Zwei Thesen über das Werden des Lebens sind in den einschlägigen Wissenschaften verbreitet. Die eine besagt: Omne vivum ex vivo, alles Leben wird aus Leben. Eine Formel, die auch als Gesetz der Biogenese gilt. In dieser Formel faßte man im 19. Jahrhundert empirische Befunde zusammen, die Louis Pasteur und andere Forscher erhoben hatten. Sie zeigten, daß Lebewesen, von denen man bis dahin glaubte, sie würden spontan aus lebloser Materie entstehen, in Wahrheit aus lebendigen Vorgängern hervorgegangen sind. Womit bewiesen war, alles Leben wird aus Leben. Rudolf Virchow hat die mittlerweile schon klassische Formel noch um eine weitere ergänzt: Omnis cellula e cellula, jede Zelle wird aus einer Zelle. „Wo eine Zelle entsteht, da muß eine Zelle vorangegangen sein (omnis cellula e cellula), ebenso wie das Tier nur aus einem Tiere, eine Pflanze nur aus einer Pflanze entstehen kann.“ (Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1871, S. 24). Soweit die eine These. Zu ihr findet sich nun noch eine Art Gegenthese. Ihrem Ansatz nach beinhaltet die Gegenthese den folgenden Gedanken. Es muß ein Werden des Lebens überhaupt geben, ein genuines Werden des Lebens, und das Werden des Lebens überhaupt, kann offenkundig nicht ein Werden aus Leben sein. Aber wie versteht sich solches Werden, wenn es kein Werden aus Leben sein kann? An diesem Fragepunkt angelangt, reklamiert man oft eine „Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie“, um hier eine Formulierung von Ernst Mayr zu bevorzugen (Das ist Biologie, Heidelberg-Berlin 1998, S. 238). Die Behauptung einer Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie gilt auch als zentrale Formel der sogenannten Abiogenese. Gelegentlich werden beide Thesen sogar zugleich, im gleichen Kontext behauptet. So etwa von Francois Jacob. Einerseits akzeptiert er, daß „das Organische zum Lebenden“ geworden sein muß, auch wenn „jene Reihe von Ereignissen schwer zu verstehen ist, die das Organische zum Lebenden werden ließ.“ Im gleichen Text formuliert er andererseits: „Das Leben geht aus dem Leben hervor, und einzig aus ihm.“ (Die Logik des Lebenden, Frankfurt am Main 1972, S. 138, 323). Leben soll also aus dem Organischen, das heißt aus lebloser, molekularer Materie geworden sein und zugleich doch einzig und allein aus Lebendigem werden können. Spätestens dann, wenn beide Gedanken im gleichen Kontext auftauchen, quasi direkt aufeinander treffen, und auch noch eine so bündige Formulierung erfahren wie durch Jacob, wird es bereits fühlbar, wie logisch spannungsvoll sie zueinander stehen. Wie soll Leben aus leblosen organischen Substanzen geworden sein können, wenn es zugleich doch einzig und allein aus anderem Leben hervorgehen können soll? Das ist – wenigstens in der nachlesbar formulierten Weise – unmöglich.
Das Aporem vom Werden des Leben. Dennoch kann die problematische Aussagenverknüpfung schwerlich wie barer Unsinn verworfen werden. Denn die These und zumindest der Ansatz der Gegenthese muten doch unbestreitbar an. Wie wollte man die These „Omne vivum ex vivo“ bestreiten, wie bestreiten, daß jede Zelle allein aus etwas geworden sein kann, das ebenfalls eine Zelle ausmacht. Niemals hat irgend jemand ein Leben vorgefunden und untersucht, daß aus etwas anderem geworden wäre als aus anderem Leben. Ebenso unbestreitbar nimmt sich der gedankliche Ansatz der Gegenthese aus, wonach es ein genuines Werden des Lebens geben muß, daß offenkundig kein Werden aus Leben sein kann. Das muß unweigerlich angenommen werden. Dazu verpflichtet schon die gerade verteidigte These. Inwiefern nämlich verpflichtet die These dazu? Insofern als sie ansonsten in einen regressus in indefinitum mündet, der auf folgerichtige Weise nicht durchgeführt werden kann. Auf sich allein gestellt, müßte sie in eine endlos oft zu wiederholende Zurückführung münden. Eine Zelle kann nur aus einer anderen geworden sein, diese Zelle ebenfalls nur aus einer weiteren anderen Zelle, die ihrerseits schon aus einer abermals anderen Zelle hervorgegangen sein muß, und so in indefinitum. In der Konsequenz müßte die Zurückführung noch über den zeitlichen Anfang des Universums hinaus angestrengt werden. Was aber doch logisch unmöglich statthaben kann. Deshalb ist es zwingend geboten, die These „Omne vivum ex vivo“ zu ergänzen um eine These, die besagt, daß es ein Werden des Lebens gibt, das kein Werden aus Leben ausmacht. Interessanterweise stehen nun auch diese beiden – bereits ein wenig entlasteten – Behauptungen alles andere als logisch problemlos zueinander. Es genügt ein winziger Schritt der Explikation, um sichtbar zu machen, wie sie sich zu einer Antithetik kurzschließen. Die These lautet: Alles Leben wird aus Leben. Die Antithese besagt: Es gibt ein Werden des Lebens, das kein Werden aus Leben ist. Oder um es pointierter zu formulieren:
Das Werden von Leben macht zugleich ein Werden aus Leben und kein Werden aus Leben aus.
Bei dieser Kontradiktion handelt es sich um eine beidseitig notwendig bestimmte, um eine Antinomie also. Ihre Denknotwendigkeit hat eine besondere Form. Denknotwendig fällt sie wie ein unumgängliches Durchgangsstadium der Vernunft aus. Drei der vier Antinomien, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ formuliert, begründet und, wie er sagt, kritisch behoben hat, weisen diese logische Besonderheit auf – die Form eines ebenso notwendig zu durchlaufenden wie kritisch entscheidbaren, lösbaren Problems. Wie kann das Aporem des Werdens von Leben gelöst werden? In seinem Fall dürfte die Lösung durch eine begriffliche Differenzierung zu haben sein, durch die Aufdeckung einer Differenz, von der die Formulierung der Schwierigkeit noch abstrahiert, und auch abstrahieren mußte, weil sie nicht aufgedeckt werden kann, bevor sie zum Problem wird. Bei der jetzt fraglich gewordenen Differenz wird es sich um eine des Werdens handeln. These und Antithese meinen (und müssen konsequenterweise meinen) ein differentes Werden, ein Werden von differenter Art. Und zwar zum einen das Werden aus etwas, aus etwas Vorgängigem, zum anderen ein ekstatisches Werden. Letzteres ist das unmittelbare Werden, ersteres das vermittelte Werden.
Das vermittelte Werden oder das Entstehen. Es gibt ein vermitteltes Werden, das Werden von etwas aus etwas anderem, aus einem Vorgängigen. Vor allem in dieser Gestalt ist dem Alltagsbewußtsein das Werden geläufig, so geläufig, daß es dazu neigt, die eine Gestalt mit dem Werden überhaupt zu verwechseln. Zu ihrer Bezeichnung bietet sich das Wort „Entstehen“ an. Seinem regelmäßigen Wortgebrauch nach meint „Entstehen“ ja stets nicht nur ein Entstehen von etwas, sondern auch das Entstehen aus etwas. Daß etwas entstehe, ohne dabei aus etwas zu entstehen, scheint danach ungereimt. Das Wort eignet sich mithin dazu, ein eigentümliches Werden auszuzeichnen: Das Werden von etwas aus etwas Vorgängigem, das muß unter dem Entstehen verstanden werden. Darin liegt schon, daß der Entstehungsprozeß von etwas immer auch die Veränderung von etwas anderem ausmacht. Darin wiederum liegt, daß bei allen Entstehungsprozessen das Werden von etwas aus einem Vorgängigem folgt; es handelt sich bei jeglichem Entstehen also um ein Werden in der Folgerichtung.
Das unmittelbare Werden oder das Eintreten. Es gibt ferner ein unmittelbares Werden. Es kann etwas werden, auch ohne aus etwas zu werden. Es folgt dann auf vorgängige Ereignisse, ohne aus ihnen zu folgen. Während Entstehungsprozesse stets in der Folgerichtung geschehen, geht das unmittelbare Werden eine andere Richtung. Auf solch ein Werden läßt sich niemals schließen, niemals schlußfolgern, schon gar nicht deduktiv. Martin Heidegger war mit einem zur Folgerichtung alternativen Richtungssinn befaßt. Der nachlesbare Gedanke, der das bezeugt, besagt: Die Gegenwart geht nicht mit der Zukunft schwanger, sie entspringt der Zukunft (Sein und Zeit, Gesamtausgabe Bd. 2, S. 563 f). Vor allem der erste Teil des Gedankens, wonach die Gegenwart nicht mit der Zukunft schwanger geht und also Künftiges nicht aus Gegenwärtigem entsteht, hebt gegen die Folgerichtung ab. Der zweite Teil, der ein Entspringen des Gegenwärtigen aus Künftigem behauptet, zeigt, wie schwer es fällt, einen alternativen Richtungssinn begrifflich zu artikulieren, ohne dabei die Folgerichtung lediglich wie den sprichwörtlichen Spieß umzudrehen. Auf welchen Begriff läßt sich das unmittelbare Werden bringen? Das Wort „Eintreten“ konnotiert Unmittelbarkeit; anders als „Entstehen“ verweist es seinem regelmäßigen Gebrauch nach nicht schon von sich aus auf ein Woraus und Woher, auf etwas Vorgängiges, auf einen Grund und Boden. So taugt es dazu, ein im Vergleich mit dem Entstehen anderes, unmittelbares Werden auszuzeichnen. „Eintreten“ ordnet sich einer Begriffsfamilie zu, die ich in „Nichts und Zeit“ zu gruppieren versucht habe und deren prominente Mitglieder „Ekstase“, „Individuation“ und „Gegebenheit per creationem“ heißen. Die Wissenschaft setzt üblicherweise die Folgerichtung und das Werden in der Folgerichtung absolut. Deshalb nimmt sie sogar deutliche Phänomene des Eintretens einseitig im Paradigma der Folgerichtung wahr. In dieser Perspektive erscheint ihr dann das Eintreten als ein nicht notwendiges Folgen, das heißt als Zufall. „Zufall“ meint das im Banne der Folgerichtung verstellte unmittelbare Werden. So unbestreitbar es ist, daß es Zufälle gibt, so unbestreitbar muß es auch sein, daß es das Eintreten, das unmittelbare Werden gibt.
Das Werden des Lebens, das kein Werden aus Leben ist. Im Lichte der Differenz von Entstehen und Eintreten läßt sich das thematisierte Werden des Lebens aufhellen. Näher besehen zeigt sich, wie die vermerkten kontroversen Thesen mal ein Entstehen von Leben, mal ein Eintreten des Lebens meinen und meinen müssen. – Wie wird Leben überhaupt? In Frage steht damit, wie das, was das Leben eigentümlich ausmacht, geworden ist. Des Lebens einfachste und allgemeine Eigentümlichkeit besteht in der Materialisierung, darin also, daß Lebensprozesse nach allen Seiten hin Materialisierungen ausmachen, statt materielle Prozesse wie sie von den Körpern und Korpuskeln, von der physikalischen und chemischen Evolution her bekannt sind. Die Materialisierung wiederum unterstellt einen materialisierbaren Geist, einen spirituellen und noch nicht mentalen Geist, den sogenannten „Geist der Gene“, den spiritus rector, wie ich ihn zu nennen vorgeschlagen habe. Er macht das aus, was man in den einschlägigen Wissenschaften auch mit Metaphern wie „Genetisches Wörterbuch“ und „Protein-Nuclein-Wörterbuch“ umschreibt. Ohne ihn keine Materialisierung, kein Zellbildung, keine Gewebe und Organismen, kein einziger Lebensprozeß. Das Werden des Lebens überhaupt, mithin das Werden der Materialisierung, besteht allererst – im ersten Ereignen! – in dem Werden dieses Geistes. Die eingangs gestellte Prüffrage muß darum konkreter so lauten: Wie wird dieser Geist? Kann man sagen, er sei richtiggehend entstanden? Dazu müßte er aus etwas anderem, etwas Vorgängigem geworden sein – das heißt, aus der von Haus aus unbelebten Materie, aus der Körperevolution. Wenn er in der Tat entstanden ist, dann aus unbelebter Materie. Aber läßt sich wirklich folgerichtig behaupten, daß er aus unbelebter Materie entstanden, aus der physikalischen und chemischen Evolution hervorgegangen sei? Mit anderen Worten, läßt sich zutreffend behaupten, das Andere und Vorgängige, bei dem alle Entstehungsprozesse notwendig anschließen, bestehe im Falle des Werdens des spiritus rector in der per se unbelebten Materie bzw. in bestimmten Materien, in der Körperevolution? Um es gebührend knapp und entschieden zu sagen: mitnichten. Damit etwas aus unbelebter Materie entsteht, muß es aus einer ihrer Veränderungen hervorgehen können, und damit es aus einer ihrer Veränderungen hervorzugehen vermag, muß es als eine ihrer – sodann veränderten – Eigenschaften auftauchen können. Eben dies aber scheidet im Falle jenes Geistes vollständig aus. Niemals und nirgendwo bildet er eine Eigenschaft der Materie. Unmöglich, daß der Geist, den man auch als „Geist der Gene“ umschreibt, und mit ihm die dem Leben eigentümliche Materialisierung, aus der per se unbelebten Materie entstehen, aus deren Evolution hervorgehen. Natürlich geschehen Materialisierungen stets in vorgefundene Materien hinein, aber sie gehen nicht aus ihnen hervor. Wie ist der fragliche materialisierbare Geist dann geworden? In der Weise des Eintretens, in der Art eines unmittelbaren Werdens, ekstatisch. Dieser Geist tritt einfach ein, niemals und nirgendwo entsteht er aus irgend etwas. Er entsteht überhaupt nicht, er tritt ein. Sein Werden ereignet sich anders als in der Folgerichtung. In der von den Naturwissenschaften bevorzugten, wenn nicht sogar paradigmatisierten Perspektive, in einer der Folgerichtung, muß das Eintreten des Geistes als sogenannter Zufall erscheinen.
Der Schein eines Entstehens. Einmal eingetreten, stellt sich der spiritus rector an etwas anderem dar. Als das Übersinnliche kann er nicht anders als sich an etwas Sinnlichem, an Körpern darzustellen. Damit fällt zusammen, daß zu gewisser Zeit gewisse molekulare Körper eine ideelle Bedeutung erlangen, die man für gewöhnlich auch mit Ausdrücken wie „genetische Information“ umschreibt. Der „Zufall“ hat gewollt, daß es vor allem DNA-Korpuskeln sind, was die ideelle Bedeutung erlangte. Jeweils bestimmte DNA-Bausteinsequenzen bedeuten, daß es ansteht, Proteine mit ebenso bestimmten Aminosäueresequenzen zu synthetisieren; und differente DNA-Bausteinsequenzen bedeuten, daß es ansteht, Proteine mit entsprechend differenten Aminosäueresequenzen zu synthetisieren. Das Werden des Lebens überhaupt, das Werden der dem Leben eigentümlichen Materialisierung besteht allererst im urtümlichen Werden von jenen ideellen Bedeutungen, die man auch genetische Information nennt. Wie versteht sich dieses urtümliche Werden der ideellen Bedeutungen? Erfragt wird damit nicht, wie es naturgeschichtlich zu den molekularen Körpern namens DNA usw. kommen konnte – die bilden gewiß einen Effekt der Materieevolution – in Frage steht allein, wie es dazu kommen konnte, daß solche Körper auf einmal eine ideelle Bedeutung erlangen, plötzlich etwas ideell bedeuten. Daß sie etwas ideell bedeuten und was sie bedeuten, ist zusammen mit besagtem Geist eingetreten. In der Weise des Eintretens konnte es werden. Unmöglich konnte es als eine neue Eigenschaft jener Körper entstehen und aus ihrer Evolution hervorgehen, denn es gehört überhaupt nicht zu ihren Eigenschaften. So sehr besagte Körper stets nur mit ihren Eigenschaften, mit ihrer chemischen Beschaffenheit etwas ideell zu bedeuten vermögen, so wenig gehören diese ideellen Bedeutungen zu ihren Eigenschaften, zu ihrer naturgeschichtlich entstandenen chemischen Beschaffenheit. Es gibt die ideellen Bedeutungen ausschließlich als Darstellung eines Geistes an bestimmten Körpern und deren chemischen Eigenschaften. Zusammen mit diesem Geist treten sie ein. Nochmals, was dabei eintritt, sind nicht die als DNA, RNA und Aminosäure bezeichneten molekularen Köper. Die müssen – in welcher primitiven Gestalt immer – innerhalb der Körperevolution bereits entstanden sein. Was eintritt, ist vielmehr der Umstand, das diese Körper plötzlich ideelle, materialisierbare Bedeutungen aufweisen, daß sie auf einmal eine Rolle spielen, die sie niemals wie eine ihrer Eigenschaften an sich haben, die gar keine molekulare Rolle ist, sondern eine zellulare Rolle, nämlich die Rolle, als Gene zu fungieren. Ein Gen ist ja kein molekularer Körper, sondern eine Rolle, die ideell bedeutungsvolle molekulare Körper in Zellen spielen. – Wenn der in Rede stehende Geist gewissermaßen definiert, welche DNA-Bausteinsequenzen das Seinsollen welcher Aminosäuresequenzen bedeuten, dann müssen sich bei Veränderungen in DNA-Körpern – woher immer die rühren mögen – gewandelte ideelle Bedeutungen einstellen, andere Ideen, die Ideen von anders aufgebauten Proteinen, Geweben, Organismen, Lebewesen. Und der vollzogene Wandel der sogenannten genetischen Information – vom Pantoffeltierchen bis zum menschlichen Genom – ist gewiß ein beträchtlicher. Er wirft einen Schein aus. Es scheint so, als würden gewisse zur Körperevolution gehörige Veränderungen an bestimmten molekularen Körpern immer neue, immer komplizierter geratende genetische Informationen hervorbringen und diese aus jenen entstehen. Aber da handelt es wirklich bloß um einen Schein. Was dabei entsteht, das sind die wieder und wieder veränderten, vergrößerten, verkomplizierten molekularen Körper. Daß sie jeweils etwas anderes, etwas Komplexeres ideell bedeuten und was sie ideell bedeuten, das liegt hinlänglich in dem Geist, in dessen Materialisierung das Leben besteht. Und der tritt ein, statt zu entstehen.
Omne vivum ex vivo. Natürlich gibt es auch ein Entstehen von Leben, das kein Schein ist. So wie der Begriff des Entstehens gebildet wurde, muß der Ausdruck „das Entstehen von Leben“ folgendes bedeuten: Das Werden von Leben aus etwas Vorgängigem; das Werden von Leben als die Veränderung von etwas anderem als dem Entstehenden; das Werden von Leben in der Folgerichtung. Ganz sinnfällig handelt es sich darum bei der Fortpflanzung, bei der geschlechtlichen wie bei der ungeschlechtlichen. In Gestalt von Tochterzellen ist Leben in der Tat entstanden, weil aus etwas anderem, aus Mutterzellen, geworden. Ihr Entstehen besteht direkt in der Veränderung von etwas Vorgängigem, nämlich in der Teilung von Mutterzellen. Und ihr Entstehen geschieht in der Folgerichtung; es folgt aus dem Wachstum vorgängiger Zellen. Analog bei der geschlechtlichen Fortpflanzung, was hier nicht im einzelnen ausgeführt werden muß. Den Begriff des Entstehens scheint freilich auch die geläufige Rede von der Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie zu erfüllen. Das Vorgängige, bei dem alle Entstehungsprozesse anschließen, soll danach die (von Haus aus unbelebte) Materie sein, und der Entstehungsprozeß selbst soll direkt in evolutionären Veränderungen molekularer Materien bestehen. Nur daß sich ein solcher Entstehungsprozeß unmöglich kohärent denken läßt, wie gezeigt wurde. Und weil es kein Entstehen des Lebens aus prävitalen Prozessen gibt, macht die Fortpflanzung das einzige Entstehen von Leben aus. Eben das mag die berühmte Formel „Omne vivum ex vivo“ näher besagen. Richtiggehend entstehen kann Leben ausschließlich aus anderem Leben. Das Vorgängige, bei dem alle Entstehungsprozesse anschließen und dessen Veränderung die Entstehungsprozesse wesentlich ausmacht, vermag im Falle des Lebens stets nur ein anderes Leben, ein vorgängiges Lebewesen zu sein. Buchstäblich entstanden sein kann eine Zelle einzig und allein aus einer anderen Zelle. Ganz so wie das Virchow ja auch an der bereits zitierten Textstelle formuliert hat: „Wo eine Zelle entsteht, muß eine Zelle vorangegangen sein.“ Diesbezüglich liegen die Dinge bei Lebewesen anders als bei Körpern und Korpuskeln. Moleküle können nicht nur aus anderen Molekülen entstehen, sondern auch aus freien Atomen. Während Leben regelrecht zu entstehen vermag ausschließlich aus seinesgleichen.
Eine Lösung des thematisierten Aporems zeichnet sich ab. Das Werden des Lebens – so zeigte sich das Aporem in pointierter Fassung – stellt zugleich ein Werden aus Leben und kein Werden aus Leben dar. Die Lösung liegt darin, daß dem Werden des Lebens zwar sehr wohl beides zugleich zukommt, aber doch als einem differenten, verschiedenartigen Werden. Die problematische Aussage braucht lediglich mit den Begriffen des Entstehens und des Eintretens novelliert zu werden, sodann muß und darf sie lauten: Das Werden von Leben macht ein Entstehen aus, als solches aber unbedingt ein Entstehen aus anderem Leben – wie das in der Fortpflanzung geschieht; zugleich macht es kein Entstehen aus vorgängigem Leben aus, weil überhaupt kein Entstehen, sondern ein Eintreten, das Eintreten der typisch vitalen Materialisierung, das Eintreten eines materialisierbaren Geistes – wie das im Werden von Leben überhaupt geschieht. Leben wird aus anderem Leben, insofern es richtiggehend entsteht, und das kann es – in der Fortpflanzung – einzig und allein aus vorgängigen Lebewesen; zugleich wird es nicht aus anderem Leben, insofern wie es – als Leben überhaupt – niemals entstehen, sondern nur eintreten kann. Diese Aussagen überführen das Aporem keineswegs der Falschheit, sie explizieren nur eine Differenz des Werdens, welche die problematische Aussage ebenso impliziert wie noch unartikuliert läßt. Unbeschadet dessen hat die Explikation der Differenz das Aporem gelöst, indem sie die Konjunktion „ein Werden aus Leben und kein Werden aus Leben“ überführt in die Verknüpfung „Entstehen von Leben und Eintreten von Leben“.