Transzendentale Dialektik – Kant

Welchen Platz die Dialektik in der Philosophie von Kant einnimmt, zeichnet sich bereits  an der Gliederung seines bedeutendsten Werkes, der „Kritik der reinen Vernunft“,  ab. Die ganze Schrift gliedert sich in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre. Die zuerst ausgebreitete Elementarlehre besteht aus einer Ästhetik, die von Raum und Zeit als Anschauungsformen handelt, und einer Logik. Die Logik wiederum hebt mit einer Analytik an. Zum bei weitem größeren Teil aber besteht sie aus einer Dialektik. Der größte Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ ist der Dialektik gewidmet. Die Analytik, mit welcher die Logik beginnt, ist mit dem Verstand befaßt, insbesondere mit den Verstandesbegriffen, die auch Kategorien genannt werden. Die Dialektik hingegen hat rundum mit reiner Vernunft zu schaffen. Sie hat ihren „Sitz“, wie es anschaulich heißt, in der Vernunft. Mit einer gewissen Anhänglichkeit gegenüber der vom Verstand unterscheidbaren Vernunft war die Dialektik ja schon an ihrer Wiege vorgestellt worden, durch Platon. Nach Kant vollziehen sich die typisch dialektischen Bewegungen an und mit den Begriffen der reinen Vernunft. Er nennt sie „transzendentale Ideen“. Und eine Dialektik, die sich an und mit solchen Ideen vollzieht, heißt „transzendentale Dialektik“. Sie geschieht in bestimmten Formen des Schließens. Das sind die dialektischen Schlüsse. Es sollen genau drei sein. Der eine dialektische Schluß wird „Paralogismus der reinen Vernunft“ genannt, ein weiterer „Ideal der reinen Vernunft“. Der dritte trägt den Titel „Antinomie der reinen Vernunft“. Kant selbst hat unter den drei Formen dialektischen Schließens eine Form ausdrücklich ausgezeichnet: die Antinomie. Er rät sogar dazu, „daß der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nötigen.“ (Prolegommena, Kants ges. Schriften, Bd. IV, S. 341). In dieser Weise soll hier seine Dialektik vorgestellt werden, hauptsächlich entlang der sogenannten Antinomie.

WAS EINE ANTINOMIE IST. Sie ist der „Widerstreit der Gesetze“, definiert Kant (KrV, Kants ges. Schriften, Bd. III, S. 282). Der formelhafte Ausdruck „Widerstreit der Gesetze“ entspricht recht direkt der aus dem Griechischen geschöpften Wortbildung „Antinomie“. Das Wort geht nach der einen Seite hin auf „nomoi / Gesetze“ zurück und enthält andererseits die mit „wider“ übertragbaren Vorsilben „Anti“. „Wider“ und „Gesetze“ – Widerstreit der Gesetze. Die Sache selbst, die auf diese Weise bezeichnet wird, läßt sich in klassisch gewordenen Begriffen folgendermaßen fassen. Erstens. Eine Antinomie macht stets einen Widerspruch aus. Der Widerspruch wiederum, auch Kontradiktion genannt, will nicht mit einem Gegensatz verwechselt werden. Davon war bereits die Rede. Während bei einem Gegensatz, auch Konträres genannt, die äußersten Enden auf einer Abstufungsebene zusammenbestehen, liegt der Widerspruch in dem Zugleich von etwas mit seiner Negation. Jede Antinomie ist solch ein Zugleich von etwas mit seiner Negation, ein Widerspruch. Nur Widersprüche taugen zur Antinomie. Zweitens. Nicht jeder Widerspruch aber ist eine Antinomie. Die Antinomie macht einen besonderen Widerspruch aus. Es muß sich deshalb zwischen antinomischen und nicht antinomischen Widersprüchen unterscheiden lassen. Wann stellt ein Widerspruch in der Tat eine Antinomie dar? Wenn es sich bei ihm um einen beidseitig notwendigen, nach beiden Seiten hin notwendig bestimmten, beiderseits denknotwendigen Widerspruch handelt. Das meint die bündige Formel „Widerstreit der Gesetze“. Der Ausdruck „Gesetz“ steht dabei als Inbegriff von allem allgemein notwendig Bestimmten. Ein nicht antinomischer Widerspruch dagegen liegt vor, wenn die Behauptung von etwas und seiner Negation gerade nicht beiderseits denknotwendig geschieht, wenn sie also bestenfalls nach einer Seite hin notwendig begründet und zumindest nach der anderen Seite hin einem Mangel an Folgerichtigkeit und Kenntnis geschuldet ist. Solche Widersprüche dürfen getrost als Ungereimtheiten abqualifiziert werden.

Kant hat Antinomien stets und überall in der Form einer Verknüpfung von These und Antithese formuliert. Etwas und seine Negation wird in Gestalt einer These und ihrer Antithese behauptet und begründet. Deshalb nennt er die Antinomie gelegentlich auch Antithetik, ohne dabei eine Spezifizierung im Auge zu haben. Die antithetische Form, das sei wenigstens vermerkt, stellt nur eine mögliche Form der beidseitig notwendigen Widersprüche dar. Ferner hat Kant zwar den Ausdruck „Antinomie“ zum philosophischen Fachwort erhoben, nicht jedoch hat er die so benannte Art von Widersprüchen als erster entdeckt. Widersprüche zu behaupten, die nach der gegebenen Definition als antinomische bezeichnet werden dürfen, hat durchaus Tradition. Martin Luther beispielsweise ließ seinen Traktat „Von der Freiheit des Christenmenschen“ mit den Feststellungen beginnen, daß der Christenmensch jedermann untertan ist und daß er zugleich niemandem untertan ist, ein freies Wesen und kein freies Wesen. Er nannte dies „zwo widerständige Reden der Freiheit und Dienstbarkeit“. Unbeschadet ihrer Widerständigkeit fallen die beiden „Reden“ gleichermaßen denknotwendig aus, so daß für sie herauszufinden war, wie sie zwar zugleich gelten, aber doch nicht in der gleichen Hinsicht.

ANTINOMIEN DER REINEN THEORETISCHEN VERNUNFT. Vernunftbegabte Wesen fangen an, die Ausdehnung der Welt in Raum und Zeit zu denken, und sie tun das mit ihrer Vernunft, auf dem Niveau der Vernunft, unter möglichst weitgehender Ausschöpfung ihres Vernunftvermögens. Zu welchem Ergebnis gelangen sie auf Anhieb? Gehen sie folgerichtig vor, gelangen sie ganz natürlich, ja unvermeidlich – wie Kant versichert – zugleich zu einer These und ihrer Antithese. Die These lautet: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.“ Die Antithese besagt: „Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich.“ These und Antithese bilden einen Widerspruch, schließen sich zur Kontradiktion kurz. Zusammen mit These und Antithese wird etwas und seine Negation behauptet; die Antithese verneint die These in wesentlicher Hinsicht. Unbeschadet dessen stellen sich These wie Antithese im Ergebnis eines notwendigen Schließens ein, fallen sie beide denknotwendig aus. Damit die Erläuterung dieser Schlüsse nicht allzu weitläufig gerät, mag sie sich damit bescheiden, zu zeigen, wie sowohl die These als auch die Antithese hinsichtlich der zeitlichen Ausdehnung der Welt eine schlüssige Begründung findet. Wie wird zunächst die These „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit…“ begründet? Kant führt den Nachweis, indem er die gegenteilige Annahme auf ihre Konsequenzen hin überprüft. Angenommen, sagt er, die Welt hat keinen Anfang in der Zeit. Was impliziert das, was ergibt sich daraus, folgerichtiges Denken vorausgesetzt? Dann müßte bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt, bis zum heutigen Tag etwa, schon eine Ewigkeit verstrichen sein. Die Welt müßte bis zum heutigen Tag bereits eine unendliche Reihe von Ereignissen und Zuständen durchlaufen haben. Das ergibt sich folgerichtig in der Konsequenz, wenn kein zeitlicher Anfang der Welt angenommen wird. Eben diese Konsequenz führt jedoch in eine fatale Schwierigkeit. Eine unendliche Reihe von Ereignissen und Zuständen der Welt kann schließlich unmöglich abgeschlossen sein, vollendet sein; sie wird – als eine unendliche – zwangsläufig eine unvollendete, unabgeschlossene Reihe sein. Aber bis zum heutigen Tag, bis zu einem gegebenen Zeitpunkt kann eine unabgeschlossene, unvollendete Reihe von Ereignissen gar nicht durchlaufen worden sein. Mithin aber auch keine Ewigkeit. Bis zum heutigen Tag müßte jedoch eine Ewigkeit verstrichen sein, damit folgerichtig eine Welt ganz ohne zeitlichen Anfang angenommen werden kann. Folglich kann man das nicht annehmen und muß statt dessen in der These behaupten: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit. Was zu beweisen war. Sodann erfährt auch die Antithese „Die Welt hat keinen Anfang…“ eine Begründung. Wieder führt Kant den Nachweis, indem er die gegenteilige Annahme auf ihre Konsequenzen hin prüft. Nehmen wir an, die Welt hat einen zeitlichen Anfang, wie das in der These behauptet wird. Was ergibt sich uns dann? Dann müßte der Welt und ihrem Anfangen eine Zeit vorausgegangen sein, und diese vorgängige Zeit müßte zweifellos eine leere Zeit gewesen sein. Wenn die Welt einen Anfang hätte, müßte also vor ihrem Anfangen eine leere Zeit verflossen sein. Das ist die Konsequenz. Nun kann aber in einer leeren Zeit nichts, rein gar nichts entstehen. Mithin kann in einer leeren Zeit auch die Welt unmöglich entstanden sein und ihren Anfang genommen haben. Das müßte sie aber, wenn sich für sie überhaupt ein zeitlicher Anfang folgerichtig behaupten lassen soll. Folglich kann das nicht behauptet werden. Statt dessen muß die Antithese besagen: Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit. Was zu beweisen war. Leicht erkennt man an den nachvollzogenen Beweisen jenes Erkennen rein in Begriffen wieder, an das bereits Platon die Dialektik gebunden sah. Analog wird hinsichtlich der Ausdehnung der Welt im Raum verfahren. Die These über die Ausdehnung der Welt in Zeit und Raum und ihre Antithese bilden einen beidseitig notwendig bestimmten Widerspruch, eine Antinomie also. Es ist die erste von vier Antinomien der reinen theoretischen Vernunft, die Kant präsentiert.

ÜBERSICHT. Um alle vier an dieser Stelle aufzulisten. Erste Antinomie der reinen theoretischen Vernunft: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.“ – „Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich.“ Zweite Antinomie: „Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.“ – „Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben.“ Dritte Antinomie: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ – „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ Vierte Antinomie: „Zu der Welt gehört etwas, daß entweder als ihr Teil oder als ihre Ursache ein schlechthin notwendiges Wesen ist.“ – „Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt noch außer der Welt als ihre Ursache.“ In allen vier Fällen handelt es sich um richtiggehende Widersprüche, um Kontradiktionen. Stets verneint die Antithese die These in einer wesentlichen Hinsicht. Ferner handelt es sich bei diesen Widersprüchen allen Ernstes um beidseitig denknotwendige. In allen vier Fällen zeigt Kant, wie sehr nicht nur die These notwendige Gründe auf der Seite hat, sondern ebenso auch ihre Antithese. Sobald wir unsere Vernunft, führt er näher aus, über die Grenze des Verstandes hinaus auszudehnen wagen, und das macht die Vernunft natürlich aus, ergeben sich Lehrsätze, von denen ein jeder „sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher Weise der Gegensatz ebenso gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat.“ (Ebenda, S. 290). – Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, daß auch in der „Kritik der praktischen Vernunft“ und in der „Kritik der Urteilskraft“ bestimmte Antinomien aufgestellt werden, die allerdings ideengeschichtlich eine erheblich geringere Rolle gespielt haben als die der reinen theoretischen Vernunft.

WIE DIE BEHAUPTUNG ANTINOMISCHER WIDERSPRÜCHE ZUM TRADIERTEN WIDERSPRUCHSVERBOT STEHT. In der Geschichte der Philosophie geht bekanntlich eine Art Widerspruchsverbot um: der Satz vom ausgeschlossenen und auszuschließenden Widerspruch, der kurz „Satz des Widerspruchs“ genannt wird. Die vorgestellten Antinomien, obgleich Widersprüche, verletzen diesen Satz nicht. Jedenfalls verletzen sie den Satz nicht in derjenigen Fassung, die ihm Kant eigens gegeben hat. Er unterzog den überkommenen und namentlich auf Aristoteles zurückgehenden Satz einer Neuformulierung. In einer von Aristoteles selbst stammenden und besonders wirkungsmächtigen Formulierungen lautet der Satz: „Es ist unmöglich, daß demselben dasselbe zugleich und in derselben Hinsicht zukomme und nicht zukomme.“ (Met. 1005b 18 – 20). Wird derlei dennoch behauptet, so ist die Behauptung logisch unrichtig. Dagegen stellt Kant folgende Fassung des Satzes vom Widerspruch: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“ (KrV, a. a. O., S. 41). So formuliert, gebietet der Satz, daß Urteile niemals sich selbst widersprechen dürfen. Nach Aristoteles verwickelt sich in einen ausgeschlossenen und eigentlich zu vermeidenden Widerspruch, wer beispielsweise behauptet, daß dieselbe Person zugleich und in derselben Hinsicht gelehrt und ungelehrt sei. Nach Kant darf er sehr wohl und ungeschoren behaupten, dieselbe Person sei zugleich und in derselben Hinsicht gelehrt und ungelehrt. Was er dagegen nicht fehlerfrei behaupten kann, ist, daß ein Gelehrter ungelehrt sei. Die zitierte aristotelische Fassung des Satzes vom Widerspruch schließt es aus, demselben Subjektbegriff in derselben Hinsicht zwei Prädikate zuzuschreiben, von denen das eine das andere verneint. Der auszuschließende Widerspruch ist danach ein Verhältnis zwischen den Prädikaten eines Subjektbegriffes. Er ist kurz gesagt ein Prädikatenwiderspruch. Anders die von Kant gegebene Fassung des fraglichen Satzes. Sie schließt nicht aus, daß die Prädikate eines Subjektes einander widersprechen, vielmehr schließt sie es aus, daß ein Prädikat seinem Subjektbegriff widerspricht. Nicht daß ein Prädikat das andere verneint, sei danach unmöglich, sondern nur, daß ein Prädikat seinen Subjektbegriff verneint. Den Subjekt-Prädikat-Widerspruch untersagt Kants Fassung, nicht den Prädikatenwiderspruch. Gemessen an der aristotelischen Fassung des berühmten Satzes stellen die von Kant vorgestellten Antinomien durchweg zu vermeidende Widersprüche dar. Denn sie sind allesamt Prädikatenwidersprüche. Gemessen an der von Kant selbst gegebenen Neufassung hingegen schneiden die Antinomien als logisch korrekt ab. Ein Subjektbegriff wie der Begriff der Welt bekommt zwar in den Thesen und Antithesen einander widersprechende Prädikate zugeschrieben, allerdings ohne daß die Prädikate dem Subjektbegriff „Welt“ widersprechen würden. These und Antithese widersprechen dabei einander, statt daß das in der These gegebene Urteil oder das in der Antithese gegebene Urteil sich selbst widersprechen würde. Danach gehören die Antinomien keineswegs zu den Widersprüchen, die ein Satz des Widerspruchs auszuschließen, zu verbieten hat. Das heißt, es handelt sich bei ihnen gerade nicht um Widersprüche, mit deren Behauptung man einen logischen Denkfehler begangen hat, der eigentlich zu vermeiden gewesen wäre und nunmehr wenigstens nachträglich zu verwerfen sei. In Gestalt der Antinomien, betont Kant, zeigt sich „ein neues Phänomen der menschlichen Vernunft, nämlich: eine ganz natürlich Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät“ (Ebenda, S. 282).

DER FOLGERICHTIG GEDACHTE WIDERSPRUCH IST WIE EINE TRIEBKRAFT. Er treibt das Denken weiter. Weder kann er – wegen seiner Denknotwendigkeit – einfach gestrichen werden, noch kann er – wegen seiner logischen Spannung – einfach stehen bleiben. Durch ihn sieht sich die Vernunft gezwungen, etwas zu tun. Kant zufolge zwingt er die Vernunft zu einer Selbstüberprüfung. Die Selbstprüfung soll auf dem Wege einer kritischen Hinterfragung der Antinomien samt ihrer Beweise geschehen. Kant selbst spricht in dem Zusammenhang auch von einer „Behebung“ und „Auflösung“ der Antinomien. Lauter Ausdrücke, die zu einem Mißverständnis verführen können: als gelte es die Antinomien zu tilgen. Tatsächlich zielt ihre kritische Hinterfragung auf nichts weniger als darauf. Sie versucht nicht, die Antinomien mit ihren Beweisführungen als logische Denkfehler zu überführen, die eigentlich zu vermeiden gewesen wären und, einmal begangen, wenigsten nachträglich verworfen werden müßten. Statt dessen geht sie wie vor? Sie verfolgt die Begründungen der Thesen und Antithesen bis auf ihre Ausgangspunkte zurück. Sie verfolgt sie sogar bis auf ihre gedanklichen Unterstellungen zurück. Sie hinterfragt sie, erfragt, was die Begründungen stillschweigend voraussetzen, welche unausgesprochene Voraussetzung sie machen. Um schließlich diese Voraussetzung auf Wahrheit oder Falschheit zu prüfen.

HINTERFRAGEN DER ANTINOMIEN. Worin besteht die unausgesprochene Voraussetzung, die alle Antinomien der reinen Vernunft machen? Sie setzen stillschweigend einen bestimmten Status der Welt voraus. Sie unterstellen die Welt als ein Ding an sich selbst bzw. als Inbegriff der Dinge an sich selbst. Die Welt bestehe an sich, das heißt, sie bestehe nicht nur für uns, sondern gegebenenfalls auch ohne uns; die sinnlich wahrgenommene Welt existiere an sich, das heißt, sie existiere nicht nur in der Wahrnehmung, sondern schon jenseits derselben – das unterstellen alle vier Antinomien der reinen theoretischen Vernunft. So auch die erste unter ihnen. Sowohl deren These, daß die Welt in Zeit und Raum endlich sei, als auch die Antithese, daß die Welt in Zeit und Raum unendlich sei, setzt die Welt als eine an sich seiende voraus. Wenn überhaupt, so kann eine Welt nur endlich oder unendlich ausgedehnt sein, indem sie an sich endlich und an sich unendlich ausfällt. Das also ist die von den Begründungen der Antinomien vorausgesetzte Annahme, die es auf Wahrheit oder Falschheit hin zu prüfen gilt. Das Prüfergebnis, das Kant schließlich wie einen Befund ausstellt, lautet: Die Schlüsse, die zur Aufstellung der Thesen und Antithesen führten, waren sorgfältig, waren logisch korrekt; die formulierten antinomischen Widersprüche sind und bleiben jeweils nach beiden Seiten hin denknotwendig. Allerdings nur unter einer Voraussetzung. Es sind denknotwendige Widersprüche alleinunter der Vorraussetzung, daß die Welt wie ein Ding an sich selbst bestehe. Und diese Voraussetzung, befindet Kant, ist falsch. „Man sieht daraus, daß die obigen Beweise der vierfachen Antinomie nicht Blendwerke, sondern gründlich waren, unter der Voraussetzung nämlich, daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären. Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge als Gegenstände der Sinne.“ (Ebenda, S. 348). Worin soll diese „wahre Beschaffenheit“ bestehen, was sei statt der Verwechselung der Welt und ihrer Erscheinungen mit Dingen an sich selbst anzunehmen? Zum einen: Die Welt ist nicht der Inbegriff aller Dinge an sich selbst, sondern „Inbegriff aller Erscheinungen“ (Ebenda, S. 289). Zum anderen: Die Erscheinungen wiederum bestehen nicht an sich, sondern nur für uns. Anders als die Dinge an sich selbst bilden die Erscheinungen durchweg bloße Vorstellungen, die „außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben.“ (Ebenda, S. 338). Das sind Kernthesen einer Konzeption, die Kant  „transzendentalen Idealismus“ nennt. Unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus werden dann jene Schlüsse, die auf Anhieb in Antinomien mündeten, neu aufgerollt.

EINE ART LÖSUNG. Aus der korrigierten Grundannahme über die Welt ergeben sich hinsichtlich ihrer Größe, Struktur usw. Folgerungen, die anders ausfallen als die antinomisch widersprüchlichen Thesen und Antithesen. Diese Folgerungen werden als eine Art Lösung der Antinomien präsentiert. Um das wieder an dem bereits vertrauten Fall der ersten Antinomie beispielhaft zu verdeutlichen. Die Welt ist in Zeit und Raum sowohl endlich als auch unendlich – das besagt diese Antinomie. Wird nun gebührend in Rechnung gestellt, wie sehr die Welt den Inbegriff aller Erscheinungen und nicht aller Dinge an sich selbst ausmacht, so erschließen sich die nachstehenden Folgerungen. Zunächst ergibt sich, daß die Welt weder an sich endlich noch an sich unendlich ist, und dies schon deshalb, weil eine Welt gar nichts an sich zu sein vermag (ebenda, S. 346/47). Was gar nicht an sich existiert und nichts an sich ausmacht, kann auch an sich weder endlich noch unendlich sein. Danach fragt sich, wenn die Welt weder das eine noch das andere zu sein vermag, was ist sie dann ihrer raumzeitlichen Größe nach? Die Welt, so die Antwort, ist die Sukzession der Erscheinungen, und diese Sukzession geht in indefinitum. Das heißt: Der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, besteht in den Erscheinungen, in den Gegenständen der Erfahrung, die allein im Erfahren gegeben sind, in den Gegenständen der Wahrnehmung, die einzig im Wahrnehmen gegeben sind, usw. Diese Gegenstände bzw. Erscheinungen tauchen nach und nach auf, peu à peu, sukzessiv, in einer Abfolge oder Sukzession. Und von dieser Abfolge läßt sich mit Gewißheit sagen, daß sie immer weiter geht, wieder und wieder weitere Erscheinungen auftauchen läßt, ohne Grenze. Ein Tatbestand, der sich mit dem Wort „infinitum / unendlich“ nicht treffend auf den Begriff bringen läßt. Das leistet vielmehr ein Begriff, den Kant bei den Cartesianern aufbereitet vorfindet, der Begriff „in indefinitum / ohne Grenze“. Die Welt ist kein endlich oder unendlich ausgedehntes Ganzes, schon gar nicht an sich, sondern ihre Ausdehnung geht immer weiter, ohne Grenze, in indefinitum. Das meint die gegebene Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen raumzeitlichen Größe der Welt – daß die Welt in einer Sukzession der Erscheinungen besteht, die in indefinitum geht. Sie  versteht sich als eine Art Lösung der einschlägigen Antinomie. In ähnlicher Weise wird bei den anderen Antinomien verfahren.

DAS DIALEKTISCHE AN DER TRANSZENDENTALEN DIALEKTIK.  Es besteht in der Logik einer Selbstüberschreitung der Vernunft. Diese Selbstüberschreitung führt von einer Vernunft, die ihre fundamentale Annahme voraussetzt, zu einer Vernunft, die ihre fundamentale Annahme selbst setzt. Erstens. Menschliche Vernunft kann nicht anders anfangen, als mit einer Verfassung, die man zu Kants Zeiten die „gemeine Menschenvernunft“ nennt. Eine spontane, naturwüchsige und darum auch allgemein verbreitete Vernunft. Zu ihr gehört eine Grundannahme, die als naiver Realismus bezeichnet werden darf. Beim naiven Realismus handelt es sich um eine von der Vernunft vorausgesetzte, von ihr unterstellte Annahme. Es ist die von ihr allenthalben stillschweigend und fraglos mitgedachte Annahme, die Welt, Raum und Zeit sowie die raumzeitlich angeordneten Erscheinungen dieser Welt existierten an sich, bestünden nicht nur für uns, sondern gegebenenfalls sogar ohne uns. Zweitens. Den naiven Realismus schlicht voraussetzend, gewinnt die Vernunft auf logisch zwingende Weise Aussagen über die Welt, die sich zu antinomisch widersprüchlichen Thesen und Antithesen kurzschließen. So unumgänglich die Vernunft als gemeine Menschenvernunft anhebt, so unvermeidlich ergeben sich ihr die antinomischen Widersprüche. Drittens. Da die Antinomien zwar aus einer naiven Voraussetzung geschlossen, aber doch daraus logisch richtig gefolgert wurden, können sie nicht als logische Denkfehler abgetan werden; so fangen sie an, logisch zwingende Wirkungen zu zeitigen innerhalb der Vernunft: sie machen die Vernunft gewissermaßen stutzig, nötigen sie dazu, sich ihrer vorausgesetzten, fraglos mitgedachten Grundannahme zu vergewissern und treiben dieserart zu ihrer Selbstüberprüfung. Viertens. Diese Selbstüberprüfung entdeckt: die Beweise der vierfachen Antinomie waren kein eitel Blendwerk, waren gründlich und sorgfältig, allerdings nur unter einer Voraussetzung, die näher besehen „eine Falschheit“ aufweist. Und die besteht in dem naiven Realismus der gemeinen Menschenvernunft. Fünftens. Nach der von Kant gegebenen Regieanweisung hat die Vernunft sodann an die Stelle des naiven Realismus eine als transzendentaler Idealismus bezeichnete Grundannahme zu setzen. Dazu sei wenigstens angemerkt, daß dieser Tausch nicht zwingend kommt. Gewiß überschreitet jener Idealismus das Naive am naiven Realismus. Aber eben diese Überschreitung des Naiven am naiven Realismus wäre auch noch auf eine andere Weise möglich, nämlich durch einen, sagen wir, nicht mehr naiven, sondern reflektierten, aufgeklärten Realismus. Wie dem auch sei. Kant jedenfalls sieht die Vernunft so vorgehen, daß sie ihre naiv realistische Voraussetzung durch eine idealistische Grundannahme aufhebt. Genau genommen handelt es sich bei der novellierten Grundannahme nicht mehr um eine gedankliche Voraussetzung, sondern um eine selbst gesetzte Grundannahme, um eine Selbstfundierung der Vernunft. Sechstens. Von der selbstgesetzten Grundannahme ausgehend, gelangt die Vernunft schließlich zu Aussagen über die Welt, die anders als antinomisch ausfallen, und die als eine Art Lösung der Antinomien präsentiert werden. – Damit ist die Selbstüberschreitung der Vernunft vollzogen. Die Vernunft, die nicht anders anfangen kann als auf dem Niveau einer in naiven Voraussetzungen befangenen geistigen Kraft, geht – angestachelt und gespornt durch die Widersprüche, in die sie sich unvermeidlich verwickeln mußte – über sich hinaus, weg von einer naiv voraussetzenden Vernunft, hin zu einer über ihre Voraussetzungen aufgeklärten und selbstfundierten Vernunft. Eine solche Bewegung, eine die stillschweigend gemachten Voraussetzungen aufhebende Entwicklung der Vernunft hat bereits Platon als etwas typisch Dialektisches ausgemacht. Freilich ließe sich genau diese Entwicklung ebensogut durchlaufen, wenn dabei der naive Realismus durch einen reflektierten Realismus aufgehoben würde.

Abb.: Wolfgang Mattheuer, Zwiespalt, Öl auf Leinwand, 1980 – 1982, Haus der Geschichte, Bonn

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