliche Selbstgesetzgebung, Autonomie verbürgen. Indem wir unsere Handlungen daraufhin prüfen, welchen Maximen sie folgen, und die Maximen wiederum darauf befragen, ob wir sie gegebenenfalls zu allgemeinverbindlichen Gesetzen erheben könnten, agieren wir selbst als virtuelle Gesetzgeber. So beurteilen wir unsere Handlung nicht nach einem vorausgesetzten, fremdbestimmten Kriterium, sondern nach einem selbst gesetzten Maßstab. Die Maxime, von der wir selbst wollen könnten, daß sie unter Umständen auch als ein Gesetz für alle zur Geltung gebracht werde – das ist ein weitgehend von uns selbst bestimmter Maßstab.

Das ist auch der Punkt, weshalb ich meine, Kants Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof bewegt sich nicht auf der Höhe seines Kategorischen Imperativs. Dieser steht eher für Autonomie, für ein Urteilen über Handlungen, das seine Maßstäbe im gewissen Sinne durchaus selbst bestimmt. Jene Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof dagegen steht eher für Heteronomie, für ein Urteilen über Handlungen, das seine Maßstäbe, die Gesetze, gerade nicht selbst setzt, sondern von einem fremden Subjekt vorgesetzt bekommt. Es kann einfach nicht einleuchten, mit welchem Recht man das Gewissen, diese so subtile Instanz, weit unter dem Autonomieanspruch des Kategorischen Imperativs verorten will.

Gerade das Urteilen im Sinne des kategorischen Imperativs trägt doch den Charakter jener moralischen Vergewisserung, die der Begriff des Gewissens intuitiv assoziiert. Was verdiente mehr den Namen „Gewissen“ als ein Vorgang, bei dem das Individuum ganz auf sich selbst verwiesen ist, indem es sich nicht nur seiner Handlungen zu vergewissern hat, sondern sich auch noch der Beurteilungskriterien vergewissern muß?

Deshalb neige ich seit langem zu folgender Auffassung. Das gewissenhafte Verhalten läßt sich nicht einfach auf ein pflichtgemäßes Verhalten reduzieren. Das Gewissen muß letztendlich an moralische Autonomie gebunden werden, an ein Urteilen in der Weise des kategorischen Imperativs. Zumindest muß das für ein vollentwickeltes Gewissen ausbedungen werden.

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