Die sogenannte Uhrzeit

Ob im folgenden abkürzend von der Uhrzeit gesprochen wird, unter stillschweigendem Einschluß der Kalenderzeit, oder ausführlicher von der Kalender- und Uhrzeit, in Rede stehen wird dabei durchweg jenes Messen, das wir näher besehen meinen und eigentlich nur meinen können, wenn wir behaupten, die Zeit zu messen, allen Ernstes die Zeit. Dieses Messen praktizieren wir mittlerweile in sehr vielfältigen und entwickelten Formen, in allen Formen folgt es jedoch einem schlichten urtümlichen Muster. Zunächst haben wir unter überschaubaren Bewegungen einige wenige, stets aber zyklische ausgezeichnet. So den Umlauf von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang, für den erwiesen ist, nicht in einem Umlauf der Sonne um die Erde, sondern in der Erdrotation zu bestehen. Außerdem die Bewegung des Mondes von einer Phase bis zum Wiedereintritt in die gleiche Phase, von Vollmond zu Vollmond beispielsweise. Ferner den Umlauf von Winter zu Winter oder von Frühling zu Frühling usw. Bekanntlich fällt er in der einen wie in der anderen Ansetzung mit dem Umlauf der Erde um die Sonne zusammen. Sodann haben wir die ausgezeichneten Bewegungen zu Standardbewegungen erkoren. Sie wurden – als Tag, Monat und Jahr bezeichnet – zu einem Maßstab für alle anderen Bewegungen kultiviert. Schließlich messen wir beliebige Bewegungen am Maßstab der Standardbewegungen, und das heißt, wir ermitteln beliebige Bewegungen als ein Bruchteil oder Vielfaches der Standardbewegungen. Dieserart bieten sie sich als sekundenlange, stundenlange, tagelange, jahrelange usw. dar. So ungefähr die minimale Anatomie der Uhrzeit. Eine recht karge Struktur. Leicht ließe sich deren knappe Beschreibung mit vielen interessanten und wichtigen Details anreichern und der vertrauten Praxis modernen Zeitmessens fortschreitend annähern. Daß wir seit der Renaissance für die genannten natürlichen Standardbewegungen zunehmend künstliche Stellvertreter eingesetzt haben, als erstes die von Christian Huygens dafür nutzbar gemachte periodische Bewegung eines Schwerependels, daß die natürlichen Standardbewegungen zudem nicht gleichmäßig sind, u. a. wegen der Wirkung der Gezeiten auf die Erdrotation ungleichmäßig verlaufen und darum einer gewissen Ausgleichung unterzogen wurden, indem wir, statt weiter mit dem wahren Sonnenjahr zu rechnen, erst mit einem mittleren Sonnenjahr und schließlich mit einem festgesetzten tropischen Jahr zu operieren begannen, daß überdies das Sonnenjahr mit seinen 365 Tagen nicht alternativlos ist, sondern kalendergeschichtlich mit einem Mondjahr von 354 Tagen konkurriert, an dem der islamische Kalender ungebrochen festhält – Details von solchem Gewicht ließen sich seitenweise nachreichen. Wenn es an dieser Stelle bei der Andeutung ihrer Vielfalt bleiben soll, so nur deshalb, weil ihre Kenntnis die philosophische Hauptfrage des sogenannten Zeitmessens einer Beantwortung um keinen Deut näherzubringen vermag. Die Hauptfrage lautet: Wie verhält sich die Kalender- und Uhrzeit überhaupt zur Zeit? Die Antwort läuft auf folgende Einsicht hinaus: Das gemeinhin als Uhrzeit bezeichnete Messen trägt weniger zu Recht als zu Unrecht den Namen der Zeit; unter dem geläufigen Terminus technicus messen wir etwas anderes als die Zeit.

DIE ZEITLICHE LÄNGE. Das uhrzeitliche Messen hat ein Gebilde zum Gegenstand, das man für gewöhnlich und durchaus treffend die zeitliche Länge nennt. Nicht zufällig finden sich unter den Gemeinplätzen der Uhrzeit zuhauf Abkömmlinge des Längenbegriffs. Die Theateraufführung ging über die volle Länge von fünf Stunden, heißt es zum Beispiel, trotz der Überlänge erhob sich im Anschluß minutenlanger Beifall, und die Spielzeit soll verlängert werden. Selbstredend ist dabei durchweg an eine spezifisch zeitliche Länge gedacht, aber gerade diese Selbstverständlichkeit darf wundernehmen, weil doch die Länge per se mit Breite und Tiefe korreliert und in diesem Verbund ganz dem Raum angehört, so daß die Fügung zeitliche Länge einem hölzernen Eisen von besonderer Dreistigkeit gleichkommt. Was ist das, die zeitliche Länge? Eine Darstellung der Zeit an den Ereignissen, eine Gestalt des Zeitigens, ein Gebilde, in Gestalt dessen sich die genuin zeitliche Dauer an der typisch räumlichen Ausdehnung von Ereignisbewegungen darstellt. Fast sämtliche Ereignisse geschehen ja auch im Raum, viele davon vollziehen sich zumindest in gewisser Hinsicht als Ortsveränderungen. Das betrifft zumal die Standardbewegungen der Uhrzeit, die als Tag bezeichnete etwa. Deren räumliche Dynamik ist die der Erdumdrehung, ihre Länge die der Bahn, die ein gewisser Ort auf der Erdoberfläche während einer Rotation durchläuft. Wobei es sich voll und ganz um eigentliche Länge handelt, um die räumliche, um Längenausdehnung, sogar um die einer Ortsveränderung. Diese Ortsveränderung mit ihrer robusten Räumlichkeit geschieht nun in der Zeit, und in ihrem Bezug zur Zeit, der natürlich nicht nachträglich dazukommt, sondern mehr als jeder andere Bezug von vornherein besteht, bietet sich ihre Längenausdehnung wie verwandelt dar, mit einer Merkwürdigkeit, die der eines hölzernen Eisens in nichts nachsteht. In der Zeit zu geschehen, das bedeutet schließlich kaum etwas weniger als innerhalb einer Umgebung zu geschehen, innerhalb einer Umwelt, einer Welt drum herum zu passieren. Die Zeit differiert mit dem Raum, differiert auch mit der Längenausdehnung der thematisierten Ortsveränderung, statt sich von ihnen bloß zu unterscheiden. Weder macht sie einen Raum noch einen Nicht-Raum aus. Folglich kann sie dieser Ortsveränderung ebensowenig innerlich eigen sein wie schlechthin äußerlich bleiben. Innerlichkeit und Äußerlichkeit liegen der Zeit überhaupt fern, in jeder Beziehung erweist sie sich als völlig unfähig, irgendeinem Gegebenen oder Seienden innerlich eigen zu sein, und noch mehr, ihm schlicht äußerlich zu bleiben. Darum muß die Ortsveränderung von bestimmter Längenausdehnung, als welche sich die Tag genannte Rotation in einer Hinsicht vollzieht, gerade in dieser Hinsicht, ausgerechnet als eine länglich ausgedehnte, die Zeitlichkeit anziehen, auf sich ziehen, annehmen, von ihr durchdringend erfaßt werden, kurz: sie verräumlichen. Und das natürlich mehr in der eigenen, räumlichen Art als in der Art der Zeit. So wird die Bahn der Erdumdrehung derart in der Zeit durchlaufen, daß ihre Längenausdehnung selbst zum temporären Intervall, zur zeitlichen Spanne, zur Ausdehnung zwischen Zeitpunkten gerät. Die Zeitlichkeit erstreckt sich auf einmal über die Längenausdehnung, sie verteilt sich auf die fein oder grob anzusetzenden Streckenabschnitte. Sie teilt sich auf. Der halben Wegstrecke entspricht ein halber Tag, dem Halbkreis eine Halbzeit, jedem Raumpunkt ein Zeitpunkt. Daran schließt die Praxis der sogenannten Zeiteinteilung, die einer einteilbaren Zeitlichkeit, folgerichtig an. Während sich meinem Gedankengang die Zeit doch bereits im Ansatz als unteilbar dargeboten hat. Das Nacheinander, als das die Ortsveränderung auf der Bahn der Erdumdrehung geschieht, indem ein Ort die Bahn peu à peu, Abschnitt für Abschnitt absolviert, dieses ausgesprochen räumliche Nacheinander strukturiert sodann auch das Zeitigen, durchformt es zur Sukzession, zur Aufeinanderfolge von Jetztpunkten, von denen ein jeder mit einem Nachfolger schwanger geht und einen Vorgänger hinterläßt. Während der Zeit eigentlich alle Sukzession fern liegen müßte, weil Sukzessionen eine besondere Teilbarkeit voraussetzen und prozessieren lassen. In der skizzierten Art und Weise ergibt sich eine mit Zeitlichkeit gleichsam aufgeladene Längenausdehnung, ergibt sich genau die zeitliche Länge, die der Begriff des Tages näher besehen meint und im Vergleich mit der sich beliebige Ereignisse als ein Bruchteil oder Vielfaches davon ermitteln, d. h. zeitbezogen messen lassen. Dergestalt stellt sich Zeit dar. Und diese ihre Darstellung verstellt sie offenbar auch, in einer Hinsicht sogar bis zur Unkenntlichkeit. Die zeitliche Länge ist nach allen Seiten hin teilbar, einteilbar, verteilbar. Die Zeit dagegen, die davon auch nur im Geringsten durch irgendeine Innen-Außen-Distanz getrennt bestehen kann, aber doch damit differiert, sie muß vor Verwechslungen mit dem Teilbaren bewahrt werden. Auch ohne bereits ein volleres Verständnis für ihre Individualität gewonnen zu haben, soviel zumindest gilt es im weiteren Nachdenken über sie strikt einzuhalten: Daß sie ein genuines Individuum ausmacht und insofern eben etwas Unteilbares. Weshalb es von ihrer Darstellung mit Recht heißen darf: Unteilbares stellt sich teilbar dar. Darstellung als Verstellung.

DARUM DIE EINSCHRÄNKENDE REDE VON DER SOGENANNTEN UHRZEIT: Was wir messen, wenn wir sagen und meinen, wir würden die Zeit messen, ist in Wahrheit die zeitliche Länge von Bewegungen, eine schlierige Gestalt des Zeitigens, und schon insofern mit Sicherheit etwas anderes als die Zeit, gleichwohl auch etwas anderes als keine Zeit, als eine Nicht-Zeit. Außerdem können wir dabei höchstens das Zeitigen von Ereignisbewegungen mit einer für Entitäten typischen Abgegrenztheit messen. Und indem wir es bloß zu messen bekommen, rangiert es noch nicht einmal direkt als das Gezählte. All dies soll hier der Uhrzeit keineswegs in der Art eilfertiger Kulturkritik angelastet werden. Offensichtlich erfüllt sie ihren kulturellen Zweck. Solange sie nur leisten sollte, was sie zu leisten vermag, tat sie das mit zunehmender Genauigkeit. Wehe allerdings, von ihr wird mehr verlangt, wehe, sie wird zum Paradigma der Zeitlichkeit schlechthin und überhaupt überhöht.

Abb.:

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