Substanz

Der Gebrauch des Begriffs „Substanz“ folgt zwei verschiedenen Übersetzungstraditionen. Der einen Tradition zufolge bildet „Substanz“ bzw. die (von dem  römischen Rhetoriker Quintilian geschaffene) lateinische Vorgängerlautung „substantia“ direkt das Pendant zu dem griechischen  Wort „ousia“, das vor allem Aristoteles ausführlich expliziert hat, insbesondere in seiner Kategorienschrift und Metaphysik. „Substantia“ = „ousia“, unter dieser Voraussetzung werden dann alle Aussagen, die Aristoteles unter dem  Begriff „ousia“ versammelt hat, als Bestimmungen der Substanz gelesen, gedeutet und gedacht. Nun soll „ousia“ auch soviel wie Wesen bedeuten. Als die eigentliche Entsprechung für den griechischen Ausdruck „ousia“ unterstellt,  wird  darum der Begriff der Substanz in dieser Tradition weithin ungeschiedenen  von dem des Wesens verwandt. – Es gibt noch eine andere Tradition. Deren Ansatz findet  sich ausformuliert spätestens in des Thomas von Aquin Erstlingswerk  „Über das Seiende und das Wesen“.  Danach gilt es, „substantia“ wohlweislich zu scheiden von „essentia“ („Wesen“), von einer  Begriffsbildung also, die auf Cicero zurückgehen soll; Seneca benennt ihn als „Urheber“.[1] Und dem  griechischen Wort „ousia“ entspreche auf seiten des Lateinischen gerade nicht „substantia“, sondern „essentia“. „Usia ist … bei den Griechen dasselbe wie bei uns essentia“, bescheidet Thomas.[2] „Ousia“ = „essentia“, unter dieser Voraussetzung können dann all die Aussagen, die Aristoteles an den markierten Textstellen mit dem Begriff „ousia“ notwendig verknüpft hat, natürlich nicht unbedingt wie Bestimmungen der Substanz gelesen, zunächst einmal können sie nur als Bestimmungen von „essentia“, von „Wesen“ gedeutet werden.  Die Substanz-Begrifflichkeit bietet sich  in dieser zweiten Traditionslinie weniger wie eine Auslegung antik griechischer Texte als vielmehr wie eine eigenständige Schöpfung des lateinischen Philosophierens dar.

Für diese Tradition ist offenkundig die Differenz von „substantia“ und „essentia“ hochbedeutsam. Man muß sich ihrer auch von seiten des Wortes „essentia“ her vergewissern.  Dieses  Wort und das von ihm letztendlich abgeleitete Fremdwort „Essenz“ werden ins Deutsche  zumeist mit „Wesen“ übertragen. Aber geschieht das korrekterweise?  Die fraglichen Worte enthalten „esse“, „sein“. Müssen sie deshalb nicht besser mit „Seiendheit“ übertragen werden? Tatsächlich ist es ideengeschichtlich keineswegs unüblich, „Essentia“ mit „Seiendheit“ zu übersetzen. Allein, wenn man unter „essentia“ und mithin auch unter der Essenz die Seiendheit versteht, fragt sich, welchen Sinn dann noch die ideengeschichtlich bedeutsame Differenzierung und Korrelation zwischen Essenz und Existenz machen können soll. „Essenz und Existenz“ müßte dann wie  „Seiendheit und Existenz“ gelesen werden, und das scheint mir schwerlich einen Sinn zu ergeben. Es gilt, den  Begriff „essentia“ bzw. „Essenz“ unter zwei Bedingungen semantisch auszugestalten. Es muß sowohl die Abkunft von „esse“, „sein“ gebührend in Rechnung gestellt, als auch ein semantischer Abstand zu „Existenz“ eingehalten werden. Beide Erfordernisse lassen sich  zugleich erfüllen, wenn wir Essenz als ein Sosein denken, während „Existenz“ wie gehabt dem Bezeichnen des Daseins überlassen bleibt.  Derlei hatte wohl auch Thomas vor Augen, als er „essentia“ an das Was, die Washeit, die Natur von etwas band, ja an das, „was durch die Definition des Dinges bezeichnet wird“.[3] Dies meinend, kann „essentia“  sehr wohl mit „Wesen“ übertragen werden, ohne daß das seiner Abkunft von „esse“ Abbruch tut.

Ich habe mich entschieden, der zuletzt nachgezeichneten Traditionslinie zu folgen. Im Anschluß an Thomas sollen „Substanz“ und Akzidenz“ – im denkbar einfachen Wortsinn – folgendes bedeuten. Eine Substanz macht dasjenige aus, das von sich aus besteht (per se subsistit), das ein Durch-sich-Sein (per se esse) aufweist, einen Selbstand, wie man das  später häufig formulieren wird, also dasjenige, das nicht bloß an etwas, sondern per se ist. Eine Akzidenz dagegen macht dasjenige aus, das nicht per se ist, sondern nur an etwas besteht und darum lediglich „in einem abgeleiteten und gleichsam eingeschränkten Sinne“ seiend ist.

Das, was nicht bloß an etwas ist, was vielmehr per se besteht – so etwas kannte freilich auch schon  Aristoteles. Er führte es allerdings nicht direkt unter dem begrifflichen Titel „ousia“ auf, erst recht nicht verständlicherweise unter dem zu seiner Zeit noch gar nicht vorhandenen Titel „substantia“, sondern unter dem des ersten Seienden. Als erstes Seiendes, heißt es,  kann  das ausgezeichnet werden, was „nicht nur an etwas ist, sondern was schlechthin ist.“[4]

Unter dem Begriff „ousia“ denkt Aristoteles etwas, dem er recht vielfältige Bestimmungen abzugewinnen versucht und vermag. Nach einer Seite hin könne und müsse es als das Zugrundeliegende (hypokeimenon) bestimmt werden. „Ousia im sehr strengen und ersten und eigentlichen Sinne wird das genannt, was weder über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist, wie z. B. dieser bestimmte Mensch, dieses bestimmte Pferd.“[5] Was aber weder über ein Zugrundeliegendes ausgesagt werden kann noch in einem Zugrundeliegenden ist, bei dem handelt es sich  offenkundig um das Zugrundeliegende selbst. „Ousia“ meint in der Tat das Zugrundeliegende.  Es fragt sich nun, ob die Substanz – im Gefolge der dargelegten  Scheidung von den   Akzidenzen – gleichfalls als das Zugrundeliegende qualifiziert werden muß.  Muß es nicht heißen, jede Substanz liege ihren Akzidenzen zugrunde? Das muß es nicht. Einmal von der Sache her nicht: Eine Beziehung  des Zugrundeliegens ist in den einfachen Substanz-Akzidens-Bezug keineswegs notwendig eingeschlossen. Zum anderen von der Etymologie her nicht: Die eigentliche Entsprechung zum griechischen Ausdruck „hypokeimenon“ lautet „Substrat“ und nicht „Substanz“ Das Substantiv „Substrat“ leitet sich von dem Verb „substernere“ („substerno“) her, und das bedeutet unterlegen, unterbreiten, darunter streuen. Das Zugrundeliegende ist das Substrat, nicht die Substanz. Es sei denn, eine Substanz figuriert obendrein als Substrat.


[1] Seneca, Ep. 58, 6.

[2] Thomas de aquino, De ente et essentia 9.

[3] Thomas de aquino, De ente et essentia 8.

[4] Aristoteles, Met. 1928a, 30 f.

[5] Aristoteles, Kat. 2a 11 ff.

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