Aristoteles versucht ein Phänomen metaphysisch auszuzeichnen und zu begreifen, das er durchgängig „hyle“ nennt. Urtümlich bedeutet das griechische Wort „hyle“ auch Nutzholz. Mit dieser Ausgangsbedeutung konnte es – in einem übertragenen Sinne – etwas viel Umfassenderes als Nutzholz bezeichnen. Cum grano salis konnte es dasjenige bedeuten, aus dem etwas durch kraftvolles Formieren entsteht und aus dem es dann in bestimmter Form besteht. Das Material also, Stoff. Das „hyle“ genannte Material charakterisiert Aristoteles sodann als „aeides kai amorphon“[1], das heißt als träge und formlos. Und Trägheit denkt er in eins mit Kraftlosigkeit. Der Stoff, das Material sei kraftlos. Diese Bestimmung kommt durchaus folgerichtig. Soweit etwas als bloßes Material genommen, lediglich als ein der kraftvollen Formung harrender Stoff betrachtet wird, scheint es in der Tat kraftlos.
Die lateinische Philosophie überträgt den vorgefundenen Ausdruck „hyle“ bekanntlich mit „materia“. Ein Wort, das urtümlich gleichfalls unter anderem Nutzholz bedeutet. Wie sein griechisches Pendant vermag es – im übertragenen Sinne – das Material zu meinen. Es ist nun interessant zu sehen, wie erst Albertus Magnus und dann Thomas von Aquin dem Material etwas zuschreiben, das die Möglichkeiten bloßen Materials und Stoffs bei weitem überschreitet. So erblickt Thomas in ihm das „principium individuationis“[2]. Ein ganz ähnlich anmutender Gedanke von Aristoteles hatte bereits dessen Zeitgenossen und frühe Interpreten irritiert. Obendrein macht Thomas am Material ein „esse per creationem“[3] aus. Was aber das Prinzip der Individuation hergeben und ein Sein per Kreation aufweisen soll, kann eigentlich nicht mehr als kraftlos gelten.
Das neuzeitliche Philosophieren macht es schließlich offenbar: Dasjenige, was in der aristotelischen Tradition lediglich als Stoff genommen wird, an dem nichts weiter wahrgenommen wird, als daß es zum Material eines kraftvollen Formierens taugt, ist in Wahrheit entschieden mehr als dies. Wohl figuriert es als Material, von wem oder was auch immer, zugleich und zuvor noch aber macht es etwas anderes aus als dies. Im Horizont solcher Wahrnehmung bildet sich ein moderner Begriff der Materie aus.
In der Philosophie von Leibniz findet er sich weitgehend ausgebildet. Erstens. Die Materie ist per se kraftvoll. Zweitens. Materie gibt es nur als Materien, und innerhalb der Vielheit der Materien nimmt die Kraft eine eigentümliche Gestalt an – die Gestalt einer wechselseitigen Kraft, die Gestalt eines Gegensatzes von aktiver und passiver Kraft. Aktivität und Passivität oder, wie Leibniz voreilig formuliert, „Tätigsein und Leiden“ sind „bei den Geschöpfen wechselseitig … und folglich ist, was sich in bestimmter Hinsicht als aktiv erweist, von einem anderen Gesichtspunkt aus passiv: Es ist aktiv insofern, als das, was man deutlich an ihm erkennt, den Grund dafür abgibt, was sich in einem andern ereignet; und es ist insofern passiv, als der Grund dessen, was sich in ihm ereignet, sich in dem findet, was sich deutlich in einem anderen erkennen läßt.“[4] Drittens. In der Trägheit, die ehedem mit Kraftlosigkeit in eins gedacht wurde, erkennt Leibniz vielmehr eine ganz besondere Kraft der Materie. Trägheit und Undurchdringlichkeit führt er auf eine „allgemeine passive Kraft des Widerstandes“ zurück, durch welche sich die Materie der Bewegung widersetzt. Und diese passive Kraft ist ihrerseits unzertrennlich von einer aktiven Kraft der Materie, von dem Vermögen zur Bewegung.[5]
Hegel pointiert das Umdenken in Sachen Materie mit der These: Kraft macht das Wesen der Materie aus. Die These wendet sich gegen Auffassungen, wonach die Kraft der Materie eingepflanzt sein soll, so als wäre sie ihr „ursprünglich äußerlich“, während sie doch „in Wahrheit das Wesen der Materie ausmacht“.[6]
Aber schreibt Hegels These der Materie überhaupt etwas zu, das für sie spezifisch sein kann? Muß man nicht schon von Zeit und Raum sagen, sie würden wesentlich Kraft ausmachen? Durchaus nicht. Die Zeit, das urtümliche Werden, der Raum und das Sein weisen Individualität auf, ein Wesen findet sich erst bei der Materie.
Abb. v. Chris Nick
[1] Aristoteles, Met. 1037a 27.
[2] Thomas Aqu., De ente et essentia 10, 56.
[3] Thomas Aqu., S. theol. 1, q. 46, a. 1 ad 3.
[4] Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie 52.
[5] Gottfried Wilhelm Leibniz, Briefe an B. de Volder, Philosophische Schriften, Bd. V.2, hg. u. übers. v. W. Wiater, Darmstadt 1989, S. 129.
[6] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 261.