Das antithetische Verfahren – Thomas von Aquin

Die topische Dialektik wird in den vielen Jahrhunderten ihrer vergleichsweise intensiven Ausübung immer wieder weiterentwickelt. Zumeist geschieht das auf dem Wege der Ergänzung und Differenzierung. So etwa wenn Albert von Sachsen (1316 – 1390) innerhalb seiner „Logik“ die „dialektischen Topen“ in einer Weise klassifiziert (Logik IV, 18 – 26), die sich weder bei Aristoteles noch bei Cicero findet, aber doch ihrer Absicht folgt, Topen aufzulisten, Ansatzpunkte für die Prüfung und Widerlegung eines aufgestellten Satzes auszuzeichnen und zu sortieren. Zuweilen tauchen dann noch Verfahrensideen anderer Art auf. Sie sind unverkennbar inspiriert von der Topik, zugleich überschreiten sie sichtlich deren Denkansatz. Vor allem gilt das für ein Verfahren des Thomas von Aquin (1224 – 1274), das als antithetisches Verfahren bezeichnet werden kann. In Reinform bedient sich Thomas des Verfahrens bei der Abfassung zweier Schriften, der „Summa theologica“ und der „Questiones disputatae“. In beiden Werken untersteht jedes der überaus zahlreichen Kapitel einer Problemfrage. Zum Beispiel der Frage, ob mit dem Wirken der Natur ein Schöpfungsvorgang verbunden ist (Quest. 7.1, qu. 3 a. 8; Sum. Theol. I, qu. 45 a. 8). Oder, ob aus dem Einen eine Vielheit hervorgehen kann (Quest. 7.1, qu. 3 a. 16; Sum. Theol. I, qu. 47 a. 1), ob die Welt immer schon gewesen ist (Quest. 7.1, qu. 3 a. 17; Sum. Theol. I, qu. 46 a. 1). Die Entscheidung solcher Fragen erfolgt in einem markanten Dreischritt.

Als erstes wird unter der ausdrücklichen oder faktischen Rubrizierung „Praeterea“ aufgeführt, was alles für die jeweils naheliegende Beantwortung spricht, mag das eine bejahende oder eine verneinende Antwort sein. Bereits dieser erste Schritt hat die Form der Argumentation. Vorzugsweise geht Thomas dabei so vor, daß er aus biblischen Gedanken, aus Thesen viel gelesener Vordenker und aus zu seiner Zeit verbreiteten Auffassungen Schlußfolgerungen ableitet, Konsequenzen zieht, die in die gewählte Antwortrichtung weisen.

Als zweites wird unter der Rubrik „Sed contra / dagegen (spricht)“ angeführt, was gegen die auf Anhieb in Betracht gezogene Beantwortung der Frage geltend gemacht werden kann. Wieder werden aus Gedanken von vielfältiger Abkunft Schlußfolgerungen abgeleitet, nur daß die den im ersten Schritt gezogenen Schlußfolgerungen zuwiderlaufen und die gegenteilige Beantwortung der Problemfrage stützen.

Darauf folgt ein dritter Schritt, unter der Rubrik „Respondeo / Antworten, Erwidern“. Thomas erwidert auf die von ihm gerade mit Argumenten untersetzten gegenläufigen Beantwortungen der Problemfrage. Dieses Verhalten zu ihnen setzt die beiden Antworten als These und Antithese. Die Erwiderung führt eine begründete Entscheidung über These und Antithese herbei und entscheidet so die Problemfrage.

Dieses dreistufige Vorgehen meint der Titel „antithetisches Verfahren“. Von der überkommenen Topik inspiriert zeigt es sich vor allem in einer Hinsicht: Überlegene Erkenntnis, das ist seine leitende Überzeugung, gewinnt man in der Kontroverse. Nicht nur um der Verbreitung der Wahrheit willen, schon um der Wahrheitsfindung willen muß man sich auf den Widerspruch in Gestalt des Einander – Widersprechens einlassen.

Über den Denkansatz der Topik hinaus geht das antithetische Verfahren in mehrfacher Hinsicht. So ist die Kontroverse bei ihm eine inszenierte. Thomas selbst bringt biblische Gedanken, theoriegeschichtlich bedeutsame Auffassungen und zu seiner Zeit verbreitete Thesen miteinander ins Gespräch, ins Streitgespräch, indem er aus ihnen Konsequenzen zieht, die einander widersprechen und gerade als solche aufgeboten werden. In Gestalt dieser Konsequenzen widerspricht Thomas aber nicht sich selbst. Es sind sozusagen virtuelle Kontrahenten, die hinter den einander zuwiderlaufenden Konsequenzen auftauchen. Zudem erweitert Thomas die Kontroverse um eine ganze Dimension. In der Topik des Aristoteles und des Cicero fällt sie gewissermaßen zweidimensional aus, einer Fläche gleich. Es gibt einen aufgestellten Satz und der wird von einem Kontrahenten widerlegt. Etwas Ähnliches geschieht auch beim antithetischen Verfahren, innerhalb der beiden ersten Rubriken „Praeterea“ und „Sed contra“. In der Rubrik „Respondeo“ aber wird die Konstellation gleichsam zum logischen Raum vertieft. Ein These, eine Antithese und die Erwiderung des Autors auf beide machen jetzt die ganze Kontroverse aus. Innerhalb einer derart erweiterten Konstellation kann sie einen Ausgang nehmen, der im Denkansatz der Topik überhaupt nicht vorgesehen ist. Eine Erwiderung, die nicht allein eine These, sondern auch deren Antithese prüft, die sowohl zu der Beantwortung einer Problemfrage als auch zu der gegenteiligen Beantwortung Stellung nimmt, kann wohlbegründet ein Weder – Noch befinden: weder die These noch die Antithese, weder die naheliegende Antwort auf die Problemfrage noch die gegenteilige Antwort. Sondern was? Das fragt sich dann. Folgerichtigerweise muß das Weder – Noch um eine dritte Position ergänzt werden. Konsequenterweise kann die dritte Position allein von Aussagen eingenommen werden, die im Vergleich mit These und Antithese einen anderen Gedanken freisetzen, ja einen neuen. Das heißt, innerhalb der von Thomas‚ eröffneten Konstellation vermag die Kontroverse nicht allein auf die Widerlegung eines aufgestellten Satzes zu zielen, sie ist im Stande, einen kreativen Ausgang zu nehmen. In der Anwendung durch Thomas nimmt das antithetische Verfahren nur selten diesen kreativen Ausgang. Aber er gehört doch zu seinem Potential.

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