EIGENSTÄNDIGER ANSATZ – PLOTIN
Die spätantike Schule des sogenannten Neuplatonismus entwickelt eine eigenständige Idee zur Dialektik. Der Grieche Plotin (ca. 205 – ca. 270), auf den die Schulbildung zurückgeht, kreiert den Ansatz dazu. Er selbst meint, die platonische Dialektik mehr fortgeschrieben und ausgeführt als erneuert und verändert zu haben. Aber das ist allzu bescheiden gesagt.
Wie Platon versteht er zunächst unter Dialektik eine Form des Erkennens. Ähnlich wie dieser versteht er darunter das betont begriffliche Erkennen (Plotin, Enn. I 3, 4. ). Aber während Platon das der Form nach begriffliche Erkennen inhaltlich vordergründig als ein Denken in Gegensätzen und Widersprüchen auslegt, gibt Plotin ihm einen anderen und doch nicht minder dialektischen Inhalt.
Im Kern besteht der in einer besonderen Weise der Bewegung. Auf die stößt Plotin bei einem Versuch von kosmologischer Dimension. Er sucht die Genese des Kosmos zu begreifen. Daß alles aus Einem hervorgehen muß, ist ihm bereits gewiß. Alles geht aus etwas hervor, über das er durchaus in Erinnerung an jenes Eine spricht, das Platon vor allem im Dialog „Parmenides“ thematisiert hatte, und das er seinerseits in mancherlei Hinsicht anders hantiert als dieser. Dieses Eine übersteige alle Vorstellungskraft, mache weder ein diffuses Einerlei noch eine Leere aus, bilde weder einen Geist noch einen Gegenstand der Vernunft, sei vielmehr das „Übervernünftige“. Vor allem soll es jenseits aller Gegensätzlichkeit bestehen und wirklich einfach ausfallen. Wenn überhaupt, so kann das Vielgestaltige, das sich zum Universum ausgebreitet und hierarchisch gefügt hat, nur aus diesem Einen hervorgegangen sein. Aber wie? Wie kann ausgerechnet aus dem Einfachen all das Viele entstanden sein? Plotins Antwort: Indem jenes Eine, unbeschadet seiner Einfachheit, doch „von einer vollkommenen Fülle ist – es sucht ja nichts, hat nichts, braucht nichts – so ist es einfach übergeflossen, und seine Überfülle hat das Andere hervorgebracht.“ (Enn. V 2, 1.)
Das ist die Skizze der besonderen dialektischen Bewegungsweise, die Plotin und seine Schüler zu denken beginnen. Das Viele entsteht, indem es vom Einen hergebracht wird. Das Eine besteht jenseits aller Gegensätzlichkeit; statt daß es das Viele vermittels einer ihm anhaftenden Gegensätzlichkeit hervorzubringen vermag, bringt es dieses kraft seiner Überfülle hervor. Es schießt über, strömt über zum Vielen.
Von Plotin gebrauchte Wörter wie „Überfülle“, „überströmen“, „überfließen“ wird man später oft als metaphorische Ausdrücke lesen, die nicht buchstäblich, nur in einem übertragenen Sinne genommen werden wollen. Hegel unter anderem wird so reagieren. Es lohnt sich aber, sie nicht als bloße Metaphern zu nehmen. Daß Plotin das Eine als das Übervernünftige vorstellt, zeigt an, wie sehr er die Ausdrücke der Über-Form – die mit den Vorsilben hyper / über gebildeten Wörter – buchstäblich meint. Was sie dann bedeuten und wie sich die skizzierte Bewegungsweise unter dieser Voraussetzung näher versteht, zeichnet sich deutlicher ab bei der Systematisierung des neuplatonischen Philosophierens durch Plotins wirkungsmächtigsten Schüler.
DAS HERVORBRINGEN MITTELS ÜBERFÜLLE – PROKLOS
Systematisch aufbereitet wird das neuplatonische Philosophieren durch Proklos, der von 412 – 485 lebt und fast ein halbes Jahrhundert lang die Schule in Athen leitet. Vor allem in seinem Werk Stoicheosis theologike / Grundkurs über Einheit (präsentiert, übersetzt, eingeleitet und kommentiert v. Erwin Sonderegger, Sant Augustin 2004) leistet er die systematisierende Arbeit.
Den Gedanken an das Hervorbringen kraft Überfülle wendet er nicht allein auf das urtümliche Werden des Kosmos an; jegliches Hervorbringen im Kosmos sieht er durch die Überfülle eines Hervorbringenden, eines Grundes vermittelt. Damit ist dieses Hervorbringen etwas ungemein Zahlreiches. Es stellt gewissermaßen das schier unzählige Element des universellen Zusammenhangs dar. Seinen Ausgang nimmt dieser Zusammenhang bei der, wie es ausdrücklich heißt, schlichten Einheit. Sie ist für Proklos in etwa das, was für Plotin das Eine war. Das einzige, das ausschließlich hervorbringt und durch nichts hervorgebracht wird, der absolute Grund. An die Einheit schließen gleichsam Ketten oder Reihen dessen an, was hervorgebracht wird und dann seinerseits wieder anderes hervorbringt. Wie Strahlen breitet sich das von jener Einheit aus. In dieser Weise, in mehrstufigen Reihen des Hervorbringenden und des Hervorgebrachten das seinerseits wieder hervorbringt, hängen dann u. a. folgende Gebilde zusammen: die Geister, die unter dem alten Begriff Nous / Geist bzw. unter Abwandlungen davon vorgestellt werden; die göttlichen Seelen und Körper, die individuellen Seelen und die von ihnen bewegten pflanzlichen, tierischen und menschlichen Leiber – bis hin zu ihren Orten auf der Erde.
Die Reihe des Hervorbringenden und Hervorgebrachten bilden vielstufige Bewegungen in absteigender Linie. Das heißt, jedes Hervorgebrachte nimmt einen geringeren kosmischen Rang ein, hat eine geringere Macht als sein Grund. Anders als bei neuzeitlichen Entwicklungstheorien verläuft die neuplatonisch gedachte kosmische Bewegung grundsätzlich in absteigender Linie.
Unbeschadet dieser Bewegungsrichtung ist jedes Hervorbringen von Anderem durch eine Überfülle auf seiten des Hervorbringenden notwendig vermittelt. Und zwar ist es – mit Proklos genauer gesagt – notwendig vermittelt durch eine Überfülle an Kraft. Die Kraft bildet den Stoff der gemeinten Überfülle. Und wie es in einem ganz buchstäblichen Sinne die Kraftfülle gibt, so muß es im gleichen Sinne auch eine Überfülle an Kraft geben können. Damit stimmen die so entlegen metaphorisch anmutenden Ausdrücke „überströmen“, „überschießen“ und „überfließen“ gut zusammen. Kraft vermag in der Tat zu strömen.
Die Überfülle an Kraft ist für Proklos keineswegs ein Übermaß an Kraft, kein Zuviel davon. Sie wird auch als „übervolle Gutheit“ von etwas gefaßt. Dann aber ist mit Sicherheit nicht an eine Gutheit im Übermaß, an ein Zuviel des Guten gedacht.
Überhaupt will diese Überfülle nicht einseitig oder auch nur vorzugsweise als etwas Quantitatives verstanden werden. Auch wenn der Ausdruck „Überschuß“, der in der Übersetzung des Grundkurses gelegentlich dafür eingesetzt wird, dazu verführen kann, unter der Überfülle sich etwas vordergründig oder gar ausschließlich Quantitatives vorzustellen.
Begriffe der Über-Form, also Begriffe, deren Lautung mit den Vorsilben hyper / über gebildet werden, spielen im neuplatonischen Philosophieren eine systematische Rollen, mehr als in jeder anderen Denkrichtung. Plotin nennt, wie gesagt, das Eine das Übervernünftige. Proklos qualifiziert die Götter als das Über-dem-Sein, Über-dem-Leben, Über-dem-Erkennen. Mit „innerkosmisch“ korreliert er nicht „außerkosmisch“, sondern „überkosmisch“. Um nur einige Beispiele zu geben. In allen Fällen meinen die begrifflichen Über-Formen weder vordergründig noch ausschließlich Quantitäten, sondern jeweils etwas Qualitatives, beispielsweise eine dem Sein zuvorkommende Gegebenheitsweise. Ganz so also, wie das im neuzeitlichen Philosophieren die Begriffe des Übersinnlichen und des Übermenschlichen tun. Als einer der Begriffe, die auf qualitative Überformen abheben, will auch der einer Überfülle an Kraft verstanden werden.
Welche Qualität meint er? Proklos unterscheidet zwischen der Überfülle, der Fülle und dem Mangel (Ebenda, § 131) . Die Fülle, die das bloß volle und noch nicht übervolle aufweise, qualifiziert er als eine bestimmte Selbstbeziehung. Als das Sich-selbst-Genügen bestimmt er sie, als Autarkie. Wobei er noch in Erinnerung haben mag, welchen hohen Rang der Begriff der Autarkie in den Lehren der jüngeren Stoiker eingenommen hatte. Was voll ist, was füllig ausfällt, aber noch nicht übervoll, das genüge sich selbst. Lediglich sich selbst, das ist gemeint.
Wie die Fülle, so wird sich auch die Überfülle durch eine bestimmte Selbstbeziehung qualifizieren lassen. Natürlich wird das eine andere Selbstbeziehung als die der Autarkie sein. Es wird sich aber auch nicht um eine der Selbstgenügsamkeit entgegengesetzte Selbstbeziehung handeln, sondern um eine die Autarkie überbietende. Darum handelt es sich bei der Selbstüberschreitung. Während das Volle bloß sich selbst zu genügen sucht, ist das Übervolle darauf aus, sich selbst zu überschreiten und etwas anderes als sich selbst zu erfüllen, sich auszufüllen. Noch dieses Vermögen, sich selbst zu überschreiten, schöpft das Übervolle allerdings aus sich selbst heraus. Das fällt für Proklos zusammen: aus einer Überfülle heraus bewegt zu sein und „aus sich selbst“ bewegt zu sein (Ebenda, § 152). Damit ist die Überfülle qualifiziert. Sie ist die Kraft, das Vermögen dazu, aus sich selbst heraus über sich selbst hinaus zu gehen. Das im neuplatonischen Philosophieren thematisierte Hervorbringen besteht darin, kraft Überfülle von selbst über sich selbst hinaus zu gehen – hin zu etwas anderem, hin zu einem Hervorgebrachten, in dem das Herbringende keineswegs aufgeht.
Genau das macht dieses Hervorbringen zu einer typisch dialektischen Bewegung und zu einer besonderen dialektischen Bewegungsweise.
Um das Hervorbringen kraft Überfülle sowohl als eine typisch dialektische wie auch als eine besondere dialektische Bewegungsweise schärfer profilieren zu können, sei es an dieser Stelle innerhalb einer skizzenhaften Systematik des Dialektischen verortet. Innerhalb einer Systematik, die sich nach Darstellung einiger Konzeptionen der Dialektik und im Vorwissen um noch dazustellende Konzeptionen abzeichnet.
EINE BESONDERE DIALEKTISCHE BEWEGUNG
Was in der Geschichte der Philosophie plausibel als dialektisch ausgezeichnet wurde, stellt in der einen oder anderen Art eine bestimmte Weise der Bewegung dar. Sei es eine bestimmte Weise der Gedankenbewegung, eine Denkweise und Erkenntnisweise, wie sie etwa Platon in einer von Haus aus dialektisch verfaßten Vernunft erkennen zu können meinte. Oder sei es eine bestimmte Weise der kommunikativen Bewegungen, der Unterredungen, wie beispielsweise der Kontroverse, die in der topischen Dialektik thematisiert wird. Oder sei es schließlich eine bestimmte Weise der Bewegung, die in den Gegenständen des Denkens und Unterredens selbst, in den Sachen selbst stattfindet. Als eine bestimmte Weise der Bewegung der Sachen selbst haben wohl erstmals Plotin und seine Schule das Dialektische vordergründig untersucht, indem sie das Hervorgehen der Weltseele, der göttlichen Seelen und Körper, der individuellen Seelen und Körper von pflanzlichen, tierischen und menschlichen Wesen als Prozeß der Genese des Kosmos durchdachten. Ob in der einen oder in der anderen Weise, stets ist es eine bestimmte Bewegungsweise, was den Titel „dialektisch“ verdient. Es fragt sich, welche Weise das ist.
Es läßt sich eine Weise der Bewegung als die dialektische ausmachen, und das durchaus unabhängig davon, um welche der genannten Arten es sich bei der Bewegung handelt. Eine ebenso allgemeine wie spezifische Weise als die dialektische. Die läßt sich folgendermaßen beschreiben: Etwas (wie ein Erkenntnisprozeß, eine Unterredung oder eine Bewegung im Gegenstand des Erkennens und Unterredens) geht (weist, tendiert, treibt …) aus sich selbst (per se, von selbst) über sich selbst hinaus. Das kann man auch die typisch dialektische Figur nennen. Wobei der Begriff der Figur nicht analog zu „Schachfiguren“ und „Romanfiguren, auch nicht analog zu „Körperfigur“, sondern analog zu „Schlußfiguren“, „rhetorische Figuren“ und „Tanzfiguren“ zur Anwendung gelangt. Etwas geht aus sich selbst über sich selbst hinaus. Die typisch dialektische Weise oder Figur der Bewegung ist so zugleich die einer Selbstbewegung und die einer Selbstüberschreitung. Eine selbstbewegte Überschreitung seiner selbst und eine sich überschreitende Selbstbewegung. Alle Gedankenbewegungen, kommunikativen Bewegungen und Bewegungen in den Gegenständen des Denkens und Unterredens selbst sind dialektisch, weil und insofern sie die nachgezeichnete Figur vollführen. Sie tun das freilich niemals und nirgendwo in Reinform, sondern stets in besonderen und vielfältigen Fassungen.
Die Bewegung, die am frühesten als eine dialektische begriffen wurde, ist sicher die einer zwischen dem Fragen und dem Antworten pulsierenden Unterredung. Gleichviel, ob die Unterredung als sogenanntes inneres Sprechen oder als Sprechhandlungen leibhaftig verschiedener Sprecher vollzogen wird. Das ausgesprochene Denken, der gedankliche Gehalt der Unterredung, weist als ein Fragen, in Frageform, von selbst, d. h. mit der Notwendigkeit folgerichtigen Denkens, über sich, als bloßes Fragen, hinaus – hinein ins Antworten. Wie sich umgekehrt auch zeigen läßt, daß das Antworten ähnlich über sich hinausweist, hin zu weiterführenden Fragen, zum Nachfragen, zum verschärften Hinterfragen usw. Nur unter der Bedingung, daß Unterredungen solche Figuren durchlaufen, wird sich Platons Spruch, wonach Dialektiker sei, wer zu fragen und zu antworten versteht, sinnvoll deuten lassen. Allein unter eben dieser Bedingung verdient es die von Platon vorgefundene und angenommene Bedeutung des Wortes „dialektike“, die Kunst der Unterredung zu meinen, auch nach Platon noch fortgeschrieben zu werden.
Das ist eine Fassung der dialektischen Figur, eine von den zahlreichen, die sich geistesgeschichtlich bereits abgezeichnet haben. Manche dieser Fassungen unterscheiden sich hinsichtlich der Quelle der Selbstbewegung, also darin, was dabei als Quelle der Selbstbewegung fungiert. Eine Möglichkeit dafür: Innere Widersprüche als Quelle von Selbstbewegungen. Sodann stellt sich die dialektische Figur wie folgt dar: Etwas geht von selbst, weil mittels seiner inneren Widersprüchlichkeit, über sich hinaus – hin zu einer veränderten Gestalt von ihm oder hin zu etwas anderem.
Für Erkenntnisprozesse von solchem Format stehen die im platonischen Dialog „Der Staat“ angestellten Überlegungen zu einigen heiklen Institutionen des idealen Staatswesens. Zunächst führen die Überlegungen zu Aussagen über Erfordernisse, die von den fraglichen Institutionen mit gebieterischer Notwendigkeit erfüllt werden müssen, aber doch nicht ohne weiteres erfüllt werden können, weil sie einander widersprechen, so daß das eine Erfordernis gebietet, was das andere strickt verneint. Kraft ihres widersprüchlichen Gehalts treiben dann die eingeleiteten Überlegungen aus sich selbst, mit der Notwendigkeit des folgerichtigen Denkens, über sich hinaus. Wohin sie unfehlbar gelangen, indem sie bestimmte besondere politisch-mentale Gebilde auffinden oder auch erfinden, in Gestalt derer die zunächst so unverträglichen Erfordernisse zugleich erfüllbar werden.
Recht deutlich folgt auch die in der Topik untersuchte, gelehrte und praktizierte Kontroverse der markierten dialektischen Figur. Widersprüche tauchen dort in der Form von besonderen Sprechhandlungen auf, die darin bestehen, einander zu widersprechen, zu widerlegen, zu widerstreiten. Das buchstäbliche Widersprechen setzt damit ein, daß einer der Akteure Widerspruch einlegt gegen Sätze, die der andere aufgestellt hat, und daß daraufhin dieser dem eingelegten Widerspruch widerspricht. Vermittels dessen treibt die Kommunikation beider von selbst über sich selbst hinaus, indem sie logisch dazu zwingt, in begründender Weise jene Sätze zu widerlegen und in ebenso begründender Weise diesen Widerlegungsversuch zu widerlegen. Auf daß daraus veränderte Standpunkte, argumentativ untersetzte Standpunkte oder in korrigierter Form geteilte Standpunkte, hervorgehen.
Soweit die eine Möglichkeit, die dialektische Bewegung von der Quelle der Selbstbewegung her eine besondere Form annehmen zu sehen. Bei ihr sieht man, wie etwas per se, weil kraft seiner inneren Widersprüchlichkeit, über sich hinaus geht. Man kann nun die dialektische Bewegung, gerade von der Quelle der Selbstbewegung her, noch eine andere Form annehmen sehen. Etwa diejenige Form, die neuplatonische Denker in den Blick nehmen. In Gestalt der Idee eines Hervorbringens kraft Überfülle. Sie sehen, wie etwas sehr wohl von selbst über sich hinaus tendiert,, aber dies doch in einer erheblich anderen Weise, in einem entschieden anderen Sinne, nämlich vermittels der Überfülle an Kraft. Durch eigene Kraftüberfülle statt durch interne Widersprüchlichkeit. Offenkundig handelt es sich dabei um Quellen der Selbstbewegung von differenter Art. Die innere Widersprüchlichkeit schließt notwendigerweise etwas Negatives, eine Negation ein. Im echten Widerspruch wird das, was die eine Seit affirmiert, von der anderen Seite negiert. Anders die kraftvolle Überfülle, von der in der neuplatonischen Dialektik die Rede ist. Ihr geht alle Negation und Negativität vollständig ab. Sie ist rundum positiv. Sie ist sogar alles andere als einfache Negation der Fülle, alles andere also als keine Fülle, sondern die Überbietung der Fülle. Mehr als Fülle statt keine Fülle, wie frühmittelalterliche Denker sagen werden.
TRIADE
Die von Plotin und seiner Schule vorgestellte besondere dialektische Bewegungsweise ist mit der nachgezeichneten Figur allerdings nicht abschließend dargestellt. An jeder Stelle dieser Figur kann die fortgesetzte Untersuchung noch feinere Bezüge ausmachen. Proklos tut das vorzugsweise so, daß er das Hervorbringen kraft Überfülle speziell von seiten des Hervorgebrachten eingehender untersucht und sich fragt, was es für das Hervorgebrachte bedeutet, aus etwas Übervollem, aus einem übervollen Grund hervorzugehen. Um dann zu folgendem Befund zu gelangen.
Zum einen. Weil es eine Überfülle an Kraft ist, was zu einem Hervorgehenden überschießt, wird dieses seinem Grund eher ähnlich als unähnlich werden und sein. Niemals kommt es dem Grund gleich, stets fällt es schwächer aus als er, aber noch darin wird es ihm eher ähnlich als unähnlich geraten. In dieser Tendenz des jeweiligen Hervorgehenden, seinem Grund ähnlich auszufallen, erblickt Proklos ein Bewegungsmoment von logischer Bedeutung. Er nennt es epistrophe / die Zurückwendung. Etwas, das kraft Überfülle hervorgebracht wird, wendet sich auf seinen Grund zurück – in seiner Ähnlichkeit mit ihm. Dies macht die einfachste Weise der Zurückwendung aus.
Je nach Art des Hervorgehenden nimmt dessen Zurückwendung auch komplizierte Formen an. Wenn es sich bei ihm überhaupt um ein erkennendes Wesen handelt, kann die Zurückwendung darin geschehen, daß es sich – von seinem Grund her – selbst erkennt. Nachgerade die höchste Zurückwendung von Seelen besteht darin, ihrem Grund und dessen Gründen, letztendlich also der (allerersten) Einheit, dem schlichten Guten, ebenbildlich zu werden. Was freilich nur näherungsweise zu gelingen vermag.
Zum anderen. Weil es eine Überfülle an Kraft ist, was zu einem Hervorgehenden überschießt, muß dieses bereits an seinem Grund und in seinem Grund ein gewisses Bestehen haben. Die Überfülle, die es hervorgehen läßt, ist schon das Hervorgehende der Anlage nach, der Möglichkeit nach. Dieses Bewegungsmoment wird mone / das Verweilen genannt.
Schließlich. Zwischen dem Verweilen bzw. Lauern im Grunde einerseits und der Zurückwendung in den Grund andererseits geschieht ein verbindender Akt namens prohodos / das Hervorgehen. Das Hervorgehen soll darin bestehen, daß das Hervorgehende sich von seinem Grund unterscheidet, sich von ihm abhebt, als ein Zweites oder Nachfolgende sich vom Ersten oder Vorgängigen absetzt.
Mone – prohodos – epistrophe / Verweilen – Hervorgehen – Zurückwendung bilden eine Dreiheit, eine sogenannte Triade, die im § 35 des Grundkurses zusammenfassend formuliert wird. Der Begriff der Triade wird nicht selten mit „Dreischritt“ übertragen. Dem entspricht es, wenn man den betreffenden Gedankengang von Proklos als das Schema von Bewegungsphasen deutet, von Phasen, die zeitlich aufeinander folgen, einander ablösen. Treffender wird es sein, jenen Gedankengang im Sinne einer Dreiheit von Bewegungsmomenten zu verstehen, von Momenten, die immer gleichauf geschehen. Das wiederum bedeutet, die Triade als solche macht genau genommen eine räumliche aus; die unterschiedenen drei Akte koexistieren, geschehen gleichzeitig. Gerade insofern sollen sie einen Kreis bilden und die „kreisartige Wirklichkeit des aus etwas Hervorgehenden“ ausmachen (Ebenda, § 33). Als diese kreisförmige Wirklichkeit stellt sich die besondere dialektische Bewegung, die Proklos im Anschluß an seinen Lehrer auszeichnet, von seiten des Hervorgebrachten dar.
EINE NEUPLATONISCHE EMANATIONSLEHRE?
Plotin und Proklos halten es mit den paganen Göttern. Von der Gottheit sprechen sie grundsätzlich im Plural. Das Eine, oder Einheitliche, das sie meinen, ist mit Sicherheit kein monotheistischer Gott. Bevor Plotin das Überströmen des Einen ins Viele beschreibt, verwirft er das Obwalten eines Demiurgen, das Wirken jenes monotheistischen Baumeisters, von dem er durch Platons Dialog „Timaios“ Kunde hat. Er kehrt das ausdrücklich heraus: bei der Vielheit, die sich zum Universum fügt, handelt es sich nicht um das Werk eines Demiurgen, sondern um das Ergebnis eines Überströmens des Einen. Trotz des schon fühlbaren Abstandes zu dem im Entstehen begriffenen christlichen Philosophieren werden alsbald gerade dort die eher heidnisch gestimmten Ideen von Plotin und Proklos intensiv wahrgenommen. Es spricht einiges dafür, daß die hochinteressierte Rezeption im Werk eines Autors gipfelt, der geistesgeschichtlich als der Pseydo-Dionysius Areopagita geführt wird.
Das christliche Philosophieren in der Epoche der Kirchenväter, im Zeitalter der Patristik, läßt sich von der neuplatonischen Dialektik anregen, vor allem um die Schöpfungsgeschichte nicht nur in der erbaulichen Weise einer anschaulichen Erzählung über ein siebentägiges Tun, sondern in der Weise einer metaphysischen Theorie fassen zu können. Das Eine wird mit Gott gleichgesetzt, das Hervorbringen des Anderen und Vielen mit der göttlichen Schöpfung. Erstmals vollzogen ist diese Aneignung einer neuplatonischen Denkfigur spätestens im Werk des Johannes Scotus Eriugena, der im 9. Jahrhundert lebt und als der bedeutendste frühmittelalterliche Denker gilt, nach Augustin und Anselm von Canterbury (um 1033 – 1109).
Dabei kommt gleichsam zwischen dem Einen und dem Hervorbringen des Vielen ein Begriff ins Spiel, den Plotin und Proklos niemals verwendet haben, ja den sie niemals gelesen und gehört haben dürften. Der Begriff emanatio / das Ausfließen. Das Hervorgehen des Anderen und Vielem aus dem mit Gott in eins gesetzten Einen wird als Ausfluß oder Ausfließen Gottes vorstellig gemacht und diesen Sinnes „Emanation“ genannt. Theologische und kosmologische Lehren, in denen die Schöpfung wie das Ausfließen Gottes gedeutet wird, nennt man bis heute „Emanationslehren“.
Angesichts dieser Art, sich neuplatonische Denkfiguren anzueignen, gilt es einiges zu bedenken. Daß der Begründer und der Systematiker der neuplatonischen Schule nicht mit dem lateinischen Ausdruck „emanatio“ aufwarten konnten, versteht sich. Sie haben aber auch das griechische Pendant dafür („apórrhoia“ oder „aporrhoḗ“) nicht verwendet. Wo sie ausdrücklich das Hervorbringen des Vielen aus dem Einen und. der Einheit kraft einer Überfülle besprechen, arbeiten sie nachlesbar mit einem Wort der Über-Form (hyperrhoe), das mit „überströmen“ oder „überschießen“ übertragen wird. Nun kann man in Erwägung ziehen, ob sich der Gedanke an Emanation, an das Ausfließen von etwas, womöglich für den Gedanken an das Überströmen einer Überfülle einsetzen läßt, ohne daß etwas vom Gehalt des letzteren verloren geht oder verzerrt wird. Und genau das scheint unmöglich. Für den Gedanken an das Überschießen kraft Überfülle läßt sich der ans Ausfließen nicht einsetzen, ohne das inhaltlich etwas verloren geht. Das Dialektische geht verloren. Als Emanationslehre bezeichnet, werden die eigentümlich neuplatonischen Ideen eigentlich verzeichnet.
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