In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht im deutschsprachigen philosophischen Diskurs eine auf Hegel gemünzte polemische These zur Dialektik um: Wahre Dialektik ist kein Monolog! Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) hat sie gleichsam in Stein gemeißelt. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkens mit sich selbst, sie ist der Dialog zwischen Ich und Du.“ So lautet einer seiner „Grundsätze für die Philosophie der Zukunft“ (§ 64), die er 1843 publizierte. Jahre zuvor schon, noch zu Lebzeiten Hegels, hatte eine philosophische Denkrichtung sich auszubilden begonnen, für die die kritische Wendung gegen den tatsächlich oder vermeintlich monologischen Charakter der hegelschen Dialektik eine geradezu motivische Bedeutung erlangt – die moderne philosophische Hermeneutik. Sie wird von Friedrich Daniel Schleiermacher (1768 – 1834) begründet, und zwar als die „Kunstlehre des Verstehens„. Seitdem durchlief die Hermeneutik eine beträchtliche Entwicklung, die Wendung gegen Hegels Monologisieren ist ihr aber geblieben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekräftigt Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) das Motiv: „Hegels Dialektik ist ein Monolog des Denkens, der vorgängig leisten möchte, was in jedem echten Gespräch nach und nach reift.“ (Wahrheit und Methode, Ges. Werke, Bd. 1, S. 375). Anders als die gewissermaßen antidialektische Kritik, die von kritischen Rationalisten wie Popper geübt wird, verwirft die Hermeneutik keineswegs die Dialektik schlechthin und überhaupt, sie kritisiert deren monologische Auslegung. Solche Kritik geht mit der systematischen Ausarbeitung einer eigenen Dialektik einher, die nicht selten als die wahre und eigentliche daherkommt. Man darf von hermeneutischer Dialektik sprechen. Über die ihr durch Schleiermacher verliehene Gestalt war bereits in dem Eintrag vom 31. März 2012 die Rede. An dieser Stelle soll nun vorgestellt werden, wie Gadamer, der wirkungsmächtigste philosophische Hermeneutiker des 20. Jahrhunderts, Dialektik entwarf.
KUNST DES FRAGENS. Wie Schleiermacher versteht Gadamer die Dialektik ganz buchstäblich als „Kunst des Gesprächs“. Er kehrt am Gespräch jedoch eine Struktur heraus, von der aus er die hermeneutische Dialektik auf neue Weise konzipiert. Jedes wirkliche Gespräch habe „die notwendige Struktur von Frage und Antwort“. Von daher legt er die Dialektik resp. Unterredungskunst als „Kunst des Fragens und des Suchens der Wahrheit“ aus. Das Fragen und Antworten würde geradezu die „Vollzugsweise der Dialektik“ ausmachen. Die „Dialektik von Frage und Antwort“ finde sich tief eingelassen in die Struktur der hermeneutischen Erfahrung. Diese Konzeption nimmt einen Gedanken auf, der bereits zum Dialektikverständnis von Platon gehört hat. Der ließ seinen Sokrates an einer Stelle definieren: „Dialektiker ist, wer zu fragen und zu antworten versteht.“ (Kratylos 390c.). Eine recht schlicht anmutende These, die dennoch Ideengeschichte gemacht hat. Als nächstes taucht sie in der Logik der Stoiker auf. Dort gilt das methodische Fragen und Antworten als exklusive Leistung der Dialektik. „Ohne sie sei es nicht möglich, methodisch zu fragen und zu antworten.“ (Diog. Laert., Vitae philos. VII 47 – 48). Nachdem Platons These in einschlägigen Philosophien des Mittelalters und der Renaissance immer wieder Anklänge und Auslegung gefunden hat – etwa durch Petrus Ramus – und in der Folgezeit allerdings selbst bei erklärten Dialektikern in Vergessenheit geraten ist, wird sie von Gadamer wieder aufgenommen und mit ihrer intensiven Bindung der Dialektik ans Fragen und Antworten konzeptionell entfaltet. In seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ geschieht das. Angesichts der Etymologie des alten Wortes „dialektike“, in Erinnerung an „Unterredungskunst“ als seine einfache Wortbedeutung, vermag es spontan einzuleuchten, daß die Dialektik etwas mit einer Kunst des Fragens und Antwortens zu schaffen haben muß. Wie das Gespräch ein Fragen und Antworten einschließt, so die Kunst der Gesprächsführung die des Fragens und Antwortens. Das scheint selbstverständlich. Es gibt aber nur eine oberflächliche Begründung her. Was das Spiel von Fragen und Antworten tiefinnerlich zur dialektischen Bewegung und Kunst macht, ist der logische Stellenwert vor allem des Fragens für das wirkliche Gespräch, d. h. für das dialogische Denken, das dialogisch gemeinsame Verstehen.
FRAGEN STELLT DAS DENKEN INS OFFENE. Darin liegt der besondere logische Stellenwert des Fragens. „Fragen heißt ins Offene stellen.“ (Wahrheit und Methode, a. a. O. S. 369). Als ein Fragen öffnet sich der Prozeß. Alle Fragen, die wirklich solche sind, statt Scheinfragen, sind offene Fragen. „Was ist Wahrheit – Korrespondenz, Kohärenz oder Konsens?“, gibt ein Beispiel dafür. Diese Frage eröffnet die Prüfung mehrerer Möglichkeiten, statt eine Vorfixierung auf eine einzige Möglichkeit vorzunehmen. Generell besteht die Offenheit des Fragens und des Erfragten in dem „Nichtfestgelegtsein der Antwort„. Das Fragen fixiert das Erfragte nicht darauf, so und nicht anders zu sein, fixiert es nicht entweder auf ein Ja oder auf ein Nein. Vielmehr bringt es das Erfragte in eine gewisse Schwebe, darin das So und das Anders, das Ja und das Nein, das Pro und das Contra einander die Waage halten. Auf diese Weise gerät etwas allen Ernstes zu etwas Fraglichem. Ein wenig erinnert das an die Art, wie Aristoteles in seiner „Topik“ Probleme definiert. Danach stellt der Satz „Ist jede Lust ein Gut?“ noch kein Problem dar, erst der Satz „Ist jede Lust ein Gut oder nicht?“ tue das. „Sofern die Frage ins Offene stellt, umfaßt sie immer beides, sowohl das im Ja wie das im Nein Geurteilte.“ (a. a. O. S. 370) Die Offenheit des Fragens und Erfragten besteht mithin auch darin, daß es etwas zu entscheiden gibt, daß eine Entscheidung über das So und Anders, Ja und Nein, Pro und Contra ansteht. Echte Fragen können nicht beantwortet werden, ohne entschieden werden zu müssen. Niemals allerdings ist die Offenheit des Fragens uferlos, immer findet sie sich begrenzt, stets ist sie eine bedingte. So stellt das Fragen Bedingungen, die Bedingungen des Problems, an die sich das Antworten halten muß, die es einhalten, einlösen muß, oder es fällt falsch aus.
FRAGEN UND SCHEINFRAGEN. Die Leistung, das Denken ins Offene zu stellen, kommt, wie bereits angedeutet, nur den echten, eigentlichen Fragen zu. Diese Versicherung ist nötig, weil es auch unechte Fragen gibt, die Scheinfragen. Das sind Aussagesätze mit Fragezeichen bzw. im Frageton aber ohne Fragesinn. Der Satz „Gibt es absolute Wahrheit?“ beispielsweise. ist einer von ihnen. So intensiv wie der Begriff der absoluten Wahrheit von der herrschenden Meinung besetzt gehalten wird, enthält besagter Satz eine Vorfixierung auf die verneinende Antwort, mitnichten ragt er ins Offene hinein. Etwas anderes wäre es, die herrschende Meinung in Frage zu stellen, sie selbst fraglich zu machen. Das verhieße Fragestellungen, die weder auf die Bejahung noch auf die Verneinung vorfixieren und also echt, weil offen ausfielen. Gadamer zählt zu den Scheinfragen unter anderem die „pädagogischen Fragen“. Sie seien Fragen ohne einen eigentlich Fragenden. Der Lehrer, der im Seminar fragt, wie Thomas von Aquin an einer berühmt gewordenen Textstelle die Wahrheit definiert, stellt eine Frage, die für ihn genauso wie für das Seminar keine offene ist, weil ihre Beantwortung von vornherein feststeht: „adaequatione intellectus et rei / Übereinstimmung von Verstand und Sache“ (Summa teologiae, I, q. 21 a. 2). Darum agiert er in dem Moment auch nicht als Fragender, höchstens als Sprecher von frageförmigen Sätzen. Daß allerdings im pädagogischen Geschehen ausschließlich Scheinfragen und niemals echte, offene Fragen möglich sind, wird man deshalb gewiß nicht annehmen müssen. Wenn einem Auditorium erst verschiedene Konzeptionen der Wahrheit vorgestellt werden – die korrespondenztheoretische, die kohärenztheoretische und die konsenstheoretische – und es vor diesem kontroversen Hintergrund dann gefragt wird „Wie entscheiden Sie sich – was ist Wahrheit?“, so steht es vor einer ebenso didaktisch bedeutsamen wie echt offenen Frage. Gadamer rechnet zu den Scheinfragen ferner die „rhetorischen Fragen“. Das seien Fragen nicht nur ohne einen Fragenden, sondern auch ohne etwas Erfragtes.
WISSEN VOM NICHTWISSEN NÄHRT EIGENTLICHES FRAGEN. Angesichts der Möglichkeit, in Scheinfragen zu verfallen oder stecken zu bleiben, macht es Sinn, kontrastierend von einer Kunst des Fragens zu sprechen. Sie ist das Vermögen, Fragen zu finden und zu stellen, die das Denken in der Tat öffnen, offenhalten, ins Offene stellen. Eine Methode, diese Kunst zu lernen, einen methodischen Weg, auf dem es sich erlernen ließe, das Fragwürdige an etwas zu finden, gibt es für Gadamer indes nicht. Die Kunst des Fragens sei überhaupt nicht in dem Sinne eine Kunst, in dem die Alten von „techne“ sprachen, also nicht im Sinne eines lehrbaren Könnens. Zumal echte Fragen nicht buchstäblich gesucht und gefunden würden. Sie würden sich einstellen wie Einfälle. Den Einfällen kann aber vor- und zugearbeitet werden, indem man ein Wissen vom Nichtwissen gewinnt. Um fragen zu können, muß man wissen wollen, das aber verlangt zu „wissen, daß man nicht weiß“. Die ideengeschichtliche Tradition, die unter dem Titel docta ignorantia / belehrte Unwissenheit bekannt ist und von Sokrates über Cusanus bis zu zeitgenössischen Skeptikern reicht, mündet in die Kunst des Fragens.
DIALEKTIK VON FRAGE UND ANTWORT. Es ist folgerichtig, echte Fragen zu beantworten. An solche Fragen schließen auf alle Fälle die Gedanken folgerichtig an, die auf deren Beantwortung sinnen. Dagegen Gedanken, die an Fragen vorbeigehen, sie verfehlen oder absichtsvoll zu umgehen suchen, nicht folgerichtig anschließen. Es ist gewissermaßen logisch zwingend, auf Fragen nicht beliebige, sondern nach Antwort suchende Gedanken folgen zu lassen. Im Sinne dieses zwangslosen Zwanges hat das Fragen etwas Treibendes an sich, etwas von einer geistigen Triebkraft, und zwar einer Triebkraft für das wirkliche Gespräch, d. h. für das dialogische Denken, das dialogisch gemeinsame Verstehen. Sodann stellt sich der Prozeß, in dem gefragt und geantwortet wird, insgesamt folgendermaßen dar: Als ein Fragen treibt der Prozeß von sich aus zum Entscheiden der Fragen, und das heißt, er treibt über sich hinaus. Von sich aus treibt er dazu, weil kraft seiner eigenen Frageform. Über sich hinaus treibt er, weil hinaus über das bewußte Nichtwissen, das seinem Fragen zu Grunde liegt, hin zu einem das Wissen vom Nichtwissen überschreitenden Wissen. So beschreibt der Prozeß in einer besonderen Weise, in der Art eines geistigen Prozesses, die nachstehende elementare Figur. Etwas geht per se über sich hinaus. Und das ist die einfachste Figur der dialektischen Bewegung. Diese Figur begegnet einem bei vielfältigen Phänomenen der Dialektik von Fragen und Antworten in ebenso vielfältigen Gestalten. Am Verstehen von Texten sieht Gadamer sie u. a. in folgender Gestalt sich abzeichnen. Der Sinn eines Textes, sagt er, ist „relativ auf die Frage, für die er eine Antwort ist, d. h. aber, er geht notwendig über das in ihm selbst Gesagte hinaus“ (a. a. O. S. 375). Näher meint das: Einen Text zu verstehen heißt, die Fragen zu finden und zu stellen, auf die er Antwort gibt, und ihn schließlich als eben diese Antwort zu deuten. Um beispielsweise die aristotelische Schrift „Topik“ zu verstehen, muß auf Fragen zurückgegangen werden, die sie beantwortet und von denen die eine darauf zielt, was Dialektik sei. Die „Topik“ gibt darauf die Antwort, daß Dialektik die Kunst des Prüfens, Widerlegens und Behauptens von streitbaren Standpunkten sei, eine Logik der Kontroverse. Nun werden die Fragen, von denen her sich Texte verstehen lassen, gewiß echte Fragen sein, offene. Als solche wird es für sie nicht allein die eine Antwort geben können, die der gerade zu verstehende Text anbietet; innerhalb ihres Horizonts werden noch andere mögliche Antworten auftauchen. So taucht im Horizont der Frage, was Dialektik sei, nicht nur die von Aristoteles gegebene Antwort auf, sondern wenigstens noch die bereits von Platon im Dialog „Der Staat“ vorgelegte, wonach Dialektik Wesenserkenntnis sei, Erkennen der Dinge selbst. Einen Text zu verstehen, bedeutet darum genauer, ihn von Fragen her zu erschließen, auf die er eine Antwort gibt, für die sich aber auch noch andere mögliche Antworten finden. Die „Topik“ läßt sich nach einer Seite hin von einer Frage her verstehen, auf die nicht nur sie antwortet, mit der Bestimmung der Dialektik als Logik der Kontroverse, sondern auch noch mindestens ein anderer Text, mit der Bestimmung der Dialektik als Erkennen der Dinge selbst. So etwas meint die These, daß der Sinn eines Textes „relativ ist auf die Frage, für die er eine Antwort ist“, und als solcher „notwendig über das in ihm selbst Gesagte hinaus“ weist. Von der Frage, was Dialektik sei, her gedeutet, weist der Sinn der „Topik“ über das in ihr ausdrücklich Gesagte hinaus. Ihr Sinn umfaßt nämlich nicht nur die dort ausdrücklich gegebene Antwort, daß Dialektik Logik der Kontroverse sei, darüber hinaus umfaßt er auch, daß Dialektik eben anders als die von Platon gemeinte Wesenserkenntnis ausfalle, und was das alles impliziert.