EIN TYPISCH DIALEKTISCHER GEDANKENGANG. Er findet sich bei Platon unter anderem in einer längeren Passage des Dialogs „Parmenides“, innerhalb der Unterredung, die dort das gleichnamige Haupt der eleatischen Schule mit dem jungen Aristoteles führt. Die Unterredung handelt vom Einen. Vorausgesetzt wird, daß dieses Eine ist, daß es existiert, Dasein hat, ein Seiendes ausmacht. Sodann gilt es herauszufinden, was alles darin liegt, daß das Eine ist. Dabei erweist sich folgendes. Wenn das Eine ist, so liegt darin sowohl das Eine als auch, daß es ist. Im Sinne des Soseins und Daseins müssen das Eine und sein Dasein in der Tat auseinander gehalten werden. „Also gibt es ein Sein des Einen, das nicht einerlei ist mit dem Einen.“ (Parmenides 142 b). Wenn das Eine existiert, dann liegt darin sogar ein Unterschied, der Unterschied zwischen dem Einem einerseits und seinem Dasein, seinem Existieren andererseits. Der Unterschied nun scheidet notwendig Vieles, setzt Vielheit. Das heißt, wenn das Eine ist, so ist es notwendig in sich unterschieden und mithin Vieles. Das Eine ist ebensogut Vieles. Im nächsten Schritt ergibt sich noch mehr. Wenn das Eine ist, dann ist es notwendig auch nicht Eines (sondern Vieles). Schließlich zeigt der Gesprächsführer seinem jungen Partner noch, wie sehr nicht nur das als seiend vorausgesetzte Eine so beschaffen ist; auch wenn man von seinem Existieren absieht und es allein als es selbst betrachtet, stellt es sich so dar. „Nicht nur das seiende Eine ist Vieles, sondern auch das Eine selbst, das gegen das Sein abhebende Eine ist notwendig Vieles.“ (Parmenides 144 e). Soweit der Gedankengang. Was charakterisiert ihn? Kurz gesagt handelt es sich bei ihm um einen Fall von Erkennen rein in Begriffen, das als solches folgerichtig in gegensätzlichen und widersprüchlichen Bestimmungen des zu Erkennenden gipfelt.
ERKENNEN REIN IN BEGRIFFEN. Zu solch einem Erkennen läßt Platon seinen Parmenides ausdrücklich auffordern. Wenn das Eine ist, hatte der vorab schon geboten, dann haben wir zu ermitteln, was eben daraus für das Eine folgt, was aus dem einmal gebildeten Gedanken, daß das Eine sei, für das Eine folgt; und alles, was daraus folgt, haben wir dem Einem allen Ernstes zuzugestehen, wie auch immer es ausfallen mag (Parmenides 142 b). Es konnte also nicht darum gehen, dem Begriff des Einen einfach etwas hinzuzufügen, ihn mit etwas zu verknüpfen, das nicht aus dem Sein des Einen folgt, oder ihn zu klassifizieren und mit Beispielen zu veranschaulichen. Es gilt das Eine selbst zu erkennen, und dazu muß der einmal gebildete Gedanke, daß das Eine ist, seinerseits durchdacht werden. Er muß daraufhin durchdacht werden, was in ihm liegt, was er – zeitgenössisch gesprochen – impliziert und wie er darum zu explizieren ist. So wird ein Erkennen rein in Begriffen vollzogen. Und in genau der Weise wird dialektisch vorgegangen. „Dialektik“, „dialektische Wissenschaft“, „dialektisches Verfahren“, „Kraft der Dialektik“ nennt Platon das Erkennen rein in Begriffen. Ein Erkennen, wie wenn einer eine „Rede“ hält und dabei ja versucht, „ohne alle Wahrnehmung, allein mittels des Wortes und des Gedankens auf das zu zielen, was ein Jegliches selbst ausmacht.“ Dieser „Weg“ wird „der dialektische“ genannt (Politeia, 532 a – 532 b). Man mag zu bedenken geben, die gegebene „Definition“ von Dialektik mute eher unspezifisch an, lasse alles vermissen, was sich einem intuitiv oder per Vorwissen mit dem Begriff der Dialektik verbindet, wie etwa das Denken von Widersprüchen. Um so interessanter zu sehen, wie Epochen später noch Hegel die Dialektik ganz ähnlich bestimmen wird. Die „reinen Gedanken an und für sich betrachten, heißt Dialektik“, bekennt er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, und „der Begriff der wahrhaften Dialektik ist, daß sie die notwendige Bewegung der reinen Begriffe aufzeigt.“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. II, Leipzig 1982, S. 47, 51). Das Erkennen rein in Begriffen darf natürlich nicht mit der sogenannten Begriffsdialektik, mit einem hohlen Hin und Her von leeren Begriffen verwechselt werden. Tatsächlich handelt es sich bei ihm um ein richtiggehendes Erkennen von etwas. Auch wenn rein in Begriffen erkannt wird, ist es doch stets etwas, das dabei auf den Begriff gebracht wird, etwas wie Pflanzen, Tiere, Artefakte, Gestirne oder das Gute, um nur die Beispiele zu erwähnen, die Platon gelegentlich in diesem Zusammenhang gegeben hat. In seiner Sicht wird rein in Begriffen gerade das Wesen (ousia) der Dinge erfaßt. Erkennen rein in Begriffen ist somit Erkennen rein von Wesenheiten. Das ist Dialektik. Darum meint Platon auch, den Dialektiker schon dadurch trennscharf charakterisieren zu können, daß er ihn als denjenigen auszeichnet, der „von jeglichem den Begriff seines Wesens (ousias) faßt.“ (Politeia 534 b). Rein in Begriffen erkennend, werde das Wesen der Dinge erfaßt, und auf diese Weise erschließt man sich „die Dinge selbst„. Das Wesen der Dinge bestehe nämlich in dem, was diese Dinge selbst sind. Davon nicht zu trennen aber doch zu unterscheiden ist, was sie nicht selbst sind, sondern was sie für-anderes sind, was sie nicht zuletzt für-uns sind. Darin erscheinen sie, treten sie in Erscheinung. Die Erscheinung als das, was etwas in Bezug auf etwas anderes ausmacht, für-anderes – das Wesen als das, was es selbst ausmacht. Gerade das nun, was ein Jegliches wesensmäßig ausmacht, was es selbst ist, sucht keine andere Wissenschaft als die dialektische ordentlich zu finden, heißt es ganz dezidiert (Politeia 533 b). Sie sei das Vermögen, „auf die Tiere selbst zu schauen und auf die Gestirne selbst, schließlich sogar auf die Sonne selbst“ (Politeia 532 a).
Das Eigentümliche dieses Erkennens und das Dialektische daran besteht mithin keineswegs in irgendeinem Absehen von den Dingen und in irgendeiner Selbstgenügsamkeit von begrifflichen Formen, es besteht vielmehr in einer bestimmten Art und Weise, wie man von einem Begriff zum anderen, von einer Aussage zur nächsten übergeht, das heißt: von einer Wesensbestimmung des Erkenntnisgegenstandes zur weiteren. Dialektisch ist ein Übergehen, bei dem Begriffe nicht nur auf Begriffe, Aussagen nicht nur auf Aussagen folgen, sondern aus Begriffen und Aussagen. So also, daß der eine Begriff und Gedanke den anderen impliziert und dieser jenen expliziert. Diese Art der Folgerung hebt sich übrigens deutlich von syllogistischen Schlüssen ab. Bei dem syllogistischen Schluß „wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, so muß Sokrates sterblich sein“ folgt keineswegs aus der einen Prämisse die andere. Beide werden schlicht vorausgesetzt und als solche lediglich nach einer Regel verknüpft, gleichsam zusammengeschraubt. Deshalb fallen die Schlußfolgerungen regelmäßig auch so banal aus; Sokrates ist sterblich, wer hätte das gedacht! Wirklich dezidiert in Begriffen zu erkennen vermag man nur, wenn man sie auseinander folgen läßt, von der anfänglich zu machenden Voraussetzung einmal abgesehen. Es ist das Erkennen rein in Begriffen mit der ihm eigentümlichen Art der Folgerung, was bei konsequenter Ausführung stets in gegensätzlichen und widersprüchlichen Bestimmungen des Erkenntnisgegenstandes eklatiert.
ERKENNEN IN GEGENSÄTZLICHEN UND WIDERSPRÜCHLICHEN WESENSBESTIMMUNGEN. Der exemplarisch nachvollzogene Gedankengang innerhalb der Unterredung des Parmenides mit dem jungen Aristoteles führte zu auffälligen Aussagen. Zunächst zu der Aussage, daß das Eine ebensogut Vieles ist. Die Aussage fällt auf, weil sie paradox ausfällt. Paradox, das heißt, sie liegt buchstäblich neben der doxa, neben der herrschenden Meinung. Nach der herrschenden Meinung, dessen hatten der Unterredungsführer und sein Partner sich vorab schon vergewissert, könne das Eine selbstverständlich nicht zugleich Vieles sein. Dagegen geht die Aussage, das Eine ist sehr wohl Vieles. Sie fällt paradox aus, indem sie etwas wie dem Einen seinen Gegensatz zuschreibt. Was bedeutet das: „Gegensatz“? Gegensätze bilden die äußersten Enden auf ein und derselben Abstufungsebene. Wie etwa Bewegung und Ruhe, Teilbares und Einfaches, Absolutes und Relatives oder eben Eines und Vieles. Als äußerste Enden auf einer Abstufungsebene sind Gegensätze dasjenige, zwischen dem der extreme Unterschied besteht, der diametrale. Gegensätze nennt man aber auch diese äußersten Unterschiede selbst, also die Entgegensetzung im Unterschied zu dem Entgegengesetzten, die Gegensatzbeziehung im Unterschied zum Bezogenen. Den deutschen Worten „gegensätzlich“, „Gegensätze“ „Entgegensetzung“ entsprechen in der philosophischen Tradition die Fremdwörter „konträr“, „Konträres“ und „Kontrarität“. Was nun Platon dem Parmenides in den Mund legt, ist nicht einfach die banale Kunde, so etwas wie das Eine und das Viele wäre einander entgegengesetzt, bildete einen Gegensatz. Die Botschaft ist vielmehr, daß etwas notwendig seinen Gegensatz an sich hat. Daß es zugleich das eine und dessen Gegensatz ausmacht. Daß es gewissermaßen in sich gegensätzlich verfaßt ist. Sodann ging der als Beispiel nachvollzogene Gedankengang noch ein Schritt weiter: Das Eine ist ebensogut nicht Eines (sondern Vieles). Damit mündete er bereits in eine widersprüchliche Aussage ein, in die Behauptung eines Widerspruchs. Ein Widerspruch ist das Zugleichbestehen, das Zusammenbestehen von etwas mit seiner Negation. Den deutschen Ausdrücken „Widerspruch“ und „widersprüchlich“ entsprechen in der Tradition die Fremdwörter „Kontradiktion“ und „kontradiktorisch“. Und allein Kontradiktionen verdienen, Widersprüche genannt zu werden, nicht schon das Konträre. Die Kontradiktion ist genau diese Konjunktion, dieses Zusammenbestehen von etwas mit seiner Negation. Den springenden Punkt bildet dabei die Negation. Während bei richtiggehenden Gegensätzen beide Seiten im Grunde positiv bestimmt sind, bezieht der Widerspruch etwas und seine Negation aufeinander. Und ob ein Gegensatz obendrein einen Widerspruch enthält, ob das Entgegengesetzte zu etwas zugleich dessen Negation ausmacht, muß von Fall zu Fall befunden werden. So jedenfalls nach einer modernen Auffassung, nachlesbar vor allem bei Ludwig Wittgestein (Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 127). Platon hingegen scheint stillschweigend vorausgesetzt zu haben, jeder Gegensatz stelle zugleich einen Widerspruch dar und umgekehrt. Wie dem auch sei. Wichtiger ist ohnehin, was er den Parmenides ausdrücklich aufzeigen läßt. Da handelt es sich nicht um die Binsenweisheit, daß sich zu jeglichem eine Negation denken läßt, sondern um die alles andere als banale Einsicht, daß etwas seine Negation an sich hat. Daß etwas nicht nur zu etwas anderem im Widerspruch stehen, sondern selbst in der Art eines Widerspruchs beschaffen ist, in sich widersprüchlich verfaßt ist.. Am Ende kulminiert die gesamte Unterredung in der Behauptung eines geradezu universalen Widerspruchs, in der denkbar weitreichenden und als Zusammenfassung gemeinten Aussage, daß „alles auf alle Weise ist und nicht ist, und scheint sowohl als nicht scheint.“ (Parmenides 166 c). – Nicht allein im Falle des Einen also tendiert begriffliches Erkennen zu gegensätzlichen und widersprechenden Bestimmungen. Es nimmt generell diese Tendenz, und das um so entschiedener, je scharfsinniger es ausgeführt wird. Der Grund dafür ist der: Wenn entlang der Frage gefolgert wird, was in dem einmal angenommenen Gedanken liegt, was er impliziert und wie er im nächsten Gedanken zu explizieren ist, wenn mithin Gedanken nicht nur auf Gedanken folgen, sondern aus Gedanken, dann wird der Erkenntnisgegenstand als in sich unterschieden begriffen. Sein Wesen wird so als das erfaßt, was es ist – in sich unterschieden. Die Unterschiedenheit-in-sich aber wächst zum Gegensatz und Widerspruch aus. Gegensatz und Widerspruch sind Abkömmlinge der Unterschiedenheit-in-sich. Wo das Erkennen nicht bis zu gegensätzlichen und widersprechenden Bestimmungen desselben Gegenstandes gelangt, ist es für Platon bloß nicht konsequent genug durchgeführt worden.
ERFORDERNISWIDERSPRÜCHE UND IHRE LÖSUNG. Bei den einmal gewonnenen gegensätzlichen und widersprüchlichen Bestimmungen hätte Platon weiterdenken müssen, wird Hegel später bemängeln. Weil Widersprüche doch eigentlich zu etwas treiben. Zumindest zu der Frage, auf welche Weise so widersprechende Bestimmungen wie das Sein und das Nichtsein von etwas zugleich bestehen können sollen. In diese Richtung denkt Platon auf einer anderen, eher praktischen Ebene weiter. Vor allem in seinem Hauptwerk „Der Staat“ und dort wieder besonders bei der Konstruktion eines vollkommenen Staatswesens tut er das. Mehrfach arbeitet er für gewisse Institutionen und Funktionsträger dieses Staatswesens heraus, welche Erfordernisse sie zugunsten des Ganzen erfüllen müssen, um dann zu finden, daß die jeweiligen Institutionen bzw. Funktionsträger im Grunde gegensätzliche, ja einander widersprechende Erfordernisse erfüllen müssen. An den betreffenden Textstellen ist er so konsequent, das Problematische der Behauptung von Widersprüchen zu gewahren und sich zu fragen, wie, in welchen Formen die Erfordernisse unbeschadet ihrer Widersprüchlichkeit doch zugleich erfüllbar sind, in Einem sich vollstrecken lassen. Auf diese Weise verfährt er zum Beispiel bei den Wächtern, die das konzipierte Gemeinwesen vor Feinden zu schützen haben (Politeia 374 e – 376 e ). Wieder fragt sich, was in dem einmal angenommenen Begriff liegt, diesmal in dem des Wächters. Welchen Charakter erfordert die Wächterfunktion, welche Gemütsart muß notwendigerweise die Wächter leiten? Sie müssen gegenüber Feinden tapfer, heftig und hart auftreten, kurzum: zornmütig. Das ist das eine Erfordernis. Aber werden sie, diesem Erfordernis genügend, nicht untereinander und zu den eigenen Bürgern allzu heftig sich verhalten? Gegenüber Befreundeten müssen sie sich anders verhalten als gegenüber Feinden, sanftmütig nämlich. Das ist das andere Erfordernis. Sie müssen also „gegenüber allen Befreundeten sanftmütig sein und nur zu den Feinden zornmütig.“ Der dialektische Charakter der Überlegung zeigt sich darin, daß sie es nicht bei der äußerlichen Zusammenstellung der Erfordernisse, bei deren Auflistung gewissermaßen, bewenden läßt, sondern das Problematische ihres Zugleichbestehens gewahrt und sich dem stellt. „Wo sollen wir eine zugleich sanftmütige und zornmütige Gemütsart auffinden? Ist das sanftmütige Naturell doch derjenigen Gemütsart entgegengesetzt, in welcher der hocheifrige Zorn vorherrscht.“ Wie immer bei praktisch zu vollstreckenden Erfordernissen, bildet die Entgegensetzung sogleich einen Widerspruch. Sanftmut ist nicht Zornmut und umgekehrt, beide schließen einander aus sich aus; dennoch gehören sie gleichermaßen notwendig zu der fraglichen Funktion im Gemeinwesen. Platon sieht, wie wenig es angesichts einer solchen Konstellation Sinn macht, eine Einheit der einander widersprechenden Verhaltensweisen zu beschwören. Das Problem besteht ja gerade darin, daß diese Einheit zwar als gleichmäßige Notwendigkeit der Erfordernisse von vornherein besteht, als Zugleicherfüllen der Erfordernisse aber doch erst möglich werden muß. Und wie sie möglich werden kann, heißt für Platon konsequenterweise, welche weitere Beschaffenheit der Seele, welche dritte mentale Qualität das erlaubt. Danach sucht er. Überraschenderweise wirft er dabei auch einen Blick auf gewisse Verhaltensmuster, die unter Haustieren beobachtbar sind. Schließlich und endlich findet er die gesuchte dritte mentale Qualität, welche es ermöglicht, die widersprüchlichen Erfordernisse zugleich zu erfüllen, in der philosophischen Gesinnung. Inwiefern soll eine philosophische Gesinnung das leisten können? Insofern wie sie „lernwillig“ stimme und Lernwille das entgegengesetzte Verhalten zu Freund und Feind erlernbar macht. Gleichviel, ob diese Problemlösung überzeugend anmutet oder nicht – Platons Verweis auf eine mustergültige Ausbildung jener Gesinnung unter Hofhunden wirkt eher irritierend – wichtiger ist die Logik der ganzen Überlegung. Um sie in drei Punkten herauszustellen. Erstens. Hinsichtlich eines bestimmten Handelns in Gesellschaft oder eines bestimmten Erkenntnisprozesse oder aber eines bestimmten historischen Geschehens usw. stellen sich periodisch einander widersprechende Erfordernisse. Sie stellen sich denselben Akteuren. Sie stellen sich ferner als Erfordernisse, die von den Akteuren zugleich zu erfüllen sind, auch wenn sie unter Umständen gegenüber unterschiedlichen Akteuren zu erfüllen sein mögen. Zweitens. Als das Denken eines Erforderniswiderspruchs treibt der Gedanke per se über sich hinaus. Folgerichtig wächst er zu der Frage aus: Wie, wodurch, vermittels welcher Bedingungen kann es möglich gemacht werden, einander widersprechende Erfordernisse zugleich zu vollstrecken? Drittens. Das so Erfragte stellt im Vergleich mit dem Erforderlichen etwas Drittes dar. Es ist die Lösung des Widerspruchs. Lösung aber heißt nicht Beseitigung des Widerspruchs. Sie ist nur die Form, worin sich die Gegensätze bewegen können, worin die problematischen Erfordernisse zugleich erfüllbar werden. Mit ihr ist der Widerspruch erst komplett, erst vollständig verwirklicht, statt beseitigt.
EINE UNZERTRENNLICHKEIT VON GEGENSÄTZEN, DIE DAS MORALISCHE GEBIETEN UND VERBIETEN UNTERMINIERT. Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll“. Seine Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute“ vorstellen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz“, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß“, hier auf Erden jedenfalls (Theaitetos 176 a – 176 b). Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zum Lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zum Hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zum Hassen nicht ausrotten kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden.
VERNUNFT IST VON GRUND AUF DIALEKTISCH. Systematisch verortet wird die Dialektik durch Platon innerhalb einer Unterscheidung von vier Zuständen der Seele. Es handelt sich bei dieser Unterscheidung genauer um eine Abstufung, um eine Unterscheidung von Stufen oder Niveaus des seelischen Vermögens. Am Ende des 6. Buches des Dialogs über den Staat wird sie vorgestellt, ein weiteres Mal noch im 7. Buch der gleichen Schrift. Die erste Stufe des seelischen Vermögens ist danach auf Seiten der Gegenstände mit etwas verknüpft, das der „Schein des Wahren“ genannt wird. Der Schein des Wahren, das sind die Schatten, die wirkliche Dinge werfen, die Spiegelungen, die sie erfahren, der täuschende Glanz, das verführerische Schillern, das Blendwerk. Eine eitle Ausrichtung des Wahrnehmens an bloßen Scheinformen, das macht die erste aus. Die zweite Stufe wird als „Glauben“ an die Sinne qualifiziert. Das ist eine Wahrnehmung wirklicher Dinge, statt bloßer Scheinformen, aber doch in dem Glauben, die wahrnehmbare, sinnliche Gestalt dieser Dinge würde die ganze Wahrheit über sie verstatten. Zusammengenommen bilden die beiden Stufen das Meinen. Der Gegenstand des Meinens sei stets das Wahrnehmbare, das mit den Sinnen faßbare, als dessen Inbegriff „das Sichtbare“ gilt. Gegen das Wahrnehmbare abgehoben wird das Denkbare. Das Denkbare bilde den eigentümlichen Gegenstand des Erkennens. Und unter dem Begriff des Erkennens werden abermals zwei Stufen zusammengefaßt, die dritte und die letzte der angekündigten vier. Die dritte Stufe heißt „dianoia“. Nach der wesentlich durch Kant vollzogenen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft entspricht dem griechischen Wort „dianoia“ im Deutschen am besten „Verstand“ bzw. „Verstandeseinsicht“ oder „Verstandeserkenntnis“. Schließlich die vierte Stufe: das sei die der „noesis“. Im Sinne der schon erinnerten Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft entspricht dem Wort „noesis“ im Deutschen am ehesten der Ausdruck „Vernunft“ bzw. „Vernunfterkenntnis“ oder „Vernunftseinsicht“. Wie wird Vernunft von Verstand qualitativ abgehoben? Verstand wie Vernunft machen Voraussetzungen, müssen das Erkennen bei einer Unterstellung (ypóthesis) anheben lassen, bei noch nicht erwiesenen Annahmen. Sei es, daß ganze Thesen angenommen werden, sei es, daß Wörter mit ihrer spontan gewachsenen Wortbedeutung als angemessene Bezeichnung von Erkenntnisgegenständen unterstellt werden. Verstand und Vernunft gehen mit diesen Voraussetzungen aber höchst unterschiedlich um. Vernunft hebt sie auf, Verstand läßt sie unangetastet. Vernunft hinterfragt sie, Verstand arbeitet umstandslos mit ihnen wie mit fraglosen Gewißheiten weiter. So etwa, indem aus dem Angenommenen spornstreichs praktische Konsequenzen gezogen werden, oder indem es vermessen, klassifiziert und an anschaulichen Fällen demonstriert wird. Vernunft dagegen geht den unausweichlich zu machenden Voraussetzungen auf den Grund, der auch Anfang genannt wird, ergründet sie, um dann von Grund auf, begründet, das Angenommene zu rekonstruieren – Schritt für Schritt und bei jedem Schritt rein in Begriffen. Die Vernunft bedient sich gewisser Hilfeleistungen des Verstandes, aber nur, um seine Erkenntnisschranken zu überschreiten. In summa: die Fixierung auf den Schein des Wahren, der Glaube (an die Sinne), der Verstand, die Vernunft – das ist die Architektur der seelischen Vermögen. Sie versteht sich offenkundig als ein Niveaugefälle, das von niedersten bis zum höchsten Vermögen reicht. Und als das „höchste Vermögen der Seele“ rangiert die Vernunft. Innerhalb dieser theoretischen Abstufung findet, wie gesagt, der Begriff der Dialektik durch Platon eine systematische Verortung. Er wird einem der unterschiedenen Vermögen der Seele zugeordnet. Der Vernunft wird er zugeordnet. Dialektik gilt danach als das „Vermögen“ und „Verfahren“, dessen man sich bedienen muß, um zur Vernunfteinsicht zu gelangen. Sie verhält sich zur Vernunfterkenntnis wie die passende logische Form zum anspruchsvollsten Erkenntnisinhalt. Wer nicht dialektisch denkt, erkennt natürlich auch etwas, aber doch so, daß er sein Vernunftvermögen brach liegen läßt und es nur bis zur Verstandeseinsicht bringt. Damit ist auch gesagt daß Platon die Dialektik als eine bestimmte Erkenntnisweise konzipiert. Als die gewissermaßen vernünftige Erkenntnisweise. Ob nicht allein das Erkennen dialektisch ausfallen kann, ob auch die Gegenstände des Erkennens selbst schon etwas Dialektisches an sich haben könnten, hat er sich wohl niemals auch nur gefragt. Diese Frage muß noch bis zu einer Zeit, da sich die Schule der Neuplatonismus etabliert, darauf warten, gestellt zu werden. Der Neuplatoniker Proklos wird sie bejahend beantworten.
EINE ERKENNTNISWEISE ALS UNTERREDUNGSKUNST. Unser Wort „Dialektik“ leitet sich von der griechischen Wortbildung „dialektiké“ her. In nachlesbarer Weise hat die antike Wortbildung zuerst Platon als Adjektiv und Substantiv verwendet, das heißt in einer zum Fachwort, zum Terminus tauglichen Form. „Dialektiké“ wiederum ist eine Ableitung aus dem von Platon schon vorgefundenen und auch weiter verwendeten Ausdruck „dialegisthei“. Herodot, Thykidides und Georgias sollen ihn im Sinne von „sich unterreden“, „eine Unterredung führen“ gebraucht haben. Davon abgeleitet, muß das durch Platon zum Fachwort erhobene „dialektiké“ irgendwie Unterredung meinen. Noch heute bedeutet es in der Fügung „dialektiké techne“ soviel wie „Kunst der Unterredung“ (lat.: ars dialectica). So auch für Platon selbst. Er hatte als einfache Wortbedeutung sehr wohl „Unterredungskunst“ im Sinn, als er unter dem Titel „dialektiké“ eine eigenwillige Lehre auszuarbeiten begann. Zugleich konzipiert er Dialektik, wie zu sehen war, als eine Erkenntnisweise. Wie geht das zusammen? Mit welchem semantischen, etymologischen Recht nennt Platon das Erkennen rein in Begriffen „Unterredungskunst“? Warum kann ihm ein Wort, das er in der einfachen Ausgangsbedeutung „Unterredungskunst“ erstmals adjektivisch und substantivisch gebraucht und das auch ideengeschichtlich an diese Ausgangsbedeutung gebunden bleibt, als Bezeichnung einer Erkenntnisweise dienen? Weil für ihn jegliches Erkennen rein in Gedanken direkt den Charakter der Unterredung hat. „Gedanken und Rede sind dasselbe“, sagt er noch im Dialog „Der Sophist“ (Sophistes 263 e). Das Denken, das gedankliche Erkennen ist „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst“, heißt es einige Zeilen weiter. Danach kann Platon eine Erkenntnisform auf stimmige Weise als Unterredungskunst bezeichnen, weil er mit „Unterredung“ weder unbedingt noch vornehmlich ein Gespräch zwischen verschiedenen leibhaftigen Gesprächsteilnehmern meinen muß. Nicht jegliches Erkennen hat Unterredungscharakter, wohl aber das Erkennen rein in Begriffen. Das Zusammenfallen des begreifenden Erkennens mit der inneren Unterredung schwingt bis heute in dem Wort „diskursiv“ mit. Es bedeutet ja gleich zweierlei. Zum einen „gesprächsförmig“, zum anderen „begrifflich statt bloß intuitiv“. Wenn Gedanken nicht nur auf Gedanken, sondern aus Gedanken folgen, werden diese von jenen ausgesprochen. Nur weil das Erkennen rein in Gedanken ein Sprechen ausmacht, können Gedanken sich widersprechen, einander widersprechen.
EIN DIALEKTIKER IST, WER ZU FRAGEN UND ZU ANTWORTEN VERSTEHT, läßt Platon den Sokrates sagen (Kratylos 390 c). Der Spruch unterstellt eine intensive Bindung der Dialektik an das Fragen und Antworten. Die vermag spontan einzuleuchten, vor dem skizzierten etymologischen Hintergrund, in Erinnerung an „Unterredungskunst“ als einfache Wortbedeutung von „Dialektik. Aber sie hat einen tieferen Grund: Das Spiel von Frage und Antwort folgt einer logischen Figur, die gewissermaßen die elementare dialektische Figur hergeben kann. Die Figur lautet: Der dialektische Gedanke geht per se über sich hinaus. Bereits an der Art der Folgerung, die dem Erkennen rein in Begriffen eigentümlich ist, läßt sie sich ablesen: Der Gedanke weist per se, d. h. kraft seiner Implikationen, über sich hinaus, d. h. hin zu dem explizierenden Gedanken. Entlang der nämlichen Figur verläuft auch das Fragen und Antworten. Die Frage nach etwas ist eine Form des Gedankens an dieses etwas, und zwar eine Form des Gedankens, in der er per se über sich hinausweist; über sich hinaus, weil hin zum antwortenden Gedanken; und per se tut er das, weil vermittels seiner eigenen Frageform. Die Frage beispielsweise „Gibt es das Nichtseiende?“ bildet eine Form des Gedankens an das Nichtseiende, und sie stellt eine Form dieses Gedankens dar, in der er von sich aus, allein kraft seiner Frageform, über sich hinaus treibt, hin zu dem um eine Antwort erweiterten und vertieften Gedanken. – Den Begriff der Dialektik auch und nicht zuletzt an das Vermögen zum Fragen und Antworten zu binden, das wird noch Ideengeschichte machen. Als nächstes taucht diese Bindung in der Logik der Stoiker auf. Dort gilt das methodische Fragen und Antworten als exklusive Leistung gerade der Dialektik. „Ohne sie sei es nicht möglich, methodisch zu fragen und zu antworten.“ (Diog. Laert., Vitae philos. VII 47/48). In der Neuzeit wird jene Bindung erneut begegnen, vor allem innerhalb der modernen Hermeneutik, in Gestalt einer ausgearbeiteten „Logik von Frage und Antwort“.
GYMNASIA. Von der platonischen Akademie ist eine gewisse Praxis der Streitübungen überliefert. Die Streitübungen wurden „gymnasia“ genannt. Schüler bekamen die Aufgabe gestellt, gewisse Thesen vorsätzlich zu widerlegen oder gegen Widerlegungsversuche zu verteidigen. An einer Textstelle rät der platonisch geläuterte Parmenides zum vorsätzlichen Durchprobieren des Bejahens und Verneinens derselben Thesen. Solche Übungen gaben sicherlich Gelegenheit, über die logischen Mittel des Widerlegens und Verteidigens von philosophischen und fachwissenschaftlichen Standpunkten nachzudenken, sich nach und nach eine Logik der Kontroverse bewußt zu machen. Kenner der einschlägigen biographischen Details vermuten, daß sich diesen Übungen die Anregung verdankt, die Aristoteles schließlich dazu ermuntert hat, unter dem Titel „Topik“ eine Logik der Kontroverse zu verfassen und damit eine ebenso reizvolle wie eigenständige Gestalt der Dialektik auf den historischen Weg zu bringen.