Die Verkehrung

Im Allgemeinen folgen bei Hegels Dialektik die Übergänge dem Prinzip der Negativität, dem zufolge ein Jedes sein Negatives mit sich führt, kraft dessen es über sich hinausweist, hin zu komplexeren Gestalten des Geistes. Beim Nachvollzug der aufsteigenden Bewegung des menschlichen Geistes trifft man auf eine Besonderheit, die das Prinzip der Negativität dort annimmt.

Hegel nennt sie zumeist „die Verkehrung“, gelegentlich auch „das Umschlagen“. Gemeint ist stets eine Verkehrung ins Gegenteil oder Entgegengesetzte, ein Umschlagen in den Kehrwert. So verkehrt sich etwa die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks in das Gegenteil des Bezweckten. Nicht das Verfehlen des Zwecks, nicht sein Aufgeben oder bloß halbherziges Verfolgen, sondern seine intensivste und gelingende Verwirklichung schlägt dann in ein Ergebnis um, das dem Zweck entgegensteht, ihm sozusagen direkt ins Gesicht schlägt. Und es soll die Erfahrung dieser Verkehrung sein, was den fraglichen Übergang zu einer höheren Gestalt des Geistes einleitet.

Auf einer bestimmten Stufe der Geschichte des menschlichen Geistes sucht das prototypische Individuum, das mittlerweile zur tätigen Vernunft gekommen ist, nach seinem Zweck. Nicht nach diesem oder jenem Zweck in der einen oder anderen Situation, sondern nach dem Zweck seiner Lebenstätigkeit. Auf Anhieb sucht es diesen Zweck in der rein individuellen Lust. Lust verheißt die individuelle Selbstverwirklichung, die Verwirklichung seiner selbst in etwas Anderem. Indem nun die Verwirklichung seiner selbst im Anderen gelingt und genossen werden kann, widerfährt ihm eine Verkehrung. Durch die Verwirklichung seiner Individualität im Anderen hat es dieselbe gewissermaßen verdoppelt, dadurch aber ist das keine Individualität mehr, sondern das Gemeinsame eines Vielfachen, etwas Allgemeines. Die Verwirklichung seiner Individualität hat sich zu deren Aufhebung verkehrt. Das ganze Geschehen hinterläßt überdies anstelle eines lebendigen, begehrenden Daseins des Individuums einen bloßen Zusammenhang der Übereinstimmung und des Unterschiedes zwischen dem einen und dem anderen. Dieser durchaus abstrakte Zusammenhang aber macht nicht nur nichts Individuelles mehr aus, er stellt genau genommen nicht einmal etwas Lebendiges, Vitales dar. Die Verkehrung eines lebendigen Daseins in einen leblosen notwendigen Zusammenhang. Das Individuum erfährt die Verkehrung als Ausdruck der Beschränktheit des von ihm auf Anhieb gewählten Zwecks. Angesichts dessen lernt es, sich einen höheren Zweck zu setzen. Auf diese Weise vollzieht sich einer der erfragten Übergänge von Gestalt zu Gestalt des menschlichen Geistes.

Der im Vergleich mit der rein singulären Lust höhere Zweck wird das „Gesetz des Herzens“ genannt. Als ein Gesetz stellt es etwas Überindividuelles, Allgemeinmenschliches dar; als Gesetz des Herzens gehört es dem individuellen Gemüt an: es ist die von Herzen kommende und je nach Gemüt definierte Absicht des Individuums, zum Wohle der ganzen Menschheit zu wirken. Indem nun das Individuum das Gesetz seines Herzens vollbringt; wird dieses „allgemeine Ordnung.“ Erneut widerfährt ihm eine Verkehrung. „Das Gesetz des Herzens hört eben durch seine Verwirklichung auf, Gesetz des Herzens zu sein.“ (203): Um das Gesetz des Herzens zur allgemeinen Ordnung zu machen, muß es im Element dieser Ordnung realisiert werden; ihr Element aber sind Machtorgane, Verwaltungsakte, Apparate und dergleichen; und derlei steht zu jeglichem Gemüt bestenfalls gleichgültig, gegebenenfalls fremd, schlimmstenfalls feindlich. Das Gesetz seines Herzens vermag das Individuum nur als eine allgemeine Ordnung zu verwirklichen, welcher schon vom Element her sein anheimelndes Gemüt und ganzes Herzblut auf immer gleichgültig und fremd bleibt. Es hat etwas zutiefst Eigenes aus sich herausgesetzt und etwas Fremdes losgelassen. Eine Verkehrung des Eigenen ins Fremde, die ausdrücklich als Entfremdung bezeichnet wird. Abermals hat das prototypische Individuum zu lernen, sich einen höheren Zweck zu setzen.

In Form von Verkehrungen, auch in dieser Form, sieht Hegel das Prinzip der Negativität innerhalb der Sphäre des menschlichen Geistes sich durchsetzen. Vernünftige Taten und tätig vorangetriebene Prozesse verkehren sich ins Gegenteil: aus Gewinn wird Verlust, aus Wohltat Plage, aus Eigenem Fremdes, aus allgemeiner Freiheit die Schreckensherrschaft usf. In gewisser Hinsicht besteht die aufsteigende Bewegung des menschlichen Geistes in einem Ansteigen der Unsinnigkeit von Verkehrungen, bis hin zur blutigen Abscheulichkeit.

Die Denkfigur der Verkehrung ist der Philosophie schon lange vor Hegel vertraut. Sogar in die sprichwörtliche Volksweisheit hatte die Figur zuvor bereits Eingang gefunden. „Zuviel Recht schafft Unrecht“, „Zuviel Weisheit macht töricht“, „Zuviel Genießen läßt leicht verdrießen“ – solche Spruchweisheiten meinen ja Verkehrungen von Recht in Unrecht, Weisheit in Torheit, Lust in Unlust, kurz: von Wert in Unwert. Sie lassen die Verkehrung allerdings um einen besonderen Umstand, der wie ein Scharnier erscheint, geschehen. Als „Scharnier“ der Verkehrung machen sie das Übermaß auf seiten des jeweiligen Wertes aus. Nicht das Recht, die Weisheit und die Lust an sich schlagen danach in Unrecht, Torheit und Unlust um, sondern deren übermäßige Ausbildung und Inanspruchnahme. Innerhalb der Philosophie, zumeist in Texten ethischer und überhaupt praktischer Art, trifft man auf Aussagen und gebotsartige Reflexionen über Verkehrungen nahezu durchgängig in dieser Form, gebunden an das Übermaß als Drehpunkt der Verkehrung. „So kann selbst die Tugend“, heißt es etwa in den Essais von Michel de Montaigne (1533 – 1592), „zum Laster werden falls wir sie mit allzu heftiger Begierde in die Arme schließen. Jene, die sagen, nie könne es ein Übermaß an Tugend geben, weil es keine Tugend mehr sei, wenn sich das Übermaß ihr beigeselle, spielen nur mit Worten. Gerecht wird ungerecht und weise unweis’, geht zu weit das Streben, sittlicher zu sein als die Sittlichkeit selbst.“ So wird die Verkehrung als eine betrachtet, die durch etwas vermittelt wird, das dem sich verkehrenden Wert keineswegs unbedingt zukommt, sondern nur bedingterweise.

Hegel denkt die Verkehrungen, die sich ihm an der phänomenalen Entwicklung des menschlichen Geistes abzeichnen, anders. Ausdrücklich hebt er an einer Stelle hervor, eine Verkehrung zu meinen, „die durch nichts vermittelt ist.“ (201) Durch nichts jedenfalls, was von dem in seinen Kehrwert umschlagenden Tun und Geschehen als solchem unterschieden werden kann.

In dieser unvermittelten Weise sieht er schließlich sogar die „allgemeine Freiheit“, die positive Freiheit aller, in das „negative Wesen“ einer Schreckensherrschaft umschlagen. Dem geht er innerhalb der „Phänomenologie“ im Abschnitt „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ nach, der den Ausgang aus dem Reich der Bildung begreiflich machen soll. Ihm schwebt dabei eine Freiheit und Gesellschaftsordnung vor, wie sie Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) unter dem Begriff des Gesellschaftsvertrages entworfen hatte. Bei Beschreibung ihrer Verkehrung in eine Schreckensherrschaft hat er die Jakobinerdiktatur während der 1789 einsetzenden Revolution in Frankreich vor Augen. Begreiflich gemacht wird diese Verkehrung weder aus irgendeinem Übermaß der Freiheit noch aus sonst welchen besonderen und äußerlichen Bedingungen. Die allgemeine Freiheit als solche sei es, was in jene „Furie des Verschwindens“ umschlägt, für die sinnfällig die gnadenlos betriebsame Guillotine steht. Eine Interpretation, die mit Blick auf den Autor waghalsig anmutet, mit Blick auf die Sache selbst schon pervers. Aber gerade darin entspricht sie dem phänomenalen historischen und biographischen Geschehen, das der Autor vor Augen oder in frischer Erinnerung hat. Etwa dem Schicksal von Louis Antoine Saint Just, über den es heißt, daß er Robespierre zu Ende gedacht habe, der seinerseits Rousseau zu Ende dachte. Als Autor der Erklärung der „Rechte des Menschen und des Bürgers“ kodifizierte er die allgemeine Freiheit, und in diesem Sinne personifizierte er sie auch. Als eifernder Verteidiger der allgemeinen Freiheit gegen jeden nicht allgemeinen Willen, gegen alles besondere und individuelle Wollen, läßt er die Maschinerie des fallenden Beils anschmeißen und personifiziert so die Verkehrung, um schließlich den eigenen Nacken unter ihr beugen zu müssen. Wobei die personifizierte Verkehrung aus der personifizierten allgemeinen Freiheit folgt, daraus nämlich, daß diese Freiheit eben gerade und bloß die allgemeine ist. Ähnlich bei allen Verkehrungen, die Hegel nachzuvollziehen sucht. Stets ist es ein Gut, das in seinen Kehrwert umschlägt. Allein unter dieser Voraussetzung kann der Prozeß der Verkehrung als das Negative gelten, das ein Phänomen des menschlichen Geistes an sich hat und das dieses Phänomen der weiteren Entwicklung des Geistes anheimstellt.

Die Verkehrung seines Tuns würde das prototypische Individuum als einen Widerspruch erfahren oder erleben, vermerkt Hegel wiederholt. Etwa als Widerspruch zwischen Absicht und Ergebnis, Zweck und Resultat, möchte man meinen. Es versteht sich allerdings nicht von selbst, ob sich das umschlagende Geschehen, in der erwogenen Formulierung oder in einer anderen Ausdrucksweise, auf einen Begriff des Widerspruchs bringen läßt. Widersprüche unterstellen ja ein Zugleich: die These und die Antithese einer Antinomie sind zugleich und gleichermaßen denknotwendig; etwas ist so und zugleich nicht so. Von Verkehrungen hingegen läßt sich solch ein Zugleich schwerlich behaupten. Statt zugleich seinen Kehrwert zu bilden, schlägt etwas in diesen um. Es wird dazu, um dann in ihm aufzugehen.

Im Gefolge der Hegelschen Philosophie steigt die Figur der Verkehrung zu einer dialektischen Denkfigur auf, die vor allem in der Geschichtsphilosophie eine nennenswerte Verbreitung findet. Auf besonders wirkungsmächtige Weise geschieht das in zwei ideengeschichtlichen Kontexten. Zum einen im Werk von Karl Marx (1818 – 1883). Bereits in einer Jugendschrift analysiert er Prozesse der Entfremdung und Selbstentfremdung. Zum anderen in dem von Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Max Horkheimer (1895 – 1973) unternommenen Versuch, die Dialektik der Aufklärung aufzuklären. Aufklärung verkehre sich in Mythologie, Fortschritt schlage in Rückschritt um. In beiden Fällen wird die Verkehrung allerdings, anders als von Hegel als eine vermittelte gedacht, mit einem „Scharnier“ gewissermaßen. Man sieht sie um historisch besondere gesellschaftliche Verhältnisse und Institutionen wie um einen Drehpunkt herum sich vollziehen. Worauf noch einzugehen sein wird.

Abb.: Thomas Guggemos, Entfremdung, Öl auf Holz, 2009

 

Das könnte Sie auch interessieren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert