Wie Immanuel Kant die Dialektik ausgelegt hat, beschreibt auf dieser Seite ausführlich der Eintrag vom 31. Dez. 2011. Danach besteht der dialektische Prozeß, den Kant unter dem Titel „transzendentale Dialektik“ vorstellt und den er als Autor in und mit seinem Text ja eigens durchläuft, in folgender Bewegung der Vernunft: Die Vernunft, die nicht anders anheben kann als auf dem Niveau einer „gemeinen Menschenvernunft“, verwickelt sich als solche unvermeidlich in antinomische Widersprüche, angesichts derer sie genötigt ist, sich selbst zu überprüfen, ihre spontanen Grundannahmen zu hinterfragen, um schließlich diese Annahmen als falsch zu erkennen, sie durch richtige zu ersetzen, vermittels dessen die Antinomien zu beheben und auf diese Weise über sich hinauszuwachsen zu einer selbstfundierten Vernunft. So weit war der bereits präsentierte Text gekommen. Der nachstehende Eintrag gibt dazu eine Ergänzung.
DAS SYNTHETISCHE VERFAHREN. Kants Auslegung der Dialektik wirkt fort. Am wirkungsmächtigsten tut sie das allerdings nicht mit ihrem zielartigen Anspruch, daß sich die Vernunft mit transzendental idealistischen Einsichten selbst fundiere. Was Kants Nachfahren vielmehr fortsetzen, ist sein Denken in Antinomien. Dabei bleibt das Fortgesetzte nicht unverändert, es erfährt sogar erhebliche Veränderungen, die von ihren Akteuren auch noch als Weitentwicklung präsentiert werden. Das beginnt schon im Philosophieren von Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814). Das Denken der vorzugsweise als „Widerstreit“ bezeichneten Antinomien wird von ihm zu einem Verfahren ausgebaut, das er das „synthetische Verfahren“ oder die „synthetische Methode“ nennt. Dabei verlängert er die Ableitung von Thesen und Antithesen zu einem sogenannten Dreischritt, zur Triade: These – Antithese – Synthese. Statt wie Kant den Widerstreit durch ein Hinterfragen, durch Aufdeckung seiner unbewußten Voraussetzungen auflösen zu wollen, gelte es, nach einer Synthese der einander widerstreitenden Gegensätze zu suchen. Diese Synthese heißt bei Fichte zumeist „Vereinigung der Gegensätze“. In jedem Fall soll die Vereinigung von Gegensätzen in etwas aufgefunden werden, das etwas – im Vergleich mit den beiden Gegensätzen – Drittes ausmacht. Unter Umständen kann das Dritte in einem Mittelglied bestehen, das es zwischen die Gegensätze, zwischen These und Antithese einzuschieben gilt bzw. das zwischen ihnen schon immer vermittelt.
EMPFINDEN – THESE, ANTITHESE, SYNTHESE. Fichte arbeitet das synthetische Verfahren vornehmlich in zwei Fassungen seiner Wissenschaftslehre aus, in den „Grundlagen“ und dem „Grundriß“ dieser Lehre (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin 1845, S. 83 ff; Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, a. a. O. S. 329 ff). Die dort angestellten Untersuchungen kreisen um das Ich und das Nicht-Ich. In deren Konfiguration findet sich das Empfinden eingelassen, an dessen Untersuchung sich besagtes Verfahren exemplarisch erläutern läßt. Auf das Empfinden angewandt, stellt sich die synthetische Methode folgendermaßen dar. Erstens. Es fragt sich, wie Empfinden möglich ist, was dafür notwendig ausbedungen ist. Auf dem Wege einer Analyse ergibt sich: Wenn überhaupt, so sei Empfinden möglich nur unter der Bedingung, daß es „Tätigkeit (des Ich) und zugleich Leiden“ ist, etwas Aktives ebenso wie etwas Passives. Ausdrücklicher formuliert, das Empfinden muß ein Tun und also kein Erleiden ausmachen – so lautet die These – und es muß ebensogut – das besagt die Antithese – ein Erleiden und mithin kein Tun ausmachen. Zu dieser Konditionierung des Empfindens müsse gerade die folgerichtig durchgeführte und die Sache selbst ergreifende Untersuchung gelangen. Zweitens. Fichte argwöhnt nun nicht, der offenkundige Widerstreit in den Bedingungen der Möglichkeit von Empfindungen sei womöglich nur einer stillschweigend gemachten falschen Voraussetzung geschuldet, die lediglich ausgetauscht zu werden braucht, vielmehr sucht er die Lösung des Widerstreits in einer Synthese, in der Vereinigung der einander widerstreitenden Bedingungen. In dieser Suchrichtung verlängert sich die Frage, wie Empfinden möglich sei, zu der weitergehenden Frage, worin die einander widerstreitenden Bedingungen des Empfindens, ein Tun und ebensogut ein Erleiden sein zu müssen, vereinigt und in Einem erfüllt sein mögen. Pointierter gesagt: Was ist das bestimmte Tun des Ich, das selbst schon ein bestimmtes Erleiden an sich hat? Was ist das bestimmte Tun des Ich, das ein bestimmtes Nicht-Tun einschließt? Drittens. Das gesuchte Tun findet Fichte in einer Tätigkeit des Ich, die er „Begrenzung“ nennt. Gemeint ist die Begrenzung des Ich gegen das Nicht-Ich und umgekehrt. „Begrenzung“ bedeutet mehr als schlichte Unterscheidung; unterschieden sind Ich und Nicht-Ich ohnehin. „Begrenzung“ bedeutet auch mehr als Entgegensetzung; einander entgegengesetzt sind Ich und Nicht-Ich ebenfalls ohnehin. Die gemeinte Begrenzung besteht vielmehr darin, daß das Entgegengesetzte des Ich, das Nicht-Ich, nachgerade zu seinem Gegenstand (im Sinne des Objekts) gerät, auf diese Weise aber zum Wahrnehmbaren, Anschaubaren und dergleichen, zum Empfundenen also. Das ist, befindet Fichte, das „gesuchte dritte Glied zum Behuf der Synthesis“, das „dritte Glied, durch welches der aufgezeigte Widerspruch behoben und die Empfindung, als Vereinigung einer Tätigkeit und eines Leidens, möglich werden soll.“ (a. a. O. S. 346). Denn die Begrenzung ist in der Tat beides in einem: eine Tätigkeit des Ich, aber doch eine, die eben diese Tätigkeit begrenzt und gerade dadurch die Begrenzung auch erleidet.
EINE KETTE VON TRIADEN. Die Untersuchung eines Gegenstandes geht – kraft des an ihm aufgedeckten Widerstreits – von sich aus über sich hinaus, indem sie zu einem Dritten führt, das die einander widerstreitenden Bestimmungen zu einer Synthese vereinigt. Aber diese Synthese ist keine Endlösung. Näher besehen, erweist sie sich ebenfalls als der Ort eines Widerstreits, für den abermals nach einer Synthese gesucht werden muß. Jede Synthese von Thesen und Antithesen zerfällt ihrerseits in Thesen und Antithesen, die weitere Synthesen erheischen, Jedes Dritte zu zweien zerfällt selbst wider in zwei, die noch ein Drittes heraufbeschwören. Auf diese Weise reiht sich die Untersuchung komplexer Themen zu einer weitläufigen Kette von Dreischritten auf. Sie nimmt die Form einer Entwicklung an, einer Gedankenentwicklung, in der zusammen mit jeder Lösung ein weitergehendes Problem geboren wird, das erneut nach Lösung verlangt. – In diesem Sinne hat Fichte die von Kant gestiftete Denkform des antinomischen Widerspruchs recht weitgehend überformt. Von Hegel wird der Begriff der Antinomie bereits in der durch Fichte aufbereiteten Form aufgenommen. Ähnlich von Karl Marx und anderen materialistischen Dialektikern. Beides wird noch zu zeigen sein.
3 Kommentare
Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
ich war Teilnehmerin an Ihrem Gasthörerseminar „Philosophen der Renaissance“. Leider konnte ich krankheitsbedingt den letzten Termin nicht wahrnehmen.
Darf ich Sie auf diesem Weg bitten, (habe keine andere Möglichkeit gefunden) mir die entsprechenden Unterlagen zukommen zu lassen.
Vielen Dank.
Mit freundlichen Grüßen
Gunhild Beltzner
Die Synthese ist der dritte Punkt darüber.
die unteren zwei Punkte darunter, der linke Punkt und der rechte Punkt.
Diese beiden Punkte stehen für These und Antithese.
Polarität: SPD/CDU, FRAU/MANN Arbeitnehmer/Arbeitgeber)usw.
Kompromisse zwischen diesen beiden Punkten sind nie eine echte Lösung,und führen ausnahmslos zu weiteren Konflikten. Das Ehepaar bedarf einer höheren Aufgabe, zB. Kinder.
„Das Auge Gottes“ Ist zurecht Das These, Antithese, Synthese Symbol. (Sowohl-als-auch auf höherer Ebene)
…aus Zwei mach Drei, und du bist frei… die vier verlier… (Eins ist Keins,so beginnt das Hexeneinmaleins. „Eins“ steht aber auch für Primär Alles.
„Das Ganze ist mehr als die Summe aller Teile“ sagt das selbe mit andern Worten.
Das Auge Gottes auf der Ein(!!!)-Dollar-Note dürfen wir mal ganz salopp etwa so interpretieren: wenn das da oben in Vergessenheit gerät,gibt´s Ärger, und das Kartenhaus fällt zusammen.
Mit freundlichen Grüßen
Helmut Wöhrle-Rohn
Elektriker in Rente
Das mit dem Auge Gottes auf dem Ein-Dollar Schein könnte nach neueren Erkenntnissen auch ein Betrug sein, und das in gigantischer Größenordnung.
Aber alles was mit Gott, Natur oder Universum nicht in Einklang ist verschwindet so oder so.
Angelus Silesius: Mensch werde wesentlich; wenn die Welt vergeht, das Wesen besteht.
– Was nicht Wesen ist, ist Unwesen –
Partei kommt von Partikel oder Teil. nebenbei: Teufel kommt von Teil.
Mephisto: „Ich bin ein Teil des Teils, der ANFANGS EIN GANZES war.
Ein Teil kann niemals ein Ganzes regieren. Erfahrungsgemäß
Ohne Synthese geht gar nicht´s. bezw. „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“
Mit freundlichen Grüßen
Helmut Wöhrle-Rohn