Unter dem Titel „Die Kunst, Recht zu behalten“ erscheint postum ein Text von Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) , der eine Art Streitlehre darbietet und erklärtermaßen seine Dialektik hergeben soll. Einleitend wird ausdrücklich Bezug genommen auf die Tradition der Topik und namentlich auf die einschlägige Schrift von Aristoteles, Man darf sagen, daß in der Jahrhunderte währenden Auslegung der topischen Dialektik durch mittelalterliche Autoren niemals so ausführlich auf die von Aristoteles ausgestellte Geburtsurkunde eingegangen wurde, wie das Schopenhauer in dem angegebenen Text tut. Allerdings macht er das in einer letztendlich kritischen und sich absetzenden Weise. Die Kritik gilt vor allem der Zwecksetzung, der Aristoteles seine Dialektik und Argumentationstheorie unterstellt. Ihr Zweck soll es sein, der streitbaren Wahrheitsfindung zu dienen. Dagegen stellt Schopenhauer, die Wahrheitsfindung könne höchsten der Zweck einer Logik, nicht aber einer Dialektik sein.
Die eigentliche Dialektik müsse völlig „unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist)“ vorgehen. Sie habe nicht mit dem Wahrsein und Falschsein von Aussagen zu schaffen, sondern damit, wie Aussagen im Streit als wahr bzw. als falsch geltend gemacht werden können. Und das mache einen ebenso feinen wie fundamentalen Unterschied. Was als wahr gilt und als wahr geltend gemacht wird, muß nicht unbedingt wahr sein. Die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage ist das eine, die Behauptungen, die über ihre Wahrheit oder Falschheit aufgestellt werden, etwas anderes. Man kann im Streit, so wird weiter argumentiert, eine Aussage widerlegen wollen, d. h. sie als falsch geltend zu machen versuchen, obschon sie tatsächlich wahr ist, ja obwohl man selbst weiß, wie sehr sie in der Tat wahr ausfällt. Ebenso kann man Aussagen gegen den Widerlegungsversuch eines Kontrahenten verteidigen wollen, d. h. sie als wahr geltend zu machen versuchen, obgleich sie tatsächlich falsch sind und man vielleicht sogar um ihr Falschsein weiß. Eine Streitlehre oder Argumentationstheorie aber, die den Titel „Dialektik“ verdient, habe sich gerade damit zu befassen, wie sich im Streit Aussagen als wahr oder falsch geltend machen, zur Geltung bringen lassen. Gewiß kommt es vor, daß die Aussagen, die als wahr zur Geltung gebracht werden sollen, auch tatsächlich wahr sind, wie es auch vorkommt, daß Aussagen, die als falsch geltend gemacht werden sollen, in der Tat falsch sind. Selbst dann aber muß eine Streitlehre, die zu Recht als Dialektik bezeichnet wird, ausschließlich dieses Geltendmachen zum Gegenstand haben. So Schopenhauer.
Daß man Aussagen im Streit, auf dem Wege der Verteidigung und Widerlegung, gegen Kontrahenten als wahr oder falsch zur Geltung bringt, dazu Angriffe pariert und Attacken zwingend ausführt, nennt er abkürzend „Recht behalten“. Und seine Dialektik, über die er im Jargon der Eigentlichkeit spricht, soll sich ganz um die Kunst, Recht zu behalten, drehen. Wie eine „geistige Fechtkunst“. Am treffendsten wäre sie als „Eristische Dialektik“ tituliert, mit der streitbaren, um nicht zu sagen, streitsüchtigen Göttin Eris, die gerne den sprichwörtlichen Zankapfel auslegt, als Namenspatronin.
Wie immer diese Lehre schließlich genannt werden mag, im Kern besagt sie, „so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas“, d. h. gleichviel ob man im Recht ist oder nicht. Durch diese Konditionierung fällt sie allerdings vom Geist der topischen Dialektik aristotelischen Geblüts ab. Sie gerät zur Methodisierung von Rechthaberei.
Die Methodisierung wiederum geschieht durch die Darstellung von Kunstgriffen, derer sich die Kontrahenten in ihrem Streit bedienen können. An die Stelle der Topen treten Kunstgriffe. Angeboten wird ein Fundus, der von sophistischen Fangschlüssen über das Ausnutzen der Vieldeutigkeit der Sprache bis hin zu psychischen Manövern der nachstehend markierten Art reicht: „Den Gegner zum Zorn reizen, denn im Zorn ist er außer Stande, richtig zu urteilen und seinen Vorteil wahrzunehmen. Man bringt ihn in Zorn dadurch, daß man unverhohlen ihm Unrecht tut und schikaniert und überhaupt unverschämt ist.“ (8. Kunstgriff). Was Methoden der nervlichen Zermürbung mit Dialektik zu schaffen haben, bleibt freilich unerfindlich.
Abb.: Jacob Jordaens, Eris und der goldene Zankapfel
Ein Kommentar
für die Rechtswissenschaft angewendet bei:
Struck, „Eristik für Juristen – Konzeptuelle Überlegungen und praktische Beispiele Vortrag 10.11.02 bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, von ihr veröffentlicht http://www.bbaw.de/sdr (Beiträge)