Auch wenn die markanteste Idee von Plotin und Proklos in den mittelalterlichen Emanationslehren nicht wirklich eine Ausführung erfahren hat, die Lehren dieser beiden Denker wirken über die Jahrhunderte fort. Noch im 19. Jahrhundert werden sie als Stifter nicht zwangsläufig zustimmungsfähiger, aber doch origineller Ideen gehandelt. Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) bestellt sich eine besondere Ausgabe von Plotins einzigem Werk, den Enneaden; ihn interessiert vor allem die dort ausgebreitete Naturauffassung. Hegel sieht die beiden Häupter des Neuplatonismus auf dem Gipfel der antiken Philosophie thronen. Schopenhauer studiert sie und notiert, daß ihm deren Lehren allzu orientalisch inspiriert scheinen. Ob unter Zustimmung oder nicht, sie werden wahrgenommen im damaligen Zeitgeist, sind dort gleichsam lebendig. In dieser Atmosphäre unternimmt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zu der Zeit noch kaum bekannter Denker, gerade die Idee vom Hervorbringen vermittels der Überfülle an Kraft als einen Gedanken von grundsätzlicher Bedeutung wiederzubeleben und neu auszulegen. Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) läßt die Idee als Kernpunkt eines Prinzips wiederaufleben, das er das dionysische Prinzip nennt. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als um den einen Grundsatz, dem sich sein Philosophieren ein Leben lang verschreibt.
Bereits in seiner ersten Monographie „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ beginnt er damit, das dionysische Prinzip in der Unterscheidung von einem anderen Prinzip, dem apollinischen, zu profilieren. Das apollinische geht ideengeschichtlich auf den Mythos von Apollon zurück, das dionysische auf den Mythos von Dionysos. Beiden gemeinsam ist, daß es sich bei ihnen um Kunstgesinnungen handelt, um zwei Weisen des kunstvollen Handelns, Denkens, Fühlens. So jedenfalls zunächst.
Als sich Nietzsche ein Jahrzehnt darauf erneut des Prinzips vergewissert, charakterisiert er es als einen besonderen Willenstypus. Es ist „das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden“, weil und insofern es einer „übervollen, zukunftsschwangeren Kraft“ entspringt, Folge „eines Überschusses von zeugenden Kräften“ ist. Mein Terminus dafür, vermerkt Nietzsche, ist das Wort „dionysisch“. Der Wille zum Werden mittels Überfülle an Kraft, in dieser Gestalt reaktiviert er die neuplatonische Idee als Herzstück des dionysischen Prinzips. Dasjenige, in dem der ausgezeichnete Willenstyp wie ein Herz pulsiert, faßt er mit der Zeit umfänglicher, nicht nur als eine Kunstgesinnung. Er kennt dann auch eine ganze „dionysische Kultur“, einen „dionysischen Menschen“, schließlich sogar eine „dionysische Welt“. Und dieser Welt entspreche eine „dionysische Philosophie“.
Die dionysische Philosophie läßt er vornehmlich durch die literarische Persönlichkeit des Zarathustra bekennen, lehren und ausleben. Das Buch „Also sprach Zarathustra“ handelt davon. Hinter der literarischen Figur steht die historische Persönlichkeit namens Zoroaster – so wurde sie von ihren altgriechischen Zeitgenossen genannt – ein altpersischer Religionsstifter, ein Träger der alten persischen Ideenwelt. Damit stimmt ein Quellenbefund auf seiten der neuplatonischen Schule sonderbar zusammen. Es gilt als erwiesen, daß Plotin mit seiner Idee gewisse Anregungen ausführt, die eben dieser altpersischen Ideenwelt entstammen, und die ihm durch seinen Lehrer Ammonios (gest. 242 o. 243) nahe gebracht wurden.
Die Über-Form, die im Neuplatonismus erstmals systematische Bedeutung erlangt, hat keine andere Philosophie gediegener und eindringlicher gepflegt als die dionysische, die Nietzsche seinen Zarathustra verkünden läßt. Sie geht der Über-Form unter den Lebewesen nach, findet sie in der eigentümlichen Figur des Lebens, in dem Lebendigen am Leben, das sie abkürzend die „Selbst-Überwindung“ nennt. Das Leben selbst, versichert Zarathustra, habe es ihm als sein tiefstes Geheimnis offenbart: „ich bin das, was sich immer selber überwinden muß“, sich selber überschreiten, übersteigen, überbieten muß. Und natürlich, „aus sich selber muß es sich immer wieder überwinden.“
Die Verkörperung des Lebens, die man traditionell Leib nennt, kennt einen Grundtrieb, einen Trieb der Triebe, der sich als erster und letzter Wille des Leibes fühlbar macht: „über sich hinaus zu schaffen“, das sei es, was der Leib am liebsten will. Er tut das, indem er u. a. sich fortpflanzt, mit jedem Wachstum über sich hinauswächst und Dinge ersinnt und zeugt, mit deren Hilfe er die vorläufige Grenze seines Wirkungskreises überschreitet. Über sich hinaus zu schaffen, ist im Grunde ein Schöpfen, Aktion schöpferischer Kräfte. Was aber Kräfte zu schöpferischen Kräften macht, ist gerade der „Überdrang“, das „Überschwellen“, die „Überfülle“ – die „Exuberanz“, wie das gelegentlich genannt wird. Streng genommen handelt es sich dabei nicht um den Überdrang an Kraft, sondern um die Überfülle als Kraft. Vitale Kräfte wie Zeugungskraft, Wachsen-Können, Fantasie, Erfindungsgabe, Verstellungsvermögen und so weiter und so fort stellen wesensmäßig überfüllige Vermögen dar, ja sie selbst sind jeweils besondere Überfüllen.
All das zeichnet sich auch an der Naturgeschichte ab. Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus, lehrt Zarathustra in der dritten Vorrede zu dem ihm gewidmeten Buch. Jede Art von Lebewesen bisher schuf ihre „Über-Art“. Von „der Art hinüber zur Über-Art“ verläuft der geschichtliche Weg des Lebendigen. Zuletzt schuf dabei eine Art von Affen ihre Überart in Gestalt des Menschen. Der Sinn jeder Art, buchstäblich ihr Lebenssinn, besteht nicht so sehr in der oft beschworenen Arterhaltung, als vielmehr in der „Artüberwindung“.
Mit solchen Gedanken läßt Zarathustra das Hervorbringen kraft Überfülle eine andere Richtung weisen, als das die Neuplatoniker taten. Bei Plotin und Proklos erscheint das Hervorbringen in gewisser Hinsicht als eine absteigende Bewegung. Etwas Hervorgebrachtes sehen sie stets einen geringeren Rang im Kosmos einnehmen als das Hervorbringende. In der dionysischen Philosophie hingegen gibt es auch ein Hervorbringen in aufsteigender Linie. Die Überart rangiert gewissermaßen evolutionär über der Art. In dieser Richtung läßt sich das Hervorbringen erstrecht nicht fassen, ohne es als Aktion einer Kraftüberfülle anzunehmen.
In der ganzen Bewegung von der Art zur Über-Art taucht am vorläufigen Ende der Mensch auf. Und ausgerechnet mit dem Menschen stellt sich eine Situation ein, die nach seiner natürlichen Vorgeschichte nicht zu erwarten war. Bei ihm scheint das dionysische Prinzip praktisch auszusetzen. Zumindest scheint das so bei den Menschen zu sein, auf die Zarathustra trifft. Eigentlich müßten Menschen, gleich allen Wesen bisher, auf ihre Über-Art sinnen; und ihre Über-Art wäre der „Übermensch“. Eigentlich müßten sie also auf die Ausbildung des Übermenschen aussein. Tatsächlich wähnen sie sich als die Krone der Schöpfung, über die nichts hinausführt. Und statt Lebenskräfte in Überfüllen zu entwickeln geraten sie immer kleinlicher, schwächlicher, mittelmäßiger. An dieser Stelle wird das dionysische Philosophieren gebieterisch. Es gebietet, des Menschen Überart als „Sinn der Erde“ inständig zu wollen.
Im Lichte einer solchen Sinnstiftung kann dann Zarathustra alias Friedrich Nietzsche jeweils bestimmte menschliche Lebensäußerungen, Lebensformen, Lebensweisen als gelingende Gestalten des Werdens durch Überfülle auszeichnen und wertschätzen. Im Kontrast mit anderen Äußerungen, Formen und Weisen, die als Symptome von Erschöpfung, Krankheit und Entartung eine Abwertung erfahren. So etwa die „schenkende Tugend“ im Kontrast mit der „verkleinernden Tugend“. Sie heißt die schenkende, weil sie darin besteht, daß Menschen von sich etwas geben, ihren Mitmenschen etwas abgeben, ohne dafür etwas zu nehmen – weder Dank noch Zahlung noch Gegenleistung – und ohne damit jemandem etwas zurückzugeben. Sie geben, aber nicht im Tausch. Sie scheinen selbstlos zu geben. Dieserart schaffen sie im äußersten Sinne über sich hinaus. Möglich werde das mittels einer Kraftüberfülle, bei einem Menschenschlag, „dessen Seele übervoll ist, so daß er sich selber vergißt“. Die Kraftüberfülle, auch Überreichtum genannt, mache selbstvergessen, uneigennützig. Gerade das aber soll die Verlängerung einer „Selbstsucht“ ausmachen, wenngleich der heilen Selbstsucht, im Unterschied zu der entarteten, die alles für sich und nur für sich haben will. Die heile Selbstsucht wird darin erblickt, daß Menschen rückhaltlos, schier suchtförmig all die Werte und Schätze von geistiger Größe sich zu eigen machen, sich einverleiben, die dann in ihnen zu den übervollen Seelen auswachsen, denen sich ihre außerordentliche Freigebigkeit verdankt. Über die Überfülle wendet sich die Selbstsucht zum selbstlos anmutenden Tun.
Man sieht, der Gedanke an das Hervorbringen per Kraftüberfülle, den die neuplatonische Schule in einem kosmologischen und metaphysischen Kontext ausgebildet hatte, erfährt durch Nietzsche eine weitverzweigte lebensphilosophische und anthropologisch-ethische Auslegung. Jahrzehnte später wird George Bataille (1897 – 1962) den Faden unter dem von ihm bevorzugten Titel Plethora / Überdrang erneut aufnehmen.
Abb.: Annelein Beukenkamp, Plethora of Peonies