Es war einmal ein überaus romantisch gestimmtes Ich, das dünkte sich souverän in seinem Gehäus. Was mich selbst ausmacht, frohlockte es, müßte ich doch auch von selbst geworden sein, aus mir selbst heraus gewissermaßen. Aber da erhielt es die Kunde, einer Illusion aufgesessen zu sein. Es wurde darüber belehrt, wie wenig es sich der reinen Selbstsetzung verdankt und wie sehr es kraft der Anderen da ist . Allmählich begriff es die in ihrer Nüchternheit so brutale Wahrheit: Am Anfang war ich lediglich ein Verhältnis zu den Anderen, nichts weiter als mein Verhältnis zu einem Du. Also „ist das ‚Ich‘, das ich bin, ohne dieses ‚Du‘ gar nichts, und es kann sich außerhalb des Bezuges zum Anderen, aus dem seine Fähigkeit zur Selbstbezüglichkeit überhaupt erst entsteht, nicht einmal ansatzweise auf sich selbst beziehen“ (S. 92/93). Ihm war’s, als bräche sein Gehäus zusammen, gleichsam besitzlos fühlte es sich, wie „durch seine gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen enteignet“ (S. 20). So abrupt aus ipsistischen Träumen gerissen, empfand es seine Lage als eine des blanken „Ausgeliefertseins“ an die Anderen (S. 86). Zu allem Überdruß blieb es mit den Gefühlen, die es bestürmten, auch noch allein. Niemand sonst, der sich überrascht zeigte von der Kunde. Alle wußten längst Bescheid.
Das leibhaftige Ich zum Beispiel, das seinerzeit der Zarathustra unter den gebildeten Ständen bekannt gemacht hatte. Dem leibhaftigen Ich war kaum etwas geläufiger, als daß es von anderen abstammt, von anderen gezeugt, geboren und großgezogen wurde, und daß all die Ahnen und Zeitgenossen, die es schufen, dies auch im Geist oder Ungeist ihrer Zeit taten, den es nun wie einen Klotz am Bein fortzuschleppen hatte. Oder das Freudsche Ich. Völlig klar, daß es keinesfalls sein eigenes Geschöpf bildet, sondern aus der Kollision der unbewußten Triebe mit der Realität hervorgeht, mit einer Realität, in der neben dem Du noch das Wir und das Sie sich tummeln, samt der verwickelten Verhältnisse, die sie untereinander eingehen, samt der profanen Dinge, die sie gebrauchen oder gar nicht brauchen. Schon das Hegelsche Selbst hatte, obgleich früheren Datums, die deutliche Ahnung, ja den Begriff davon, wie wenig es von selbst ein Selbst ist. Statt in die alles entscheidende Anerkennungsbewegung als ein Selbst einzutreten, geht es als ein solches daraus erst hervor. Weder macht es sich selbst noch wird es einfach von den Anderen gemacht, vielmehr setzen sich die Beteiligten gegenseitig in die selbstbezüglichen Rollen ein.
Allein dem romantisch gestimmten Ich bedeutete derlei eine Neuigkeit. Um die ganze Wahrheit zu sagen: Seine sichtliche Betroffenheit war einer gewissen Beschränktheit geschuldet. In solcher Verfassung ließ es sich auf die kraftlosen Schlüsse ein, mit denen die vermeintlich neue Nachricht am Ende aufwartete (S. 100 – 102). Ich muß die Tatsache des „primären Übergriffs des Anderen auf mich“ einfach akzeptieren, murmelte es zerstreut vor sich hin, kann nicht aus alldem Ungewollten an mir etwas Gewolltes machen, aus dem Undurchsichtigen etwas Durchsichtiges, ich muß es hinnehmen. Ansonsten tue ich mir ethische Gewalt an.
In diesem Moment nahm sich seiner das leibhaftige Ich an, ein wenig ungehalten über den kläglichen Unterton, den es herausgehört zu haben meinte. Nicht einfach hinnehmen, sagte es beschwörend. Der Herkunft nach sind wir gewiß weit mehr gemacht worden, als daß wir uns hätten eigens schöpfen können. Aber wir vermögen doch schöpferisch zu sein, können etwas richtiggehend kreieren – ungewohnte Lebensformen, ganz andere Verhältnisse, allerlei neues Zeug. Und dieserart, über uns hinaus schaffend, heben wir gegen uns selbst ab, zusammen damit aber auch gegen die Anderen in uns. Nicht woher wir kommen, macht uns zu originären Wesen, sondern wohin wir gehen. Nicht in der Herkunft, sondern in der Zukunft haben wir Einzigartigkeit zu suchen.
(Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008)