Die „Dialektik“ ist Friedrich Daniel Schleiermachers Hauptwerk, sagt man, bzw. sie wäre sein Hauptwerk geworden, hätte seine Lebenszeit zur endgültigen Ausarbeitung gereicht. Eine tödliche Lungenentzündung verhinderte die Ausführung. So blieb es bei Vorarbeiten, die von Mal zu Mal gediegener ausfallen. Darin nimmt Schleiermacher die urtümliche Bedeutung des griechischen Wortes „dialektike“, mit der schon Platon diesen Ausdruck vorfand, ganz buchstäblich: Dialektik ist Unterredungskunst, Kunst der Gesprächsführung, also eine bestimmte Form des Gesprächs, eine bestimmte Weise, Gespräche zu führen. Anders als Platon läßt er nicht schon die innere Rede, die noch im reinen Denken geschieht, als Gespräch gelten. Er meint das „eigentliche Gespräch“, die „eigentliche Wechselrede“. Darum handelt es sich bei der „mündlichen Verhandlung“, ferner bei dem „Gespräch zwischen Autor und Leser“, das im Schreiben und Lesen geschieht, schließlich auch bei Selbstgesprächen, im Verlauf derer sich Individuen mit ihren eigenen, aber früher vertretenen Gedanken auseinandersetzen. Dialektik ist eine bestimmte Weise, solche Gespräche zu führen, eben die kunstvolle Weise der Gesprächsführung. Sie hat einen Ansatzpunkt im Gespräch. Sie setzt an bei einer Differenz zwischen den von Gesprächspartnern ausgetauschten Gedanken, gleichviel ob diese Gedanken von wissenschaftlicher, philosophischer, religiöser, politischer oder noch anderer Art sind. Diese Differenz wird auch Streit genannt. Ausdrücklich führt Schleiermacher zwei Formen des Streits an. In der einen Form widerstreiten einander Gedanken wie „A ist b“ und „A ist nicht b“, in der zweiten dagegen Gedanken wie „A ist“ und „A ist nicht“ (Dialektik, Bd. 2, Frankfurt am Main 2001, S. 22). Unschwer erkennt man in den Formeln solche Aussagen wieder, die, wenn sie zu jeweils einer Aussage verbunden würden, Widersprüche bildeten. In dem thematisierten Gespräch tun sie das allerdings nicht, vielmehr werden sie dort von unterschiedlichen Gesprächspartnern vertreten. Differenzen von der markierten Art sind es, woran die Dialektik als Unterredungskunst anzusetzen habe, woran sie sich bewähren kann und muß. Und zwar in folgendem näheren Sinne. Es fragt sich, woher der Streit, die Differenz zwischen den Gedanken von Gesprächsteilnehmern rührt. Schleiermacher gibt darauf eine frappierende Antwort: Streit bricht aus, weil und insofern „kunstlos“ gedacht wird (ebenda S. 96). Kunstlos, das heißt ungeregelt, naturwüchsig, naiv. Streit bricht aus, weil und insofern ungeregelt, naturwüchsig, naiv gedacht wird. Folglich wird er überwunden, indem man von einem mehr oder minder weitgehend kunstlosen zu einem kunstvollen Denken übergeht. Genau das ist die Aufgabe der Dialektik als Unterredungskunst. Sie ist dazu bestimmt und befähigt, „dasjenige Denken, welches auf eine kunstlose Weise entstanden ist, in ein kunstmäßiges zu verwandeln“ (ebenda S. 98). So ist sie die Kunst, von einer Differenz im Denken zur Übereinstimmung im Denken zu gelangen (ebenda Bd. 1, S. 161 nebst Anmkg. 22). Dieserart vermag sie, „den Streit auf dem Gebiet des reinen Denkens zu beendigen“ und ein „streitfreies Denken“ zu stiften (ebenda S. 37). Was tun Gesprächspartner, wenn sie ihren Streit dialektisch, kunstvoll durchführen und auf diese Weise zu Ende führen? Zum einen vollziehen sie den Rückgang auf ein gemeinschaftliches Urwissen; sie gehen auf gewisse, ihren strittigen Gedanken unterliegende und ihnen gemeinsame Vorstellungen zurück, die in ihnen schon immer vorhanden gewesen, aber ihnen bis dahin verborgen geblieben sind. Zum anderen. Auf der Grundlage des gemeinschaftlichen Urwissens finden und aktivieren sie Regeln des Scheidens und Verknüpfens von Gedanken, entlang derer sie ihre strittigen Positionen in Einigkeit novellieren können. – In diesem Zielpunkt vor allem hebt sich Schleiermachers Dialektik von der topischen Dialektik des Aristoteles ab. Beide thematisieren ja das Streitgespräch, die Kontroverse. Aber während die topische Dialektik auf das Widerlegen aus ist, zielt die Dialektik Schleiermachers auf Verständigung. Sie hat einen kulturgeschichtlich neuen Adressaten; eine Kunst kann sie für Menschen nur sein, „insofern sie sich verständigen wollen„! Die Kontroverse, die Aristoteles mit einem üppigen Angebot an Widerlegungsmöglichkeiten zu kultivieren suchte, erreicht ihren Höhepunkt im Triumphieren eines Kontrahenten über den anderen. Dagegen der Streit, den Schleiermacher möglichst kunstvoll zu gestalten vorhat, in deren Einigung kulminiert. „Identität des Willens wird also höchstes Ziel des Gesprächs.“ (ebenda S. 51). Irgendwann möge aller Streit enden – eine Gestalt des romantischen Fernwehs. In kulturgeschichtlicher Perspektive könnte man die von Schleiermacher entwickelte Lehre eine romantische Dialektik nennen. Der philosophischen Verfassung nach handelt es sich bei ihr um eine hermeneutische Dialektik. Das Gespräch, dessen Kunst sie lehren will, ist die hermeneutische Grundsituation. Und die Verständigung, auf die das Gespräch abzielen soll, zumal als Streitgespräch, ist ein edler Abkömmling jenes Verstehens, über das man in der Hermeneutik vornehmlich philosophiert.