Tolerantia = Tugend, intolerantia = Laster, eine ganz einfache Unterscheidung haben die mittelalterlichen Tugend- und Lasterkataloge vorgegeben. Alle Toleranz sei gut, alle Intoleranz schlecht. Uns Heutigen erscheinen die Gleichungen eher als einfältig. Zu deutlich hat sich mittlerweile abgezeichnet, daß es solche und solche Toleranz gibt, und daß die unterschiedlichen Formen eine ebenso unterschiedliche politisch-ethische Bewertung erfahren müssen.
Dabei denke ich allerdings weniger an die bis auf den Tag geläufige Scheidung zwischen falscher und wahrer Toleranz. Unter falscher Toleranz versteht man üblicherweise, daß etwas Duldung erfährt, was eigentlich keine Duldung verdient. Im Gegenzug muß der Begriff einer wahren Toleranz bedeuten, praktisch nur zu dulden, was in der Tat Duldung verdient. Aber was verdient geduldet und ertragen zu werden und was nicht? Es gibt einen Sinn der Toleranz. Der Sinn der Toleranz liegt darin, den – im denkbar weiten Sinne des Wortes – kulturellen Reichtum der Menschheit zu bewahren und zu mehren. Danach soll die Vielfalt der Meinungen, Lebensformen, Religionen usw. toleriert werden, und mit Unduldsamkeit müßte alles zu rechnen haben, was wenigstens in der Konsequenz darauf hinausläuft, jene Vielfalt einzuschränken oder gar abzuschaffen.
Selbst wenn wir nur die Fälle des Lebens in Betracht ziehen, wo ausschließlich etwas Duldenswertes toleriert wird, wo sich gewissermaßen die Rede von der wahren Toleranz erfüllt und die falsche vermieden wird, selbst in solchen Fällen fällt einem zumindest auf den zweiten Blick auf, wie gravierend unterschiedlich Toleranz ausfallen kann, wie sie mal als ein souveränes Verhalten, mal dagegen gleichsam als Unterwürfigkeit erscheint. Um solche Wahrnehmungen treffend benennen zu können, ist es ratsam, eine von Friedrich Nietzsche hinterlassene Wertunterscheidung auf Tragfähigkeit hin zu prüfen.
Nietzsche unterschied: Es gibt Toleranz aus Stärke, und es gibt Toleranz aus Schwäche. Die Differenzierung gehört bei ihm zu einem systematisch bedeutsamen Gedankengang. Alles ethisch und ästhetisch Belangvolle, sagt der späte Nietzsche, kommt mindestens in zweierlei Gestalt vor. Einmal im menschlichen Großformat, das andere Mal mit einem kleinlichen, niedrigen und schwächlichen Zuschnitt. Das gilt für Rache, Neid und Pessimismus genauso wie für Gerechtigkeit, Liebe und Toleranz. Als Lebensäußerung einer starken Persönlichkeit kann Toleranz erhaben anmuten, als bloße Vorsichtsmaßnahme der Willens- und Charakterschwäche mag sie sogar abstoßend wirken.
Toleranz aus Stärke – das unterstellt folgendes: Zum einen, daß das Individuum sich in einer halbwegs souveränen Lage befindet und darum objektiv die Wahl hat, ob es etwas dulden oder nicht dulden will. Zum anderen, daß es subjektiv diese Wahl durchaus nicht hat, sondern sich durch souveräne Gesinnung, durch Weite des Horizonts, durch die Fülle der Individualität getrieben und gedrängt fühlt, die Andersheit des Anderen neben sich zu dulden, auch ohne sie sympathisch zu finden, die Fremdheit der Fremden zu ertragen, auch ohne sie zu mögen. Zum staatsrechtlichen Prinzip, zu einer politischen Idee wurde die Verbindung von Souveränität und Toleranz bereits in der römischen Antike erhoben, wenngleich unter einem anderen Titel, unter dem Namen „Clementia“ oder „Politik der Milde“ – als Julius Cäsar seinen bezwungenen innenpolitischen Feinden zusicherte, er werde auf das bis dahin übliche Rachenehmen verzichten, noch die ärgsten Gegner milde behandeln, und sie sogar in Ämtern und Positionen des Staates dulden. Obwohl diese Politik des Tolerierens ihrem Erfinder schließlich das Leben kostete, hat der Grundgedanke, Toleranz stehe der Souveränität gut zu Gesicht, auf die Nachfahren eine gleichsam magische Anziehungskraft ausgeübt. Weitergetragen von der stoischen Philosophie, konnte der Gedanke in die ritterlichen Tugendsysteme des Mittelalters eindringen, um dann in neuzeitlichen Wertewelten Wurzeln zu schlagen.
Toleranz aus Schwäche – in dieser Form ist die Duldsamkeit mit Devotion und Submission verquickt. Das Individuum befindet sich in einer so wenig souveränen Lage und ist von einer so wenig souveränen Gesinnung durchdrungen, daß es erstens Toleranz nur im Tausch gegen Unterwürfigkeit gewährt, und zweitens wahllos alles duldet, was die Macht des Man (mit einem „n“), die Macht der Trends und Moden oder die diffuse Mehrheitsstimmung auf der Seite hat. Zu ihrer Abkunft von der Schwäche paßt es, wenn die schafsähnliche Duldsamkeit umstandslos in blanke Intoleranz gegen alles umschlägt, was nicht von der Diktatur des Man gestützt wird. Nicht zuletzt trifft das jeglichen individuellen Eigensinn, der ja niemals im Trend liegen oder Mode und in sein kann. Toleranz aus Schwäche fällt nahtlos zusammen mit Intoleranz gegen starke Individualität.
Derart differenziert vermag sich die Toleranz natürlich nur darzustellen, indem die Intoleranz das in der einen oder anderen Weise ebenso tut. Es gibt auch die Intoleranz aus Schwäche, derzeit gut beobachtbar am Fundamentalismus religiöser und patriotischer Herkunft. Fundamentalismus ist nicht nur intolerant, aus seiner Unduldsamkeit sprechen historische Ohnmachtgefühle. Und es gibt die Intoleranz aus Stärke. Sie verrät sich durch die strenge Auswahl ihres Gegners. Was die souveräne Intoleranz in Acht und Bann schlägt, ist einzig die Feindseligkeit gegen die individuelle und kulturelle Differenz.
Der deutsche Zeitgeist krankt weniger an Intoleranz, als vielmehr an der grassierenden Toleranz aus Schwäche.