Ideengeschichtlich stellt die Hermeneutik den ersten gelingenden Versuch dar, aus einer kritischen Wendung gegen Hegels Philosophie heraus zu einer eigenständigen Neukonzipierung von Dialektik zu gelangen. Den nächsten und ungleich wirkungsmächtigeren Vorstoß unternimmt Karl Marx (1818 – 1883).
Entgegen einer verbreiteten Annahme hat Marx sich direkt zum Thema „Dialektik“ recht selten in nachlesbarer Weise geäußert, und wenn, so stellt er die seinige Auffassung als eine Methode, eine Denkweise, eine Forschungsweise dar, niemals als eine Theorie, die so etwas wie Grundgesetze der Dialektik sortiert und dialektischer Materialismus heiße, geschweige denn als eine Weltanschauung.
In Marx Selbstverständnis ist seine dialektische Methode von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr „direktes Gegenteil“. Ihr direktes Gegenteil soll sie der ontologischen, erkenntnistheoretischen Grundlage nach bilden. Für Hegel sei der Denkprozeß, den er unter dem Namen „Idee“ sogar in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, der Baumeister aller Wirklichkeit. Man erinnert sich, wie er in seiner Logik, die Kategorienfolge innerhalb des unendlichen Geistes zur absoluten Idee zusammenfaßt und diese Idee im Vollzug der Schöpfung zur natürlichen Wirklichkeit sich realisieren sieht. Dagegen für ihn, Marx, das Ideelle nichts anderes als das im Bewußtsein umgesetzte Materielle ausmacht. Selbsteinschätzungen wie diese haben dazu Anlaß gegeben, Dialektik à la Marx als die materialistische – im Unterschied zur idealistischen Dialektik Hegels – zu verorten. Das Dialektische daran, die typisch dialektischen Figuren, die Marx auch die „allgemeinen Bewegungsformen“ der Dialektik nennt – also Widerspruch, Negation der Negation, Entwicklung als aufsteigende Selbstbewegung kraft innerer Widersprüche und dergleichen – habe Hegel bereits in umfassender und bewußter Weise dargestellt. Nur daß sie bei ihm gleichsam auf dem Kopf stehen und darum gewissermaßen „umgestülpt“ und auf die Füße gestellt werden müssen. Wie dieser Kraftakt nun eine eigenständige dialektische Methode hergibt, läßt sich erst an ihrer Anwendung, Ausführung ersehen. So soll es auch an dieser Stelle geschehen.
Ausgeführt, und zwar in Untersuchungen von komplexer und systematischer Art ausgeführt, hat Marx seine Methode vor allem an zweierlei Gegenständen. Zum einen und im geringeren Maße an bestimmten zeitgeschichtlichen Prozessen. Dafür steht beispielhaft seine Studie „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, die von dem Staatsstreich des Louis Napoleon im Frankreich des Jahres 1851 handelt. Hauptsächlich aber hat er seine Methode an einem Untersuchungsgegenstand ausgeführt, den er als „Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation“ umschreibt und der sich auf den Begriff der Produktionsweisen bringen läßt.
Unter Produktionsweise versteht er die Art und Weise, wie Menschen ihre – im weiten Sinne – Lebensmittel produzieren, ihr unmittelbares, materielles Leben reproduzieren; mit anderen Worten, wie sie in Gesellschaft ihren Stoffwechsel mit der Natur gestalten. Produktionsweise thematisiert Marx dezidiert im Plural. Es gab und gibt diverse Produktionsweisen. Sie unterscheiden sich voneinander wesentlich in zweierlei Hinsicht. Einerseits hinsichtlich der produktiven Kräfte, die jeweils in Gestalt von Arbeitsvermögen, Techniken, Technologien und dergleichen zum Einsatz kommen. Andererseits hinsichtlich der Verhältnisse, die dabei von den Akteuren untereinander, zueinander eingegangen werden, gewissermaßen interaktiv, um nicht zu sagen: intersubjektiv. Diese Verhältnisse werden auch Produktionsverhältnisse genannt, oder – was nur ein juristischer Ausdruck dafür sei – Eigentumsverhältnisse. Unter Umständen erweisen sich die Unterschiede zwischen Produktionsweisen direkt als Entwicklungsunterschiede, das heißt als Unterschiede zwischen niederen und höheren Entwicklungsniveaus der Produktionskräfte und -Verhältnisse. In diesem Sinne sieht Marx „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen“ differieren. Die modern bürgerliche Produktionsweise z. B., die kapitalistische, stellt im Vergleich mit der feudalen die höherentwickelte dar, nicht nur weil sie eine überlegene Arbeitsproduktivität erreicht, sondern auch und nicht zuletzt, weil bei ihr die Arbeitenden persönlich frei sind (wenngleich auch frei von den sachlichen Verwirklichungsbedingungen ihrer Arbeitskraft), während die feudale die Arbeitenden noch als persönlich unfreie (wenngleich schon als leibeigene) unterstellt.
Jede der benannten Produktionsweisen hat ihre eigenen, besonderen ökonomischen Gesetze. Statt daß alle einer einzigen und für alle gleichen Gesetzmäßigkeit unterworfen wären, folgt jede vornehmlich einer ihr eigentümlichen ökonomischen Gesetzlichkeit. Sich daran in seinen Forschungen gehalten zu haben, hält Marx für den Kernpunkt seiner dialektischen Methode. Es bedeutet ja auch nichts Geringeres als dies: Was sich in sozialökonomischen Entwicklungen von historischem Ausmaß ändert, sind nicht lediglich die Erscheinungsformen ökonomischer Gesetze, was sich verändert, das ist auch und vor allem das Gesetz selbst. So erst kann die sozialökonomische Veränderung in der Tat als Entwicklung gedacht werden. Zu diesem Gedanken findet sich in Hegels Geschichtsphilosophie ein Pendant. Es besteht in einer These, der man eine tiefere Bedeutung gewiß nicht auf den ersten Blick ansieht. Sie lautet: „Der Begriff selber ist es, der berichtigt wird.“
Schier lebenslänglich untersucht Marx die kapitalistische Produktionsweise. Das Ergebnis ist vor allem in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ nachlesbar, zumal in dessen erstem Band, den der Autor noch eigens in Druck gegeben hat. Zwischenergebnisse bietet die Vorarbeit „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ dar, sowie der Entwurf „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, der neben anderem einen Abschnitt zu den „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen“, enthält, zu vorkapitalistischen Produktionsweisen. Es ist vornehmlich die Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, so wie die sich der Forschung im 19. Jahrhundert darbietet, worin Marx’ Methode eine nachlesbare Ausführung erfährt. Wie stellt sie sich daran näher dar?
EINE ART SCHRITTFOLGE
Die thematisierte Produktionsweise wird als ein organisches Ganzes untersucht. Dieses Ganze gilt es gedanklich zu rekonstruieren. Empirisch studiert wird es dort, wo es historisch zu einer reifen Ausbildung, zur klassischen Gestalt oder Klassizität gelangt ist. Die feudale Produktionsweise etwa soll ihre klassische Form im alten England und im Neapolitanischen Königreich jeweils nach und im Gefolge der Eroberung durch die Normannen angenommen gaben. Die kapitalistische Produktionsweise findet Marx im England der industriellen Revolution zu klassischer Ausbildung gelangen. Dort habe ihr empirisches Studium anzusetzen.
Die theoretische Rekonstruktion der Produktionsweise setzt bei deren Elementarform ein. Diese Elementarform ist ihr einfachstes und zugleich allgemeinstes Verhältnis. Im Falle der kapitalistischen Produktion bildet die Warenform, die Ware schlechthin und überhaupt, die Elementarform, ihr einfachstes und allgemeinstes Verhältnis.
Dieses Verhältnis wird analysiert, in seine Seiten zerlegt – Gebrauchswert und Wert – und beide Seiten werden für sich betrachtet. Von daher erschließt sich ein Zusammenhang beider. Von dem wird geradezu erwartet, daß er sich als ein Widerspruch erweist – der Widerspruch von Gebrauchswert und Wert. Die Aussagen, die den Widerspruch aussprechen, geraten selbst auch widersprüchlich. Der Dialektiker wird diese Aussagen aber wegen ihrer Widersprüchlichkeit nicht zu falschen Aussagen erklären und sie streichen. Statt sie wegen ihrer Widersprüchlichkeit zu verwerfen, geht er davon aus, daß sie lediglich einen wirklichen Widerspruch in der zu erforschenden ökonomischen Praxis widerspiegeln. Anstatt das Erkennen von Widersprüchlichkeit zu reinigen und frei zuhalten, gilt es zu verfolgen, wie der widergespiegelte reelle Widerspruch in der ökonomischen Realität selbst eine Lösung erfahren hat. In welchem weitergehenden ökonomischen Verhältnis. Es findet sich, daß der Widerspruch, der schon in der einfachen Warenform haust, der von Gebrauchswert und Wert, seine reelle Lösung gefunden hat in einer besonderen, schon nicht mehr so einfachen Warenform – in der Etablierung der besonderen Ware namens „Geld“.
Das als eine Widerspruchslösung erkannte weitergehende ökonomische Verhältnis bildet nun den Gegenstand, an dem die bereits einmal absolvierte Schrittfolge erneut einsetzt. Man hat es zu analysieren, einen ihm innewohnenden Widerspruch aufzudecken und zu verfolgen, in welchem wirklichen ökonomischen Gebilde der wohl seine gewissermaßen praktische Lösung erfahren hat. Um dann an diesem Gebilde jene Abfolge von Erkenntnisschritten abermals erneut einsetzen zu lassen. Und so immer fort, bis daß das Ganze der fraglichen Produktionsweise mit seinem Grundwiderspruch gedanklich rekonstruiert ist.
Der Denkform nach hat all das nicht weniges von der Vorgehensweise an sich, die schon einmal unter der stehenden Wendung „Das Wahre ist das Ganze“ vorgestellt wurde. In bestimmter Hinsicht hebt es sich von dieser Vorgehensweise aber auch ab. Nicht zuletzt geschieht das durch die nachdrückliche Rede von den wirklichen Widersprüchen. Was meint das– ein wirklicher Widerspruch?
WIRKLICHE WIDERSPRÜCHE
Wenn Marx mit einem gewissen Nachruck von wirklichen Widersprüchen spricht, sind allerdings nicht die echten Widersprüche im Unterschied zu den unechten gemeint. Als unecht könnten solche bezeichnet werden, die eine Definition für Widersprüche nur scheinbar erfüllen, und als echt diejenigen, die sie nicht bloß scheinbar erfüllen. Sicherlich kommen als wirkliche Widersprüche nur die echten in Frage, aber nicht das ist es, was sie zu wirklichen macht. Ein bestimmter ontologisch-erkenntnistheoretischer Status macht sie dazu.
Der Begriff „wirklich“ bzw. „reell“ hat ein Korrelat. Für den Autor des„Kapital“ ist das der Begriff „ideell“. Die Paarung „Reelles – Ideelles“ spielt in seinem Denken eine beträchtliche Rolle, eine ungleich größere als das Paar „Materielles – Geistiges“. Was nun direkt die ökonomischen Widersprüche angeht, so werden von ihm weniger die reellen und die ideellen einander gegenübergestellt, als vielmehr die reellen, wirklichen Widersprüche einerseits und die nicht wirklichen, weil bloß ideellen, einzig und allein in irgendeinem Bewußtsein bestehenden Widersprüche andererseits.
Wirklich sind danach Widersprüche, die sehr wohl gedacht werden, in Form von einander widersprechenden oder sich widersprechenden Aussagen gedacht werden bzw. gedacht werden können, die aber doch von solchen Aussagen und dem aussagenden Bewußtsein wohl unterschieden sind, und zwar als Zusammenhänge, die von diesem Bewußtsein widergespiegelt werden und die sich ihrerseits keineswegs auf Bewußtsein reduzieren lassen, ja die für das Bewußtsein sogar in bestimmter Hinsicht objektiv bestehen. Unwirklich, bloß ideell fallen dagegen Widersprüche aus, die ausschließlich als einander widersprechende, sich widersprechende, widersprüchliche Aussagen bestehen, indem sie keine wirklichen Widersprüche widerspiegeln. Von dieser Art sind die durch Kant formulierten Antinomien der reinen theoretischen Vernunft. Deren Thesen und Antithesen repräsentieren nicht etwas von ihnen und dem vernunftbegabten Bewußtsein insgesamt Unterschiedenes – wie sich zumal bei ihrer kritischen Prüfung und Behebung herausstellt – schon gar nicht eine von dem Bewußtsein mit seinen Anschauungsformen unterscheidbare Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Nicht wirklich, bloß ideell sind ferner jene Widersprüche, die Hegel in der Kategorienentwicklung des unendlichen Geistes aufbrechen sieht. Die von „reines Sein“ und „reines Nichts“, „Endlichkeit“ und „Unendlichkeit“ usw. Sie präsentieren nicht etwa ein wirkliches Sein und ein wirkliches Nichts oder dergleichen. Statt etwas Wirkliches repräsentieren zu können, würden sie selbst ja erst in der Schöpfung zu einer Wirklichkeit realisiert.
1. FEHLERHAFTER ZIRKEL ALS WIRKLICHER WIDERSPRUCH
Auf einen wirklichen Widerspruch stößt Marx dagegen während seiner Untersuchung der modern-bürgerlichen Produktionsweise schon bei deren Elementarform – auf den bereits vermerkten Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert. Der wird als eine Art „fehlerhafter Zirkel“ beschrieben: Die Realisierung des Gebrauchswerts der Ware hat schon die Realisierung ihres Tauschwertes zur Voraussetzung; die Realisierung ihres Tauschwertes jedoch hat ihrerseits bereits die Realisierung des Gebrauchswertes zur Voraussetzung. Um sich als Tauschwert darzustellen, müßte „die Ware zuvor als Gebrauchswert entäußert, an den Mann gebracht werden …, während ihre Entäußerung als Gebrauchswert umgekehrt ihr Dasein als Tauschwert voraussetzt.“ (MEW Bd. 13, S. 31) Daß eine solche Konstellation ein fehlerhafter Zirkel genannt wird, kann irritieren. Für gewöhnlich wird der fehlerhafte Zirkel nur an Aussagen reklamiert; das von Bertrand Russel und Alfred North Whitehead aufgestellte Zirkelfehlerprinzip etwa betrifft ein reines Denkproblem. Was dagegen bei dem markierten ökonomischen Widerspruch zirkulär ausfällt und sich gleichsam im Kreise dreht, sind nicht bloße Gedanken, sondern objektive Erfordernisse: Realisierung von Gebrauswert erfordert zuvor Realisierung von Tauschwert, so wie diese bereits jene erfordert. Diese zirkulär verknüpften Erfordernisse stellen sich freilich in einem Handeln von ökonomischen Subjekten, von Warenproduzenten ein, in einem ökonomischen Handeln. Und das Handeln ist wahrlich nicht etwas schlicht Bewußtseinsunabhängiges und willentlich Unverfügbares. Unbeschadet dessen stellen sich diese Erfordernisse dort doch objektiv ein. Objektiv, das heißt nicht zuletzt, daß die Erfordernisse unabhängig davon bestehen, ob und wie die handelnden Subjekte sich ihrer bewußt werden, daß sie also selbst dann bestehen, wenn die Handelnden sie verkennen. In dem Falle blieben sie zwar unerfüllbar, aber doch bestehen. Sie resultieren eben aus dem, was die Warenform an sich ausmacht. Objektiv stellt sich schließlich auch das Erfordernis ein, den zirkulären Widerspruch durch ein bestimmtes ökonomisches Gebilde zu lösen. Dieses Gebilde soll, wie gesagt, die besondere Ware namens Geld sein. Die Etablierung des Geldes habe es ermöglicht, den Zirkel der Erfordernisse gleichsam zu durchbrechen. Die wohlverstandene Objektivität der Erfordernisse macht ihre zirkuläre Verknüpfung zum wirklichen Widerspruch, zu einem, der nicht allein als ein spannungsvoller Gedanke ein Bestehen hat, sondern ihm zuvorkommt.
2. ANTINOMIE ALS WIRKLICHER WIDERSPRUCH
Daß und inwiefern Marx tatsächlich reelle Widersprüche darstellt, versteht sich auch dann nicht von selbst, wenn ihn seine Untersuchung der modern bürgerlichen Produktionsweise zu Aussagen führt, die schon von ihrer Diktion her unweigerlich an Antinomien erinnern, wie sie Kant gedacht hatte. Eine dieser Aussagen betrifft den ökonomischen Prozeß der Verwandlung von Geld in Kapital. Sie antwortet auf die Frage, wie schlichtes Geld in richtiggehendes Kapital verwandelt werden kann, und besagt: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen … Seine Schmetterlingsentfaltung muß in der Zirkulationssphäre und muß nicht in der Zirkulationssphäre vorgehn. Dies sind die Bedingungen des Problems.“ (MEW Bd. 23, S. 180/81)
Von der Beschwörung der Problematik am Ende abgesehen, haben die zitierten Aussagen offenkundig die Form der Kontradiktion. Sie verknüpfen die Behauptung von etwas mit der Negation davon. Und so aufwendig wie sie durch den Autor stringent abgeleitet, gleichermaßen schlüssig begründet werden, stellen sie nicht nur überhaupt kontradiktorische Aussagen dar, sondern beidseitig notwendig bestimmte, beiderseits denknotwendige Kontradiktionen. Sie haben in der Tat die Form der Antinomie.
Dem überkommenen Verständnis von Antinomien zufolge, kann es sich gerade deshalb nicht ohne weiteres verstehen, daß mit ihnen reelle Widersprüche in Rede stehen sollen. Antinomien, das sind unmittelbare Verknüpfungen von These und Antithese und als solche Gedankenwidersprüche, einander widersprechende Gedanken – diese Vorstellung ist doch die vorzugsweise überlieferte – und Gedankenwidersprüche können für sich genommen nicht als reelle Widersprüche geführt werden. Antinomien, so heißt es traditionell, sind kontradiktorische Aussagen von besonderer Art, und die reellen Widersprüche, die Marx meint und die eine Auszeichnung als reelle verdienen, sind mit Sicherheit nicht bloße Aussagen, von welcher Art immer. Von wirklichen Widersprüchen kann in diesem Falle zutreffend nur gesprochen werden, wenn angenommen werden darf, die zitierten Aussagen würden etwas gedanklich widerspiegeln, etwas auf Begriffe bringen, das seinerseits, oder pointierter gesagt: das an sich anders als ein bloßer Gedanke ist und dennoch antinomisch ausfällt. Genau das ist gemeint – eine Realantinomie sozusagen.
Die These, daß Kapital in der Zirkulationssphäre entsteht, und die damit unmittelbar verknüpfte Antithese, daß Kapital nicht in der Zirkulationssphäre entsteht, sagen etwas aus, haben etwas als das Ausgesagte zu ihrem Gegenstand, etwas, das seinerseits alles andere als Aussagen ausmacht und unbeschadet dessen doch in der Weise eines Widerstreits der Gesetze strukturiert ist. Das von den Aussagen unterschiedene Ausgesagte besteht auch in diesem Fall in Erfordernissen, in allgemein notwendigen Erfordernissen, die zwar ausschließlich in einem Handeln sich einstellen und jenseits allen Handelns niemals vorkommen könnten, die sich darin aber doch objektiv einstellen, also selbst dann, wenn die Handelnden sie verkennen. Diese Erfordernisse bestehen in der objektiven Notwendigkeit, den fraglichen Verwandlungsprozeß in einer bestimmten Sphäre zu vollziehen einerseits und in der nicht minder objektiven Unmöglichkeit, ihn dort zu vollziehen, andererseits. Das Zugleich, das Zusammenbestehen, ja die Koexistenz dieser Unmöglichkeit und jener Notwendigkeit ist die Realantinomie, die von den zitierten antinomischen Aussagen lediglich widergespiegelt wird.
Gewiß ist das Problem, das am Ende dieser Sätze beschworen wird, auch ein theoretisches Problem für den Forscher, der die modern bürgerliche Produktionsweise zu begreifen sucht. Zuvor allerdings war und ist es bereits ein praktisches Problem für jene, die in eben dieser Weise produzieren. Dem entspricht, daß die Antinomie der Verwandlung von Geld in Kapital nicht allein eine theoretische Lösung in „Das Kapital“ findet, sondern zuvor schon eine praktisch reelle Lösung finden mußte – in Gestalt eines reellen ökonomischen Gebildes, in Gestalt einer ganz besonderen Ware namens Arbeitskraft. Im„Kapital“ wird die reelle Lösung lediglich geistig nachvollzogen: Die Verwandlung des Geldes in Kapital „geht in der Zirkulationssphäre vor und geht nicht in ihr vor. Durch die Vermittlung der Zirkulation, weil bedingt durch den Kauf der Arbeitskraft auf dem Warenmarkt. Nicht in der Zirkulation, denn sie leitet nur den Verwertungsprozeß ein, der sich in der Produktionssphäre zuträgt.“ (MEW Bd. 23, S. 209)
3. RECHT-WIDER-RECHT ALS WIRKLICHER WIDERSPRUCH
Der wirkliche Widerspruch ist etwas Vielschichtiges, in der Sprache von Marx wie Hegel ausgedrückt: etwas Konkretes, das heißt etwas Reiches, Bestimmungsreiches und in sich Vermitteltes. Nur rein ideelle Widersprüche können abstrakt ausfallen, das heißt abgezogen, einseitig, einschichtig. In aller Regel schließt es die Vielschichtigkeit reeller Widersprüche ein, in sich ideell vermittelt zu sein. Um das wieder an einem Fall deutlich zu machen. Da handelt es sich um einen Widerspruch abermals in der Form der Antinomie. Der zeichnet sich an einer nun schon vorgerückten Stelle der theoretischen Rekonstruktion der modern bürgerlichen Produktionsweise ab. Die Ware Arbeitskraft, die Lohnarbeit, das Kapital sind im Ansatz begriffen, das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ist vordergründig zum Gegenstand der Untersuchung geworden. Eine Antinomie taucht auf, die in der Marx-Rezeption nicht selten als die Antinomie des kapitalistischen Arbeitstages bezeichnet wird, und die den Käufer und den Verkäufer der Ware Arbeitskraft gegeneinander stellt.
Ihre „unterste“ Schicht bildet ein richtiggehendes Widerspruchsverhältnis. Also nicht ein intersubjektives irgendwie kontroverses Verhalten, sondern ein echtes Verhältnis, das zwar im Handeln der Akteure eingegangen wird, und nur dort eingegangen werden kann, aber einmal eingegangen doch eine objektive Beschaffenheit aufweist, eine, die unabhängig davon besteht, ob und wie die Akteure sich ihrer bewußt werden. Genau genommen macht es ein gesellschaftliches Verhältnis aus, sogar ein Produktionsverhältnis. Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft zu sein, das sind Positionen in diesem Verhältnis, gewisse sozialökonomische Stellungen oder Lagen. Es sind ökonomische Charaktermasken, die die Individuen als Träger des Verhältnisses aufhaben. Darin eingeschlossen: bestimmte objektive Erfordernisse. Die Position des Verkäufers schließt neben anderem folgendes Erfordernis ein: Der Verkauf der Arbeitskraft erfordert mit gebieterischer Notwendigkeit die Reproduktion derselben; sie läßt sich nur verkaufen, wenn sie sich reproduzieren kann und dazu u. a. ausreichend Erholung findet. Was ebenso objektiv erfordert, den Arbeitstag zu begrenzen. Die Position des Käufers der Arbeitskraft schließt dagegen folgendes objektives Erfordernis ein: Es ist „Gesetz des Warenaustausches“, daß der Käufer einer Ware aus dem Gebrauchswert derselben größtmöglichen Nutzen herausschlägt. Beim Kauf der Ware Arbeitskraft ist es mithin erforderlich, den Konsum des Arbeitsvermögens größtmöglich auszudehnen, und dazu keine natürliche Schranke des Arbeitstages gelten zu lassen.
Auf einer mittleren Analyseebene erscheint das Widerspruchsverhältnis verwandelt, recht ideell. Die Individuen, die jene Positionen bekleiden, artikulieren ihre Lage in Form von Rechtsansprüchen, fixieren ihr Verhältnis rechtlich. „Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andererseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will.“ (MEW Bd. 23, S. 249) Das ist eine eher ideelle Interaktion. Dies aber doch wie ein Moment des wirklichen Widerspruchs, das ihn in ideell ausgedrückter Weise zum Widerstreit der Gesetze macht. „Es findet also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt.“ (Ebenda) Der Begriff der Antinomie wird dabei offenkundig in einem Sinne verwandt, der ihm schon vor Kant, in der Rechtslehre des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts gegeben worden war. Zwar ist, wie später bei Kant, der Widerstreit der Gesetze gemeint, aber die Gesetze werden vordergründig als rechtsförmige verstanden.
Schließlich eine dritte Schicht des Widerspruchs. Das Handeln, in dem das Widerspruchsverhältnis eingegangen wurde, wächst – vermittelt durch die rechtliche Artikulation – zur Kampfhandlung aus. Es findet also eine Antinomie statt, hieß es, Recht steht gegen Recht. Darauf folgt als nächster Schritt: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“ Gedacht ist dabei an ökonomisch zwingende Handlungen, wie sie während des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt in der Form des Streiks einerseits und der Aussperrung andererseits geläufig werden. Diejenige Seite, die solche Handlungen von existentieller Wucht im Grade der Übermacht aufzubieten vermag, entscheidet die Antinomie zugunsten der objektiven Erfordernisse, die in ihre eigene sozialökonomische Lage eingelassen sind, und auf Kosten der ebenso objektiven Erfordernisse, die in die Lage der Gegenseite eingelassen sind. Es ist wirklich bemerkenswert, zu sehen, wie ausgerechnet die Antinomie mit der für sie typischen Gleichgewichtigkeit der kollidierenden Ansprüche in geräuschvollen Kampfhandlungen buchstäblich eklatant gerät. Und es sind solche Handlungen, die mit ihrem ebenso leiblichen wie seelischen Vollzug die volle Wirklichkeit eines vielschichtigen Widerspruchs abrunden.
LÖSUNG WIRKLICHER WIDERSPRÜCHE
Die Untersuchung einer Produktionsweise schreitet voran, gelangt zu immer weitergreifenden und tiefergehenden Bestimmungen, indem sie verfolgt, wie und in welchen ökonomischen Gebilden, Handlungen, Verhältnissen die Akteure, die auf eben diese Weise ihr Leben reproduzieren, die dabei aufbrechenden Widersprüche lösen. Hinsichtlich des Lösens von wirklichen Widersprüchen stößt Marx auf eine Eigentümlichkeit, die auch in seinen dialektischen Denkformen ihren Niederschlag findet.
Für Hegel war, daran braucht bloß erinnert zu werden, das Lösen und Aufheben von Widersprüchen dasselbe, wobei er den Begriff des Aufhebens in der doppelsinnigen Weise nahm, die an gegebener Stelle erläutert wurde. Marx nun macht an der Bewegung der von ihm untersuchten Widersprüche einen Unterschied zwischen Lösung und Aufhebung aus. An einer Textstelle, wo er diese Widersprüche in verallgemeinernder Perspektive überdenkt, bringt er das auf Begriffe.
Die weitere Entwicklung, die bei den jeweiligen Widersprüchen anschließt, heißt es, „hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen.“ (MEW Bd. 23, S. 118) Das Lösen wirklicher Widersprüche soll gerade nicht ihre Aufhebung sein. Lösen ist etwas anderes als Aufheben.
Gelöst statt aufgehoben werden solche Widersprüche, indem für sie eine besondere Form geschaffen wird. Das ist die Form, in der sie sich bewegen können. Die Bewegungsform der Widersprüche, kurz gesagt. So bietet eine besondere Ware namens Geld die Bewegungsform, in der sich der Widerspruch von Gebrauchswert und Wert, der in jeder gemeinen Warenform haust, bewegen kann. Das ist die Form, in der er nicht aufgehoben, wohl aber gelöst ist. Die noch spezifischere Ware namens Arbeitskraft stellt die Form dar, in der die antinomisch kurzgeschlossenen objektiven Erfordernisse im Prozeß der Verwandlung von Geld in Kapital sich bewegen können, d. h. zugleich erfüllbar werden. Zur Erläuterung gibt Marx noch ein außerökonomisches Exempel: „Es ist z. B. ein Widerspruch, daß ein Körper beständig in einen anderen fällt und ebenso beständig von ihm wegflieht. Die Ellipse ist eine der Bewegungsformen, worin dieser Widerspruch sich ebensosehr verwirklicht als löst.“ (Ebenda, S. 118/19)
Indem das Lösen wirklicher Widersprüche für sie Bewegungsformen schafft, ist es allerdings nicht deren Aufhebung, auch nicht in dem Doppelsinn, den Hegel dem Begriff des Aufhebens gegeben hatte und an den sich Marx ganz gewiß hält. Statt aufgehoben wird ein Widerspruch durch seine Lösung überhaupt erst „verwirklicht“, wie es ausdrücklich heißt, ja „entfaltet“.
Das wiederum schließt ein, daß die Lösung wirklicher Widersprüche sich durchaus nicht als ihre Negation versteht, sondern als ihre praktisch wirksame Affirmation, eben als Verwirklichung. Auch wenn sich fragt, wie ein ohnehin wirklicher Widerspruch sich noch verwirklichen lassen soll.
An griffigen Exempeln für Bewegungsformen, in denen sich Widersprüche ebenso verwirklicht wie gelöst finden, fällt auf, wie wenig sich bei ihnen von Synthesen sprechen läßt. Es war Fichte, der die antinomische Dialektik Kants in die „synthetische Methode“ überführte. Der Widerstreit von These und Antithese sollte danach nicht auf gut kantische Manier „aufgelöst“ werden, nicht „behoben“ werden, gleichsam wie ein Defekt, sondern in Gestalt einer Synthese oder Vereinigung der Gegensätze eine Lösung finden. Von einer Lösung als Synthese oder Vereinigung der Gegensätze kann bei Widersprüchen, deren Lösung Marx verfolgt, schwerlich die Rede sein. Diese Widersprüche bilden selbst schon jeweils eine Einheit, eine Vereinigung, da gibt es nichts mehr zu vereinigen. Die von Marx ins Auge gefaßte Figur der Bewegungsformen wirklicher Widersprüche entzieht sich der synthetischen Methode.
All dies heißt nun nicht, wirkliche Widersprüche würden überhaupt nicht aufgehoben. Gemeint ist vielmehr, daß das Lösen einerseits und das Aufheben andererseits verschiedene Phasen, Lebensabschnitte, Stadien im Schicksal gesellschaftlicher Widersprüche ausmachen. Wenngleich diese Zweiphasigkeit wiederum auch nicht als eine Regel für jeglichen Widerspruch behauptet wird. Als wesenseigen erscheint die Abfolge von Lösen und Aufheben aber bei einem Widerspruch der modern bürgerlichen Produktionsweise, der schließlich als ihr Grundwiderspruch gewichtet wird.
AUFHEBEN – NEGATION DER NEGATION VON EIGENTUMSFORMEN
Indem die Untersuchung methodisch bewußt nachvollzieht, in welcher Bewegungsform ein Widerspruch seine Lösung findet, wie sodann an dieser Bewegungsform selbst ein Widerspruch aufbricht und in welcher Bewegungsform der wiederum eine Lösung erfährt, gelangt sie nach und nach zur gedanklichen Rekonstruktion der Ganzheit der untersuchten Produktionsweise. Als Ganzes erfaßt sie die, indem sie aufdeckt, wie diese Produktionsweise als solche, das heißt als jeweils bestimmte Einheit von Produktionskräften und –Verhältnissen, einen Widerspruch bildet, und der Widerspruch also als einer zwischen dem ereichten Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen besteht. Nämlich als der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion einerseits und der privatkapitalistischen Aneignung der Ergebnisse anderseits. Um hier nur eine von mehreren Formulierungen, die Marx dafür anbietet, aufzugreifen. Jener Widerspruch – in der Rezeption auch als „Grundwiderspruch des Kapitalismus“ fachsprachlich festgeschrieben – stellt sich in höchst vielfältigen Erscheinungsformen dar; eine seiner Erscheinungsformen glossiert die bis heute umgehende Formel „Gewinne privatisieren, Risiken und Verluste sozialisieren“.
Auch bei diesem Widerspruch „erheischt“ die Methode, gedanklich nachzuvollziehen, in welcher Bewegungsform er praktisch seine Lösung erfährt. Seine Bewegungsform wird in dem typisch kapitalistischen Krisenzyklus aufgefunden. Die periodisch ausbrechenden zyklischen Krisen und die ökonomischen Anpassungen, die von den Krisen erzwungen werden, bilden hier die Form, worin der Widerspruch ebenso gelöst wie verwirklicht wird. Ein Geschehen, das bis auf den Tag anhält.
Ein Geschehen auch, das sich nicht verewigen läßt, befindet Marx. Die fortschreitende Vergesellschaftung der Arbeit – Ausdehnung und Vertiefung der Kooperation, Zentralisierung der Produktionsmittel usw. – erreichen dereinst einen Punkt, an dem sie unverträglich geraten mit dem privaten Charakter der Aneignung der Produktionsergebnisse. Wie genau immer sich dies verstehen mag, jenem Grundwiderspruch und dem von ihm gezeichneten Ganzen schlägt einmal die Stunde seiner Aufhebung. Anders als seine Lösung ist seine Aufhebung als ein Akt der Negation zu begreifen, und der Begriff der Negation ist dabei in dem Doppelsinn zu nehmen, den ihm Hegel verlieh.
Wie der Widerspruch, so muß auch seine Negation ein wirkliches Geschehen ausmachen; daß ein wirklicher Widerspruch nicht durch eine bloß gedankliche Verneinung aufgehoben werden kann, versteht sich. Aber was ist das, eine reelle Negation, die sich auf verneinende Aussagen nicht reduzieren läßt, von ihnen allenfalls widergespiegelt zu werden vermag. Wenn, wie im gegebenen Fall, ein Eigentum an Produktionsmitteln in Frage steht, muß die reelle Negation in einem Enteignen bestehen. Und in der Neuaneignung durch veränderte Subjekte. Darin liegt der Doppelsinn.
Nun stellt Marx in Rechnung, daß bereits die kapitalistische Produktionsweise aus einem historischen Vorgang der Enteignung hervorgegangen war, der dafür sorgte, daß ein für sie notwendiger Typus wie der doppelfreie Arbeiter – persönlich frei und frei von sachlichen Verwirklichungsbedingungen seines Arbeitsvermögens – überhaupt en masse zu Gebote steht. Die fragliche reelle Negation muß demnach als eine Negation der Negation begriffen werden. Es war bei der Darstellung der Hegelschen Dialektik versichert worden, wie wenig die dialektische Figur der Negation der Negation mit der in der formalen Logik geläufigen doppelten Verneinung verwechselt werden will. Doppelte Verneinung ist die simple, um nicht zu sagen: ordinäre Rückkehr zum Ausgangspunkt. Den Satz, es ist Tag, doppelt zu verneinen, heißt zu behaupten, daß es doch Tag sei. Der doppelten Verneinung geht alles Kreative, Innovative vollständig ab. Zur Figur der Negation der Negation gehört es dagegen, nicht einfach zum Ausgangspunkt zurückzukehren, sondern in etwas Neues einzumünden. Daran hält sich Marx, wo er diese Figur für das Begreifen der Aufhebung eines gesellschaftlichen Widerspruchs zu mobilisieren sucht. Schrittweise durchgegangen, stellt sich die fragliche Negation der Negation wie folgt dar.
1. Die Position, den Ausgangspunkt bilde der Typus des „individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums“. Dabei handelt es sich um eine Eigentumsform, die sich gut an den fränkischen Allodbauern der Karolingerzeit studieren lassen soll, oder an den ökonomisch ähnlich gestellten skandinavischen Odalmannen des späteren Mittelalters. Noch der hochmittelalterliche Handwerker, der als Virtuose auf seinem Produktionsinstrument spielt, steht für dieses individuelle, auf eigene Arbeit gegründete Privateigentum. 2. Sodann die „erste Negation“. Als Negation des individuellen auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums führt Marx das „kapitalistische Privateigentum“ an, die zwischenzeitliche Feudalisierung wohlwissend überspringend. 3. Schließlich das Aufheben des kapitalistischen Privateigentums. „Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum“. Sie stellt das individuelle Eigentum, statt das private, wieder her auf einer bestimmten „Grundlage“. Und zwar zum einen auf „Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation“, also der Vergesellschaftung der Arbeit; zum anderen auf Grundlage „des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ (MEW Bd. 23, S. 791).
Mit dem Denkmittel der Negation der Negation erschließt sich Marx eine postkapitalistische Eigentumsform von ziemlich unvertrauter Art. Es soll sich um ein individuelles Eigentum handeln – um eines an Produktionsmitteln gewiß – aber doch um ein individuelles Eigentum, das gerade kein privates mehr ist. Was ein individuelles Eigentum vom Privateigentum abhebt, muß nicht allein der gutbürgerlichen Doxa, der alles Individuelle leicht mit dem Privaten verschwimmt, rätselhaft erscheinen. Außerdem soll das individuelle Eigentum, das kein privates mehr ist, mit Gemeinbesitz an Produktionsmitteln verknüpft sein. Wohlgemerkt, nicht mit gemeinschaftlichem Eigentum, sondern mit gemeinschaftlichen Besitz, Eigentum und Besitz sind ja nicht dasselbe, im Vergleich mit Besitz macht Eigentum das bei weitem stärkere Verhältnis aus. Das heißt, das Individuum, und zwar jedes, als Eigentümer und die Gemeinschaft aller „nur“ als Besitzer, und dies beides miteinander verknüpft im Medium einer hochgradig kooperativen Arbeitsweise – das ist die historisch innovative Form, in welche Marx die Negation der Negation von Eigentumsformen einmünden sieht. Hätte er dagegen ein Staatseigentum oder ein Gemeineigentum an Produktionsmitteln ins Auge gefaßt, wäre von ihm alles andere als etwas Innovatives in den Blick genommen worden; beide Formen sind historisch betagte. In Gestalt der altdeutschen Allmende beispielsweise das Gemeineigentum, in Form des antiken ager publicus, der dem ager privatus historisch vorausging, das Staatseigentum.
Der von Marx projektierte sozialökonomische Prozeß einer Negation der Negation hat sich niemals und nirgendwo wirklich ereignet. Was tatsächlich in einigen Ländern für gewisse Zeit vollzogen wurde, ist die Installation einer Produktionsweise, die um das Staatseigentum an industriellen Produktionsmitteln zentriert war und schon deswegen die dialektische Negation kapitalistischer Verhältnisse verfehlte. Wenn denn solche Verhältnisse in den betreffenden Ländern vorab überhaupt bestanden hatten. Marx intoniert seine Aussagen über diese dialektische Negation auch gar nicht wie eine nachvollziehende Beschreibung wirklichen Geschehens, sondern als eine Voraussicht, als die Prognose von Veränderungen, die noch ausstehen aber alsbald schon anstehen. Ihrem dialektischen Gehalt nach taugen seine Aussagen am ehesten dazu, eine bestimmte Bedingtheit zu erkennen: Wenn kapitalistische Eigentumsverhältnisse aufzuheben sind, dann ist das objektiv möglich erst in der positiven Form der Verknüpfung des individuellen Eigentums mit dem Gemeinbesitz. Diese so merkwürdig anmutende Verknüpfung, deutlicher gesagt: diese Einheit gegensätzlicher Momente, nennt er zusammenfassend das „gesellschaftliche“ Eigentum. Dem erkenntnistheoretischen Status nach stellen seine Aussagen über die buchstäblich eigentümliche Verknüpfung eine richtiggehende Idee dar. Etwas Ideelles, das nicht lediglich ein im Menschenkopf umgesetztes und übersetztes Materielles ausmacht, und das darauf wartet, verwirklicht zu werden. Im Denken von Marx bildet diese Idee die sozialökonomische Faser einer umfassenderen Idee von Freiheit. Die zielt auf „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW Bd. 4, S. 482) Einer derart verfaßten Freiheit versucht die Idee vom individuellen Eigentum mit Gemeinbesitz eine angemessene ökonomische Struktur zuzuweisen.
Was die Freiheitsidee selbst betrifft, so hat sich die korrekte Lesart der für sie zitierten Formel wohl nicht von selbst verstanden. Ein prominenter Leser von Marx gestand einmal – und viele andere Leser pflichteten ihm darin bei – den größten Teil seines Lebens jene Formel immer falsch herum gelesen zu haben (Stephan Hermlin, Abendlicht, Leipzig 1979, S. 23). So als sei dort von einer Assoziation die Rede, in der die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden wäre. Um dann spät erst und mit großem Erstaunen, ja mit einem gewissen Entsetzen zu gewahren, daß die tatsächlich nachlesbare Formel genau das Gegenteil besagt. Nicht die Freiheit aller als Bedingung der Freiheit eines jeden, sondern umgekehrt, die Freiheit eines jeden, die individuelle, als unveräußerliche, niemals aufzuopfernde Bedingung der Freiheit aller, der allgemeinen und gemeinschaftlichen.
Ein Kommentar
Mittwoch-Begegnung
Eigentlich wollte ich die Karl-Marx-Allee herunterspazieren, bin dann aber über den Kudamm geschlendert. Als ich meinen heruntergefallenen Handschuh aufheben wollte, kam mir ein
bärtiger Herr zuvor,der grosse Einkaufstaschen trug.Ich glaubte,ihn erkannt zu haben.
„Sie haben ja viel Geld in den Kreislauf gegeben“,sagte ich kess.
Er lächelte,schaute mich erstaunt an und sagte: “ ICH HABE KEIN GELD,ICH HABE KREDITKARTEN “
Zuhause schaute PIVO sofort in sein Bücherregal und da stand es noch.
Das dicke, blaue Buch.