Vitalisten sehen das Leben an eine ihm eigentümliche Kraft wie an eine notwendige Bedingung gebunden. An eine eigentümliche Kraft – das heißt, an eine auf Energie, auf physikochemische Kraft nicht reduzierbare. Ältere Vitalisten nannten sie „vis vitalis”. Eine Bezeichnung, die der aufgeklärten Naturwissenschaft auf immer suspekt bleiben mußte, war sie doch der Alchemie entlehnt. Jüngere Vitalisten, auch Neovitalisten genannt, gaben die dubiose Anleihe auf und suchten jene eigentümliche Kraft philosophisch zu begreifen. Der Naturphilosoph Hans Driesch begriff sie als Entelechie, worunter er ganz aristotelisch das verstand, was sein Ziel in sich trägt.[1] Henri Bergson brachte sie auf den Begriff „élan vital”.[2] Jahrzehnte zuvor hatte Eduard von Hartmann sie schlicht als Lebenskraft gefaßt.[3] Die Fügung der Worte „Leben” und „Kraft” zu „Lebenskraft” soll ein gewisser Casimir Medicus 1875 in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt haben. Sie steht keineswegs synonym zu dem alchimistischen Ausdruck „vis vitalis”. Letzterer Ausdruck meint genau genommen eine Leben stiftende, Leben gebende und in diesem Sinne belebende Kraft. Also eine hinreichende Kraft. Während „Lebenskraft (vitalitas, Vitalität)” die Kraft des Lebenden meint, die für sein Leben notwendig ausbedungen ist. In diesem Sinne will auch ich von Lebenskraft sprechen. Sie läßt sich nicht mehr auf Energie, auf physikomechanische Kraft reduzieren, gleichwohl sie sich auch aus Energien nährt.
Als Eduard von Hartmann den Begriff der Lebenskraft in sein Philosophieren aufnahm, soll allerdings nach Meinung der meisten Biologen der Vitalismus längst widerlegt gewesen sein, widerlegt durch ein Experiment, das Friedrich Wöhler bereits 1828 durchgeführt hatte. Es war Wöhler gelungen, einen organischen Stoff wie den Harnstoff aus dem anorganischen Stoff Ammoniumcyanat (aus der Reaktion von Kaliumcyanat mit Ammoniumsulfat) zu synthetisieren, ohne daß dabei irgendeine Lebenskraft ins Spiel gekommen sein konnte. Bis auf den Tag gilt diese Synthese von organischen Molekülen aus anorganischen Molekülen in Lehrbüchern und Lexika als Beweis für die Überflüssigkeit der vom Vitalismus behaupteten eigentümlichen Kraft. Zu Unrecht, wie sich eigentlich leicht ersehen läßt. Ganz offenkundig hat Wöhler zusammen mit dem Harnstoff nicht ein Lebewesen aus anorganischen Stoffen zu synthetisieren vermocht, sondern lediglich einen organischen chemischen Stoff. Allein seinen Zeitgenossen konnte das wie eine Synthese von etwas Lebendigem erscheinen, da man seinerzeit den Harnstoff ausschließlich als Ausscheidungsprodukt bestimmter Lebewesen kannte. Selbstredend ist zur Synthese organischer chemischer Substanzen nicht unbedingt eine Lebenskraft von Nöten, aber das brauchte niemandem bewiesen werden, schon gar nicht den erklärten Vitalisten. Die sahen doch nicht organische Moleküle an Lebenskraft gebunden, sondern Zellen. Und daß man Zellen aus anorganischen Molekülen zu synthetisieren vermag, ward weder durch Wöhler noch durch andere Forscher jemals bewiesen. Tatsächlich hat die definitive experimentelle Widerlegung des Vitalismus nie stattgefunden. Unbeschadet dessen wird die Verwerfung des Vitalismus von Biologen und Naturphilosophen bis heute fortgesetzt. Kaum eine systematische Darstellung der Biologie, die es unterließe, diese Verwerfung sonderbar demonstrativ zu bekräftigen.
Was entspricht der Verwerfung positiv, welche positive These vertritt man, wenn man vitalistische Prinzipien verneint? Modernerweise eine, die Ernst Mayr wie folgt ausformuliert. „Heute scheint … Einigkeit über die Natur lebender Organismen zu herrschen. Auf molekularer Ebene folgen alle – und auf Zellebene die meisten – ihrer Funktionen den Gesetzen von Physik und Chemie. Es bleibt nichts zurück, was eigenständiger vitalistischer Prinzipien bedürfte. Doch unterscheiden sich Organismen grundlegend von unbelebter Materie. Sie stellen hierarchisch geordnete Systeme mit zahlreichen emergierenden Eigenschaften dar, die bei unbelebter Materie nie zu finden sind, und was am wichtigsten ist: Ihre Aktivitäten werden von genetischen Programmen gesteuert, die historisch erworbene Informationen enthalten; wiederum etwas, das der unbelebten Natur fehlt.”[4] Man sieht, an die Stelle vitalistischer Prinzipien wird die Verortung des Lebendigen innerhalb einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Organismen und unbelebter Materie gesetzt. Wobei die Organismen durch ihre Unterscheidung von der unbelebten Materie natürlich als belebte Materie unterstellt werden. An die Stelle vitalistischer Prinzipien wird also eine grundlegende Unterscheidung zwischen belebter Materie und unbelebter Materie gesetzt. Und die Tiefe des Unterschiedes der belebten Materie zur unbelebten werde durch nichts deutlicher angezeigt als durch den Dualismus von Genotyp und Phänotyp, wie es bei Mayr weiter heißt. Nebenbei gesagt, nach einer verbreiteten Definition des Vitalismus, wie sie unter anderem John Maddox gegeben hat, müßte die herausgekehrte Unterscheidung auch noch als vitalistisch verworfen werden. Maddox zufolge ist Vitalismus die „Anschauung, daß sich belebte Materie wesensmäßig von unbelebter Materie unterscheidet.” [5] Hieran gemessen, scheint noch Mayrs Auffassung vitalistisch auszufallen. Aber das liegt an der Definition, sie greift zu kurz. Die Verortung des Lebendigen innerhalb einer Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Materie gibt sehr wohl die Positivform zur Verneinung des Vitalismus her.
Betrachten wir die Unterscheidung genauer. Sie besagt, es gäbe zwei Arten der Materie, unbelebt die eine, belebt die andere. Sie unterstellt damit ferner, Leben sei eine Form von Materie, Lebendigkeit eine Form von Materialität, Lebensprozeß eine Form von materiellem Prozeß. Es wird gewissermaßen jene Beziehung, die zwischen atomaren und molekularen Körpern in der Tat besteht, zu den Zellen hin verlängert. Wie die atomaren und molekularen Körper tatsächlich nur verschiedene Ausformungen der Materialität darstellen, so die Zellen eine weitere Ausformung davon. Dieserart hat man Lebendiges und Lebloses in einer Weise geschieden, die nicht nur gewohnheitsmäßig als Unterschied bezeichnet wird, sondern den Terminus „Unterschied” auch in dem von mir durchgängig gemeinten emphatischen Sinne verdient. Im Sinne der Geschiedenheit unter Einem, im Sinne einer dem Einen untergeordneten Differenz. Wodurch das Eine als Dasselbe, als das Identische des Geschiedenen figuriert. Bei der fraglichen Unterscheidung ist dieses Eine, unter dem Lebloses und Lebendige geschieden sein sollen, die Materialität. Ja, für Ernst Mayr ist dasjenige, worin Lebendiges und Lebloses identisch sind und was sie lediglich grundunterschiedlich ausprägen, direkt die physikochemische Stofflichkeit und Gesetzlichkeit. Sogar das von ihm besonders herausgestellte Merkmal des Lebendigen, der Genotyp-Phänotyp-Dualismus, sei immer noch „durchweg physikochemisch“.[6] Und die Entstehung des Lebens soll sich seiner Meinung nach „ohne Schwierigkeiten auf der Grundlage physikalischer und chemischer Gesetze erklären” lassen.[7] Die Differenz des Lebenden mit dem Leblosen wird so innerhalb des Physikochemischen gehalten, wird ihm untergeordnet. Wirklich ein bloßer Unterschied, eine subsumierte Differenz. Gegen eben diese Unterordnung des Vitalen unter die physikochemische Materialität hat sich der Vitalismus stets gewehrt, auch wenn Vitalisten gelegentlich so inkonsequent waren, sich der Rede von der belebten und leblosen Materie zu bedienen.
Wie versteht sich die Differenz von Leblosem und Lebendigem in Wahrheit? Um das mit einigen Thesen zu markieren, deren nähere Ausführung alsbald auf dieser Seite zu lesen sein wird.
Belebte Materie gibt es nicht. Die Materien, die es gibt, sind von Haus aus leblos. Sie sind das so unbedingt, daß sie nicht einmal tot sein können und die geläufige Rede von der toten Materie einer contradictio in adiecto gleichkommt. Noch unter einem Titel, der wie „belebte Materie” dem Sinn fürs Eigentümliche des Vitalen entgegenzukommen scheint, werden leibhaftige Lebewesen mißverstanden. Zellen und Organellen, natürliche Gewebe, Fleisch und Blut, Organismen und Organe machen etwas anderes aus als eine besondere Materie, als eine spezifische Form von Materie. Was sie gegen Materie abhebt, ist die Materialisierung. Sie alle bestehen per Materialisierung.
Materialisierung macht stets die Verwirklichung eines Geistes in dem Anderen des Geistes aus. Den Geist gibt es zunächst als spirituellen und sodann als mentalen. Naturhistorisch urtümlich handelt es sich bei Materialisierungen mit Sicherheit um die Verwirklichung eines spirituellen Geistes, noch nicht um die eines mentalen. Und dasjenige, woran dieser Geist eine Verwirklichung erfährt, ist urtümlich die Materie. Der spirituelle Geist, über den mein Notat vom 01. 08. 2009 handelt, ist uns vor allem in einer Gestalt bekannt: als spiritus rector. Die Naturwissenschaften verhandeln ihn zumeist in einer arg reduzierten Form. Sie reduzieren ihn für gewöhnlich auf Information, nennen ihn dann „genetische Information”, „Erbinformation” und dergleichen. Oder sie umschreiben ihn bloß metaphorisch, etwa als „Nuklein-Protein-Wörterbuch”. Tatsachlich, nicht bloß cum grano salis, handelt es sich bei ihm um einen richtiggehenden, übersinnlichen Geist, um einen, der sich an bestimmten sinnlichen Materien (DNA) als deren ideelle Bedeutung darstellt, statt lediglich als deren Informationsgehalt.
Alle Lebensprozesse machen – nach einer Seite hin – Materialisierungen des spiritus rector an und mittels molekularer Materien aus. Und gerade diese Materialisierung führt zu etwas anderem als zu Materien, auch wenn das einer geläufigen Vorstellung von Materialisierung nicht einleuchten mag. Man greift das Wort „Materialisierung” verkantet auf, wenn man es mit der Erwartung eines Entstehens von überformter oder verformter Materien verbindet. Die Materialisierung darf eben nicht mit der Materialisation verwechselt werden. Was Materien eintreten läßt, gleichsam in Materien mündet, ist die Materialisation. Dem entspricht auch ein unter Physikern verbreiteter Gebrauch des Wortes „Materialisation”; das unvermittelte Erscheinen von Materien nennen sie „Materialisation”. Die Materialisierung hingegen, die ja stets nur die eines Geistes ausmachen kann, entläßt etwas anderes als Materien, läßt Materiaturen eintreten.
Die Verwirklichung des spiritus rector an und mittels Materien beschränkt sich nämlich nicht auf eine bloße Veränderung von molekularen Materien, sie macht vielmehr eine Verwandlung von Materien aus, deren Verwandlung in Materiaturen. Jede Veränderung verschafft einem bestehenden Wesen lediglich eine neue Ausprägung oder Ausformung, eine abermals andere Variation und Modifikation. Sie setzt damit dieses Wesen als beharrende Konstante, als identisches Wesen. Anders die Verwandlung. Statt ein gegebenes Wesen lediglich neu auszuprägen, bringt sie ein neues Wesen hervor. Das Wesen des Verwandelten gerät zum marginalisierten Moment eines neuen Wesens. So auch bei der Verwirklichung des spiritus rector an und mittels Materien. Weil sie zwar an Materien geschieht, aber doch Geist verwirklicht, verwandelt sie die einbezogenen Materien. Und diese Verwandlung geschieht unentwegt, in jedem Lebensmoment. Jeder Atemzug, jedes Nähren, jede Fotosynthese usw. stellt eine solche Verwandlung dar.
Zellen, natürliches Gewebe, Fleisch und Blut, Organismen und Organe, leibhaftige Lebewesen machen also Materiaturen aus statt Materien. Lebloses und Lebendiges stehen insoweit wie Materie und natürliche Materiaturen zueinander. Die von Haus aus leblosen physikochemischen Materien einerseits und die unbedingt vitalen natürlichen Materiaturen anderseits, so gilt es zu scheiden.
Ein beliebter Einwand lautet: Lebewesen wie die Zellen bestünden doch aus materiellen Molekülen und könnten sich daher höchsten durch gewisse emergente Eigenschaften von diesen unterscheiden. In der Ausführung obiger Thesen wird gezeigt werden, wie wenig die Zellen aus Molekülen bestehen, wie sehr deren Beziehung zu den Zellen eine ganz andere ist.
Materiaturen sind weder materiell noch immateriell, sie machen etwas dazu Neutrales aus: das Leibliche.
Die Kernthese einer Kritik an der Kritik des Vitalismus muß lauten: Die Unterscheidung zwischen Leblosen und Lebendigem ist reduktionistisch. Mit anderen Worten, reduktionistisch ist die Verortung des Lebendigen in der Unterscheidung zwischen unbelebter und belebter Materie – einer Unterscheidung, die in der an ein hölzernes Eisen erinnernden Begriffsbildung „belebte Materie” eklatiert.
[1] Hans Driesch, Die Maschine und der Organismus, Leipzig 1935.
[2] Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S. 93 ff.
[3] Eduard von Hartmann, Mechanismus und Vitalismus in der modernen Biologie, Archiv für systematische Philosophie, S. 331 ff, 339 ff.
[4] Ernst Mayr, Das ist Biologie, Heidelberg – Berlin 1998, S. 44 f.
[5] John Maddox, Was zu entdecken bleibt, Frankfurt am Main 2000, S. 149.
[6] Ernst Mayr, a. a. O., S. 45.