Leib vs. Körper

Die deutsche Sprache bietet den Komfort, mit den Worten „Körper“ und „Leib“ eine Differenz ganz sinnfällig ausdrücken zu können, für die andere Sprachen lediglich einen doppeldeutigen Ausdruck bereit halten. Einen Leib kennen erst die Lebewesen, ein Körper ist schon leblos möglich – das ist den deutschen Ausdrücken eingeschrieben. „Leib“ unterstellt notwendig eine wie immer geartete Lebendigkeit, „Körper“ unterstellt das – notwendigerweise jedenfalls – nicht. Unter einem Leib kann man sich beim besten Willen nur etwas Biotisches vorstellen, unter einem Körper auch den technischen Hohlkörper, den Himmelskörper oder die Korpuskel der Quantenmechanik. Daß die nämlichen Begriffe in verteilten Rollen auf Lebendiges und Lebloses Bezug nehmen, ist also gewiß. Aber wie tun sie das? Wie versteht sich die Differenz von Leib und Körper? Dem will ich nach einigen Seiten hin nachgehen und dazu begriffsgeschichtlich etwas ausholen.

Das Körperparadigma

Es gibt eine Auffassung vom Verhältnis beider, die mir die gewöhnliche Auffassung zu sein scheint, die schon vorwissenschaftlich mögliche – eine Gestalt der Doxa gewissermaßen, die gleichwohl unter Wissenschaftlern und Philosophen zahlreiche Fürsprecher gefunden hat. Sie faßt sich in zwei Gleichungen zusammen: „Leib = spezifischer Körper“, „Leib = vitaler Körper“. Der Leib also als eine Art des Körpers. So als dürfte man sagen, alle Leiber sind Körper, aber nicht alle Körper sind Leiber. Als dürfte man sogar definieren, der Leib ist ein Körper, der sich von anderen Körpern durch seine Vitalität unterscheidet. Als würde also das Eigentümliche des Leibes, und das macht den springenden Punkt, lediglich gewisse allgemeine Wesensmerkmale der Körper besondern, auf besondere Weise abwandeln, modifizieren, ausprägen, kurz: spezifizieren. In diesem Sinne wird die fragliche Differenz für gewöhnlich gedeutet. Noch Maurice Merleau-Ponty, dem wir so viele Einsichten in die Eigentümlichkeit des Leibes verdanken, hat gelegentlich die Gleichung „Leib = lebendiger Körper“ bestätigt (Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 75).
Zu der gewöhnlichen Auffassung verführt freilich der Sprachgebrauch. Er verführt dazu schon deshalb, weil im Lateinischen, Französischen, Englischen und in anderen Sprachen die Worte „corpus“, „corps“, „body“ usw. beides meinen, sowohl den Leib der Lebewesen als auch den leblosen Körper. Der Leib des Lebewesens kann in diesen Sprachen nur adjektivisch ausgezeichnet werden, mit dem Ausdruck „le corps humain“ beispielsweise. Und genau das, die adjektivische Auszeichnung, läßt ihn auf plausible Weise wie eine Körperart erscheinen. Aber so plausibel das anmutet, es dürfte sich dabei doch um einen Fall von Verhexung des Denkens durch die Sprache handeln, um einen Fall von jener Verhexung, gegen die anzudenken Ludwig Wittgenstein für die erste Aufgabe der Philosophie hielt.
Deutlicher gesagt, die geläufige Bestimmung als Körperspezies wird falsch sein. Leiblichkeit will anders denn als eine Art von Körperlichkeit begriffen werden. Die naturgeschichtliche Entstehung des Leibes stellt eine evolutionäre Kreation dar, eine Kreation, welche die ganze Gattung der Körper richtiggehend überschreitet, statt ihr eine weitere Spezies zu verschaffen. Wie der Mensch, obschon aus der Affengattung hervorgegangen, dennoch keine Affenart bildet, sondern – mit Nietzsche gesprochen – den Überaffen, so bildet schon das erste leibhaftige Lebewesen, obgleich aus dem Körperkosmos herausgewachsen, ein die Körperlichkeit transzendierendes, neues Gattungswesen. Zweifellos weisen Leib und Körper Gemeinsamkeiten auf, nur – und das macht wieder den springenden Punkt – das Eigentümliche des Leibes ist keine Spezifizierung, keine Besonderung, keine Konkretion solcher Gemeinsamkeiten.
Diese Position hebt sich nicht nur von der Doxa ab, sie kontrastiert gleichermaßen mit einer wissenschaftlichen und philosophischen Traditionslinie, die sich wenigstens bis zur Aufklärung zurückverfolgen läßt. Die Philosophien der Aufklärungsepoche folgen im großen und ganzen der gewöhnlichen Auffassung mit ihrer Herabsetzung des Leibes zur Körperart. Überdies haben sie besagte Herabsetzung, wie soll ich sagen?, wissenschaftlich zugespitzt, womöglich radikalisiert. Und zwar unter dem Einfluß einer Körperauffassung, die auf Galileo Galilei zurückgeht.
Galilei hat in seinem Aufsatz „Die Goldwaage“ (Il saggiatore, in: Opere complete di Galileo Galilei, tomo IV, Firenze 1844, s. bes. S. 332 – 338) zwei folgenreiche Thesen aufgestellt. 1. Das Wort „Il corpo“ meine weniger sinnliche Qualitäten, die täuschen ohnehin, als vielmehr die ausgedehnte materielle Substanz. Und was 2. noch ungleich mehr ins Gewicht fällt, das Wesen der Ausdehnung oder Ausgedehntheit dieser Substanz liege in ihrer Begrenzung durch Gestalt und Figur, in der figürlichen Begrenzung. Man möchte meinen, die Thesen sind durch und durch apollinischen Geistes. Als das wesentlichste Wesensmerkmal kehren sie die Grenze, die figürliche Begrenzung heraus. Der Körper, das ist danach etwas wesensmäßig Geschlossenes, weil etwas figürlich Begrenztes.
Soweit nun die Bindung der Körperlichkeit an Geschlossenheit in die überkommene und fortgeschriebene Formel „Leib = vitaler Körper“ eingesetzt wurde, ergab sich daraus eine Erwartungshaltung von paradigmatischer Bedeutung. Sie besagt: In welcher Richtung immer man den Leib von Lebewesen untersucht, man dürfe erwarten und habe damit zu rechnen, er werde ungeachtet seiner Besonderheiten, unbeschadet seiner Vitalität, jedem beliebigen Körper wenigstens darin gleichen, daß er auf erdenkliche Weise ein geschlossenes System oder Ganzes bildet. Wie weit immer man seiner Vitalität nachgeht und nachspürt, man dürfe erwarten und habe damit zu rechnen, sie erweise sich als der pulsierende Inhalt von irgendeiner Form der Geschlossenheit, ja als ein durch Geschlossenheit formierter Inhalt. In diesem Paradigma, sagen wir: im Körperparadigma, steht zum gut Teil das Philosophieren über den Leib während der Aufklärungsepoche. Aufgeklärte Leibesphilosophie ist überwiegend spezifizierte Körperphilosophie.

Körper unterscheiden sich, Leiber differieren

Das Körperparadigma sehe ich keineswegs allein dort obwalten, wo René Descartes (Meditationen VI) seinen eignen corpus und Thomas Hobbes (Leviathan, Hamburg 1996, S. 518 f) den lebendigen corpus verdächtig direkt unter dem gattungsbegrifflich gemeinten Titel „Ein ausgedehntes Ding“ verhandeln und die Lebendigkeit desselben auf Beseeltheit nahezu reduzieren . Gerade dort, wo die Vitalität explizite Behandlung erfährt, etwa bei Denis Diderot (Gedanken zur Interpretation der Natur, Philosophische Schriften, Bd. 1, Berlin 1961), fällt auf, wie dem so aufmerksam studierten Leib doch allenthalben die Form der Geschlossenheit unterstellt wird. Diese Unterstellung macht sich minimal geltend in der ausdrücklich formulierten oder stillschweigend unterstellten Unterscheidung zwischen einer inneren Natur und einer äußeren Natur. In den Augen des Forschenden zeichnet sich der Leib als ein Gebilde ab, das mit seinen natürlichen Lebensbedingungen wie mit einer äußeren Natur kommuniziert, wie mit einer natürlichen Umwelt, einer Welt um ihn herum. Aber eine äußere, um nicht zu sagen, äußerliche Natur können die natürlichen Lebensbedingungen höchsten für einen geschlossenen, durch Gestalt und Figur regelrecht begrenzten Körper darstellen. Der Leib müßte ein Körper im definierten Sinne sein, seine unverkennbare Gestalt und Figur müßte zugleich seine Grenze bilden, um ähnlich einem Stein oder einem Planeten von den eigenen natürlichen Existenzbedingungen wie von einer Außenwelt umgeben zu werden. Gewiß vermag man auch nach einer solchen Einsteuerung der Forschungen immer noch die Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen, den Stoffwechsel, die energetische Kommunikation mit großer Aufmerksamkeit zu bedenken. Aber man deutet sie dann als bloße Wechselwirkung, als Wechselbeziehung zwischen einander äußerlichen Gegebenheiten. Und hat man die Welt des leibhaftigen Menschen erst einmal zur bloßen Umwelt abgerückt, liegt es verführerisch nahe, arglos zu meinen, der Mensch könnte die von Herder (Briefe zu Beförderung der Humanität, Lehrsätze über den Charakter der Menschheit 18) gebotene Herrschaft über die Welt ausüben, ohne dabei sich selbst anzugreifen.
Die philosophische Rehabilitierung des Leibes hebt damit an, daß seine so selbstverständlich anmutende Verortung innerhalb einer bloßen Umwelt auf einmal ganz unselbstverständlich gerät. Dem jungen Marx muß das passiert sein, auch ihm. Bei Karl Marx findet sich die Idee eines, sozusagen, trinitarischen Leibes, eines dreifaltigen. Danach ist der Leib des Menschen erstens sein unmittelbar eigener Leib. Zweitens aber ist „sein Leib“ auch die Natur, aus der er Lebensmittel bezieht. Diese Natur wird ausdrücklich der „unorganische Leib des Menschen“ genannt (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 516). Was offenkundig etwas anderes meint als eine äußere Natur. Und drittens schließlich gehören zum Leib des Menschen noch die kulturellen, kunstvollen, künstlichen Verlängerungen und Verstärkungen der natürlichen Organe. Die Mikroskope und Fernrohre beispielsweise, die das natürliche Auge verlängern und verstärken. Oder die Archive und Bibliotheken, die gleichsam wie Module des naturwüchsigen Gedächtnisses fungieren. Oder die öffentliche Willensbildung, die das Triebleben, das leibeigene Wollen ebenso vollstreckt wie kultiviert. In der Geselligkeit von Menschen, so läßt sich eine von Marx angestellte Überlegung (Ebenda, S. 540) rekonstruieren, wachsen die natürlichen Organe des Genießens, etwa die auf der Zunge befindlichen Geschmacksknospen, zu gesellschaftlichen Organen des Genießens aus. Die ganze ökonomische Produktion versteht er als eine Metapher des Leibes, und zwar als eine materialisierte Metapher, wie Terry Eagleton (unter Bezugnahme auf Skarry) schreibt.
Dieser grobe Aufriß zeichnet keineswegs einen Leib nach, der bloß komplexer als gewöhnlich angenommen ausfiele, der figürliche Grenzen hätte, die lediglich weiter als angenommen zu ziehen wären. Die Skizze markiert etwas anderes als einen von den per se geschlossenen Körpern. Es fragt sich ja schon, wo der trinitarische Leib nach seiner unorganischen Seite hin überhaupt enden können sollte, wo, auf welchem Längen und Breitengrad er sich denn lokalisieren lassen sollte. Angesichts seiner müssen die so leicht sich aufdrängenden Vorstellungen von Innen und Außen weitestgehend versagen. Der unmittelbar eigene Leib des Menschen wird zum Beispiel von einer Haut umspannt, aber die läßt sich schwerlich als eine Außenhaut interpretieren. An dieser Haut endet sicherlich etwas, mit Sicherheit aber nicht der Leib. An der Haut mag das sogenannte Fleisch enden, der Leib dagegen, der verschiebt sich dort nur, verschiebt sich vom unmittelbar eigenen zum unorganischen; er schiebt sich auf. Wie wenig die Haut einer Außenhaut und Grenze gleichkommt, zeigt eine Beobachtung, die schon Descartes in ihrer ganzen Erstaunlichkeit gewahrt hat. Berühren wir einen weichen Gegenstand mit der Hand, empfinden wir seine Weichheit direkt auf unserer Haut; berühren wir ihn dagegen mit einem Stock in der Hand, empfinden wir seine Weichheit nicht mehr in den Fingerspitzen, sondern an der Spitze ihrer Verlängerung durch den Stock. In dieser durch und durch sinnlichen Verschiebung hat sich der Leib verschoben. Er schiebt sich auf, er differiert. Differieren, das dürfte ein wichtiges Charakteristikum hergeben. Körper unterscheiden sich, Leiber differieren.

Reflexives Selbst und kreatives Selbst

Um das Geheimnis des Leibes lüften zu können, um dazu Lebendiges vom Leblosen zu scheiden und Vitalität zu begreifen, mobilisieren Philosophien der Aufklärungsepoche auch und nicht zuletzt die Begrifflichkeit der Selbstbeziehung, der Ipseität. Für eine gewisse Periode unterscheiden sie das Lebendige vom Leblosen direkt wie das Selbstbewegte vom Fremdbewegten. Sogar bei der skurrilen Modellierung des Menschen als Maschine hat das Prinzip der Selbstbewegung keineswegs gefehlt. Die Vitalität als eine Ipseität, in diese Richtung gehen die intensivsten Recherchen.
Soweit sie allerdings den Leib für einen Körper besonderer Art halten, müssen sie auch die gesuchte Selbstbeziehung stillschweigend als die eines Körpers ansetzen, als die eines irgendwie geschlossenen Gebildes. In diese Vorstellungsform eingezwängt, nehmen nun die Begriffe des Selbstes und des Selbstseins einen höchst einseitigen Inhalt an. Selbstheit überhaupt denkt man sich dann als Rückkehr-in-sich, man denkt sie sich wie eine ausholende, über anderes ausholende und unvermeidlich in sich zurückkehrende Bewegung. Ganz in diesem Sinne bestimmt Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ (Gesammelte Werke Bd. 9, Hamburg 1980, S. 20) das Selbst ausdrücklich als das in sich Zurückgekehrte . Und das paßt zu der hintergründig mitgeführten Vorstellung vom per se geschlossenen Körper. Die Rückkehr-in-sich teilt mit der Geschlossenheit das Zirkuläre. Ein richtiggehender Körper vermag in der Tat nur er selbst zu sein, indem er aus jeder Beziehung zum anderen in sich zurückgeht, indem er also noch in der Beziehung zum anderen sich mit sich zusammenschließt und dieserart abschließt.
Gewiß gibt es eine Selbstheit, die genau so figuriert, ganz gewiß ist das eine Art von Selbstheit. Ich möchte sie die reflexive nennen. Nicht allein deshalb, weil sie den Begriff der Reflexion erfüllt, auch weil der Begriff der Reflexion so schön sinnfällig erinnert an die Optik, an eine Disziplin der Mechanik, an die Geburt des abendländischen Reflexionsdiskurses aus dem Geiste der Optomechanik.
Um den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten: Der Leib von Lebewesen also bloß als spezifischer Körper, als der vitale, die Vitalität wiederum als eine Ipseität, und diese Selbstheit ihrerseits als die zur Reflexion, zur Rückkehr-in-sich abgerundete und kurzgeschlossene Bewegung – ganz so, wie das gerade noch in die untergründig rumorende Vorstellung vom naturgemäß geschlossenen Körper hineinpaßt.
Die wichtigste Konsequenz, die aus alldem gezogen wurde, ist wohl die folgende. Letztendlich tendiere alles Lebendige, alles Leibhaftige zu jener Rückkehr in sich, die man die Selbsterhaltung nennt. Genauer gesagt, die an Lebewesen natürlich unübersehbaren Akte der Selbsterhaltung werden zu finalen Akten erklärt. Das ergibt sich in der Konsequenz. Die Selbsterhaltung, und das heißt ja nach einer Seite hin auch: die Arterhaltung, als der finale Trieb leibhaftiger Lebewesen.
Dagegen stellt Friedrich Nietzsche eine bündige Formel: Nicht Arterhaltung, sondern Artüberwindung (Nachgelassene Fragmente 1882/84, KGA Bd. VII 1, S. 206). In dieser Pointe eklatiert eine erheblich andere Sicht auf den Leib. Für Nietzsche ist der Leib sehr wohl selbstisch, aber doch auf andere Weise. Die engherzige Rückkehr-in-sich durchläuft er zwar tatsächlich, aber doch nur wie eine Passage, wie die untergeordnete Schleife einer übergreifenden Bewegung von ganz anderer Art. Der finale Trieb des leibhaftigen Selbst ist nicht auf Selbsterhaltung aus, sondern auf „Selbst-Ueberwindung“, und zwar auf Selbstüberwindung im Sinne der Selbststeigerung und Selbstüberschreitung. Über sich hinaus zu schaffen, das sei es, was das leibhaftige Selbst am liebsten tue, was seine ganze Inbrunst ausmache, wie Zarathustra zu enthüllen weiß (Also sprach Zarathustra, KGA VI 1, S. 36). Also dieses Von-selbst-über-sich-hinaus-Schaffen. Von selbst – das heißt, allein kraft positiver Beschaffenheit, allein vermittels überschießenden Lebenskraft. Über sich hinaus – das bedeutet: in der Art der Kreation. Die kreative Selbstheit im Unterschied zur reflexiven.
Auf naheliegendste Weise stellt sie sich an der Fortpflanzung dar. Der zeugende und der gebärende Leib, die beiden sinnen ja weniger darauf, sich selbst zu erhalten, als vielmehr darauf, ein über sie hinaus reichendes Wesen zu schaffen, neues Leben zu schöpfen, eine nie dagewesene Individualität zu kreieren. Und während das Über-sich-hinaus-Schaffen in den Dimensionen der Fortpflanzung noch der Arterhaltung untergeordnet zu bleiben scheint, überschreitet es in der evolutionären Dimension auch noch die Arterhaltung. All die Übergänge von einer Art Lebewesen zur Überart, die wenigstens nach einer Seite hin die Evolution ausmachen, werden mitnichten von der Evolution gemacht. Es ist jeweils eine lebendige Art, die etwas über sich hinaus schafft, indem sie in ihrer Überart aufgeht. So daß nach aller naturgeschichtlichen Erfahrung zu erwarten steht, auch der Mensch werde etwas über sich hinaus schaffen, ein Wesen, das evolutionär über der menschlichen Gattung steht und deshalb, allein deshalb, der Übermensch heißen darf.
In den modernen Biowissenschaften dagegen denkt man bis auf den Tag in den ebenso ausgefahrenen wie engen Bahnen der Rückkehr-in-sich. Es genügt, an die Theorie der Autopoiesis zu erinnern. Humberto Maturana, der dafür in prominenter Weise steht, findet die Lebewesen unter den autopoietischen Systemen beheimatet. Und was die lebendigen autopoietischen Systeme von den allopoietischen unterscheidet, soll gerade darin liegen, daß die lebendigen ein Produkt haben, das sie selbst sind (Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 159, 163), daß sie also immerfort sich selbst produzieren und reproduzieren, um auf diese Weise unentwegt die Rückkehr-in-sich zu betreiben.

Zentrierter Körper, exzentrischer Leib

Offenkundig gibt es beim Menschen, und nicht nur bei ihm, so etwas wie ein Verhalten zum eigenen Leib, ein Verhalten, für das die älteren Begriffe „Leibesertüchtigung“ und „Körperbeherrschung“ genauso stehen wie die neueren Ausdrücke „Triebhemmung“ und „bodybuilding“. Daß es solch ein Verhalten gibt, ist ganz offenkundig. Nicht so offenkundig, sondern eher fraglich erscheint, wer oder was dabei eigentlich den Leib ertüchtigt, beherrscht und gestaltet. Wer oder was verhält sich zum Leib als dem eigenen?
Die Aufklärung hat darauf eine zweideutige Antwort gegeben. Einerseits heißt es weithin: Es sei die Seele, die Geistigkeit des Menschen, als welche er sich zu seinem Leib verhält. Eine Antwort, die mit der Tradition zusammenstimmt, namentlich mit der besonders wirkungsmächtigen aristotelischen Deutung der Seele als das Formprinzip, das die Materie allererst zum Leib organisiere. Andererseits hat die Aufklärung Einsichten gewonnen und angereichert, die durchaus eine alternative Beantwortung zulassen. So zum Beispiel bei Fichte. Fichte sieht sehr wohl, wie das Ich sich von vornherein als ein leibliches setzt, wie also der Leib von vornherein im Status der Ichheit auftaucht. Danach liegt es greifbar nahe, mit dem Gedanken fortzusetzen, das Ich selber – und zwar als dieses buchstäblich leibhaftige Ich – verhalte sich zum Leib wie zu sich selbst. Aber so weit will Fichte nicht gehen. Wo er pädagogische Konsequenzen zieht, in den „Aphorismen über Erziehung“, gebietet er vielmehr, unser vernunftbegabte Geist habe den Körper unter seine Herrschaft bringen (Johann Gottlieb Fichte´s sämmtliche Werke, Achter Band, Berlin 1846, S. 358). Eine ähnlich jähe Wendung nimmt der einschlägige Gedankengang bei Hegel in der „Enzyklopädie“ von 1830  (§ 388 ff). Zunächst sieht Hegel in der Leiblichkeit von Pflanzen und Tieren nichts geringeres als die lebendige Subjektivität heranreifen. Und die müßte doch – als eine Subjektivität – dazu taugen, sich zu sich selbst zu verhalten. Aber dort, wo Hegel diese Konsequenz spätestens zu ziehen hätte, bei Behandlung des Menschen, im anthropologischen Teil, weicht er auf die betagte Denkfigur einer „Verleiblichung“ der Seele aus. So als gelte es noch in der vitalsten Lebensäußerungen vornehmlich den Ausdruck und Ausfluß einer Seele zu erblicken. Man hat im Ansatz längst die Einsicht in die Ichheit bzw. Subjektivität des Leibes gewonnen, in der Ausführung aber präsentiert man ihn doch wieder als das blanke Objekt eines herrschaftlichen Geistes, als das bloße Material einer nach Inkarnation dürstenden Seele.
Wie kommt das? Wie funktioniert das von den elementaren Denkformen her? Am Ende hat sich da abermals das Körperparadigma durchgesetzt. Alle Körper sind zentrisch, alle Körper dehnen sich um ein Zentrum herum aus. Das impliziert bereits die figürliche Begrenztheit und Geschlossenheit, die Galilei an ihnen als das wesentlichste Wesensmerkmal ausgezeichnet hat. Körper nehmen immer und überall eine zentrische Position ein. Soweit man nun den Leib im Körperparadigma zu denken sucht, muß man konsequenterweise erwarten, er werde sich ebenfalls als zentrisch erweisen, er werde folglich ein vitales Zentrum aufweisen, eine vitale Zentralinstanz gewissermaßen, die bis an die Peripherie alles durchwirkt, im doppelten und doppelbödigen Sinne alles durchwirkt, mithin auch bewirkt. Dieses Zentrum zu bilden, das läßt sich am plausibelsten vom Seele-Geist-Syndrom behaupten, weil unter allen in Betracht kommenden Phänomenen allein dieses Syndrom als an und für sich lebendig erscheint, weil es so sehr an und für sich vital zu sein scheint, daß man, wenn überhaupt, am ehesten noch der Seele ein Weiterleben nach dem Tode zugetraut hat. Bei Hegel findet sich die Zentrierung des Leibes in der Seele so ausgedrückt: Leib und Seele seien dasselbe; das, was als Leib auseinandergelegt ist, ist als Seele in sich zusammengezogen. Dieserart zentriert der Leib in der Seele wie das Sein-auf-anderes im Für-sich-sein (Ästhetik, Bd. I, Die Idee als Leben, c). Aber einmal zur vitalen Zentralinstanz berufen, können Seele und Geist auch gleichsam wie eine Zentralgewalt angerufen werden, die für die sogenannte Körperbeherrschung zu sorgen habe..
Die Kritik an derlei Seelen- und Geistherrschaft mußte folgerichtig gerade bei der Vorstellung vom zentrierten Leib ansetzen. Nietzsche trägt dazu mit einer merkwürdig sich verschiebenden Aussage bei: Der Leib ist das Selbst, im Leib wohnt das Selbst (Also sprach Zarathustra, KGA VI 1, S. 36). Gelegentlich hat man diesen Spruch des Zarathustra so gedeutet, als hätte der Autor sich nicht entscheiden können, ob das Selbst nun der Leib ist oder lediglich im Leibe wohnt. Aber wie eine Unentschiedenheit kann der Satz einem nur dünken, solange man von ihm eine Identifikation erwartet. Während er in Wahrheit eine Differenz anspricht. Er spricht genau die Differenz an, die Helmuth Plessner später auf den Begriff der exzentrischen Position des Menschen (Lachen und Weinen, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 236 ff ) bringen wird.
Danach charakterisiert den Menschen, meines Erachtens aber nicht ihn allein, eine basale Exzentrizität: das Spiel von Leib-Sein und Leib-Haben. Der Leib, der ich bin, und der Leib, den ich habe, die konfigurieren ohne gemeinsamen Mittelpunkt, exzentrisch eben.
Im Lichte dieser Einsicht läßt sich die gestellte Frage, wer oder was sich zum Leib als dem eigenen verhält, ganz anders beantworten, als das die überschwengliche Zärtlichkeit für die Seele zu tun pflegt. Der Leib, der ich bin, verhält sich zu dem Leib, den ich habe – vermittels seiner Beseeltheit. Anstelle der vermeintlichen Körperbeherrschung per Geist gilt es dann folgende Figur ins Auge zu fassen. Der Leib, der ich bin, diszipliniert den Leib, den ich habe – vermittels seiner Beseeltheit. So erst bekommt er vorbehaltlos jenen Status zuerkannt, der ihm zuvor höchstens halbherzig zugestanden wurde. Der Status eines Eigenständigen und in diesem Sinne Substantiellen.

Unbeschadet dessen bleibt eine Konstellation wie die nachstehende denkbar. Der Leib, der wir sind, verhält sich faktisch zu dem Leib, den wir haben, wie zu einem Quasi-Körper, er verhält sich zu ihm quasi wie zu einem Gebilde, das figürlich begrenzt ausfällt, seelisch zentriert, in reflexiver Selbstbezüglichkeit sich erschöpft und einer äußeren Natur sich verschließt. Leib-Sein und Körper-Haben, eine solche Konstellation stellt sich in dem Falle ein. Und dieser Fall, der einer Verkörperung des Leibes, mag innerhalb unseres Kulturkreises weithin eingetreten sein. Das erklärt vielleicht die hier und heute so geläufige Bevorzugung des Körperbegriffs. Aber wenn er eingetreten sein sollte, dann doch als ein historischer Fall, als ein kulturgeschichtlich gewordener und vergänglicher. Das heißt, die Konstellation Leib-Sein/Körper-Haben stellt keineswegs die Grundfigur dar, als welche Gernot Böhme (Leibsein als Aufgabe, Zug/Schweiz, 2003, S. 26 – 29) sie in anthropologischer Absicht auszeichnen möchte.
Durchaus denkbar ist dagegen, für die Verkörperung des Leibes sorge ein Prozeß der Vermachtung, sie verdanke sich einem machtvollen Geschehen, wie Michel Foucault und Judith Butler es auf unterschiedliche Weise konzipiert haben. Aber das gibt bereits ein neues Thema her.



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Ein Kommentar

  1. reflexives und kreatives selbst:

    der unterschied zwischen Leib und Körper am Anfang war einleuchtend. Doch verstehe ich nicht das reflexive und das kreative Selbst. Das kreative Selbst wächst über sich hinaus – und daraus kann Vitalität abgeleitet werden. Das reflexive nicht, und somit ist ein reflexiver Körper zwar existent, aber nicht zwingend lebendig, wie ein Leib?

    jeder Körper hat einen mittelpunkt oder schwerpunkt. klar.
    aber Leib haben und Leib sein, zwei verschieden Zentren. Für den Spezialfall der identischen Position der Mittelpunkte: ist dies dann das, was man als Wohlbefinden oder Wohlfühlen bezeichnen könne, oder ist die Positioniereung der beiden Mittelpunkte auf ein Gemeinsames völlig ausgeschlossen?

    Ich frage in Bezug der Leibeserziehung, die wohl auch sozialisationsprozesse beeinflussen soll, im Gegensatz zu dem body-building…

    denn steht der Körper, den man hat und Seele, der Leib der man ist, in einer harmonischen Wechselbeziehung zueinander, lässt dies doch auf ein positives Selbst-Gefühl -> Wohl-Gefühl schließen, oder?

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