Dialektiker und Antidialektiker

Diesen Text liest man am besten, nachdem man den vorangegangenen Eintrag über topische Dialektik zur Kenntnis genommen hat.

DER STREIT DER DIALEKTIKER MIT DEN ANTIDIALEKTIKERN IM MITTELALTER. Noch zu antiker Zeit wird von Cicero eine Topik verfaßt. Er verlieh ihr zwar ein vordergründig rhetorisches Gepräge, das einer rhetorischen Beweiskunst, ließ sich aber doch von dem aristotelischen Vorbild nachhaltig inspirieren. Eine Art Einführung in die Topik des Cicero erstellte dann Boethius (In Ciceronis topica), dessen Werke wiederum von mittelalterlichen Denkern intensiv studiert wurden. Vor allem auf diesem Wege gelangte der Geist einer Logik der Kontroverse ins mittelalterliche Philosophieren. Dort wurde die Logik der Kontroverse allerdings selbst auch kontrovers aufgenommen. Offenkundig machte dies der Streit der Dialektiker mit den Antidialektikern, der bereits zur Zeit der frühen Scholastik ausbricht. Für gewisse Zeit geriet das Wort „dialecticus / Dialektiker“ zu einem Schmähwort, dessen sich ein Teil der geistlichen Intelligenz bediente, um damit Genossen im Glauben herabzusetzen. Zu den Antidialektikern gehörten unter anderem der Kardinal Petrus Damiani (gest. 1072), der Augustinerchorherr Manegold von Lautenbach (gest. nach 1103), der Leiter der Klosterschule Bec Lanfrank (gest. 1089) und sein Schüler und Amtsnachfolger Anselm von Canterbury (gest. 1109). Zu den Dialektikern gehörten dagegen Anselm von Besate und Berengar von Tours (ca. 1015 – 1088), der angesehene Leiter der Domschule von Tours. Berengar ging in die Geistesgeschichte mit einem intellektuellen Vorstoß ein, der den sogenannten Abendmahlsstreit auslöste. Er unterzog die überlieferte Erzählung vom Abendmahl einer Neudeutung. Nach der zu seiner Zeit geläufigen traditionellen Deutung wird während einer Abendmahlsfeier durch bestimmte sprachliche Formeln des Priesters die Substanz des gereichten Brotes und Weines in die Substanz von Fleisch und Blut Christi verwandelt, so daß lediglich die äußerlichen Merkmale von Brot und Wein dabei erhalten bleiben. Nach der Neudeutung durch Berengar bleiben bei dem ganzen Akt Brot und Wein der Substanz nach unverändert, dafür aber würden sie zu einem Zeichen von Fleisch und Blut Christi erhoben, zu einem Zeichen, in Gestalt dessen Christus real präsent ist aber nicht dinglich, physisch präsent. Wie man sieht, eine der Sache nach vordergründig theologische Erzählung. Um so interessanter, daß ihm gerade diese theologische Angelegenheit den Vorwurf eintrug, ein Dialektiker zu sein, und er selbst im Streit mit Lanfrank sein erklärtermaßen dialektisches Denken verteidigte (Rescriptum contra Lanfrancum). Aber was genau an seinem Vorgehen soll das gewesen sein, das die einen der Dialektik bezichtigen und andere als dialektische Kunst verteidigen?

Nun, Berengar hat mit der bloßen Neudeutung die Abendmahlserzählung zu einer Streitfrage in dem anspruchsvollen Sinne der aristotelischen Dialektik erhoben. Werden Brot und Wein bei ihrer Darreichung im rituellen Abendmahl substantiell verwandelt oder nicht? Wird das Gereichte vielmehr zu einem Zeichen erhoben oder nicht? Diese Fragen stellt er sozusagen rückwirkend. Er wirft sie auf, indem er sie entscheidet. Sie tauchen hinter seiner in polemischer Diktion verfaßten Neudeutung auf. Damit hat er die Abendmahlserzählung im logischen Raum von Rede und Widerrede verortet. Damit wiederum war die Erzählung im Geltungsbereich einer Logik der Kontroverse plaziert, wo nur das begründende Bejahen und Verneinen zählt, allein das regelrechte Argumentieren anstelle der Macht der Tradition. Eben dies war es, was seinen Widersachern unerträglich anmuten mußte und sie demonstrativ als Antidialektiker reagieren ließ. Sie beharrten auf fraglose Treue zur Tradition und wollten dazu die Erzählung vom Abendmahl unbedingt aus dem Raum der Streitfragen, der Kontroverse, des Begründens heraushalten. Sie störte nicht diese oder jene Begründung, nicht das eine oder andere Argument, sondern daß das rituelle Abendmahl überhaupt zum Gegenstand einer begründenden, rationalen Rede und Gegenrede herabsinkt, wie sie das empfanden. Deshalb die Schmährede vom dialecticus. Die hintersinnige Botschaft dieser Rede: Der Dialektiker ist der Lieblingsfeind des Dogmatikers. Im 12. Jahrhundert wiederholte sich die Auseinandersetzung zwischen neuen Akteuren, vor allem zwischen Peter Abaelard (1079 – 1142) und Gilbert von Poittiers (gest. 1154) auf der einen Seite und Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) und Wilhelm von St. Thierry (gest. 1148) auf der anderen.

JA UND NEIN – PETER ABAELARD. Den Streit zwischen Dialektikern und Antidialektikern hat Peter vor allem mit seinem Text „Sic et non / Ja und Nein“ befeuert. Der Text ist in 158 Sätze gegliedert, die „questiones“ genannt werden. Es sind Sätze wie die nachstehenden: „Daß man allein an Gott glauben kann, und im Gegenteil.“ „Daß nichts aus Zufall wird, und im Gegenteil.“ „Daß die Werke der Menschen nichtig sind, und im Gegenteil.“ „Daß es aus keinem Grunde erlaubt ist, zu lügen, und im Gegenteil“ (Petri Abaelardi sic et non, quest. 3, 28, 39, 154). Alle 158 Sätze fungieren als Themen oder knappe Inhaltsangaben, unter denen dann die betreffenden Aussagen und die angekündigten Gegenteile in ausführlichen Fassungen zitiert werden. Sie werden zitiert aus, wie versichert wird, autorisierten Texten der Tradition, insbesondere aus Werken von Augustin. Die zitierten Aussagen stehen zueinander wie Behauptung und Gegenbehauptung, das heißt gegensätzlich. Das Pikante daran ist, daß Behauptung wie Gegenbehauptung zumeist auf denselben Autor, oder gar auf dasselbe Werk, zumindest aber auf dieselbe Traditionslinie zurückgehen. So auch bei dem bereits erwähnten 154. Satz, der vom Lügen handelt. Peter führt Aussagen von Augustin an, wonach bestimmten Lügen zugesprochen werden kann und muß, niemandem zu schaden aber jemandem zu nutzen. Darauf folgen Aussagen von demselben Denker, denen zufolge jegliches Lügen die Gesinnung verdirbt und zu verwerfen ist. Ein und derselbe Autor, darauf kommt es an, hat gewisse Lügen eingeräumt und zugleich jegliches Lügen verworfen. Der Leser spürt, wie Peter darauf baut, um nicht zu sagen: spekuliert, daß die kirchenväterliche Autorität des Augustin dem Aussagengegensatz ein besonderes Gewicht, ja Brisanz verleiht. Analog bei allen Sätzen. Bei denselben Autoritäten, denselben Werken und Traditionslinien finden sich zusammen mit bestimmten Auffassungen die gegenteiligen Auffassungen. Diese Konfiguration nährt Zweifel (dubitatio) an den Auffassungen. Den methodischen Zweifel erhebt Peter sogar zum Prinzip. „Zweifelnd gelangt man zur peinlich genauen Nachforschung (inqusitio), nachforschend gelangt man zur Wahrheit“, heißt es am Ende des Prologs von „Sic et Non“. Durch Zweifel zur Wahrheit. Der Zweifel verdichtet sich zu Streitfragen. Ist jegliches Lügen verwerflich oder nicht? Gibt es läßliche Lügen, weil und insofern sie niemandem schaden aber jemandem nützen, oder nicht? Ausgetragen werden diese Probleme in Kontroversen. Die Kontroverse, die Peter als nächste im Auge hat, ist die mit dem Autor, also das, was heute die Auseinandersetzung mit einem Autor und seinem Text genannt wird. Sie kann aber auch auswachsen zu einem Widerstreit zwischen verschiedenen Lesern über den gleichen Textfundus. In der so oder so geführten Kontroverse können die Akteure ihre kritische Prüfung bei den von Aristoteles gemeinten Topen ansetzen lassen. In Peters Sprache heißen die Topen mittlerweile „loci“, der einfache Plural von „locus / Ort“. Topen oder loci hat er in seinem umfänglichsten Werk, der „Dialectica“, systematisch durchmustert und aufgelistet (Dialectica tract. 3, lib. 1, cap. 1 – 19). In „Sic et Non“ wird davon einiges angedeutet. Etwa daß ein in der Behauptung wie in der Gegenbehauptung eingesetzter Begriff womöglich in verschiedenem Sinne zur Anwendung kommt, was zu prüfen ist. Bei diesen oder jenen Topen ansetzend, gelangt die Auseinandersetzung schlußendlich ans Ziel, und das Ziel ist die solutio controversiarum, die Lösung der Kontroversen. Das ganze Verfahren hebt in einer durchaus autoritären Diktion an. Es setzt bei Aussagen ein, die es kraft kirchenväterlicher und anderweitiger Autorität gelten läßt. Indem jedoch bei Autoritäten und autorisierten Texten interne Aussagengensätze aufgespürt werden, die sich autoritär gar nicht mehr beurteilen lassen, die es vielmehr kraft eigener Vernunft zu prüfen, zu hinterfragen, zu entscheiden gilt, treibt das Verfahren über seine autoritären Voraussetzungen hinaus.

Abb.: Pierre Abaelard und Heloise

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