Die Figur des Lebens

Was ist dem Leben eigentümlich, was zeichnet Lebewesen aus? Unter Philosophen und Biowissenschaftlern gibt es eine starke Neigung, auf die Frage mit der Hervorhebung von gewissen Selbstbeziehungen zu antworten. Etwa mit dem Verweis auf Selbsterhaltung. Bereits die älteren Stoiker behaupteten, der erste Trieb, der sich bei Lebewesen regt, sei der der Selbsterhaltung (Diog. Laert., Vitae philos. VII, 85). Heutigentags ist eine Auffassung verbreitet, die nicht zuletzt von Humberto R. Maturana ausgearbeitet wurde. Danach gehören „lebende Systeme zur Klasse autopoietischer Systeme“. Die autopoietischen Systeme wiederum werden von den allopoetischen unterschiedenen. Allopoietisch sei ein System, das ein Produkt hat, das nicht es selbst ist, das vielmehr „von ihm selbst verschieden ist.“ Autopoietisch hingegen sei ein System, das ein Produkt hat, das es selbst ist. Und jedes Lebewesen sei wie gesagt ein solches System (Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 158 f, 163). In der Konsequenz heißt das: Jedes Lebewesen hat ein Produkt, das es selbst ist; alle Lebewesen haben sich selbst zum Produkt ihres Funktionierens. Bemerkenswert an Auffassungen wie dieser ist vor allem eins: Bestätigung erfahren sie allein durch eine Betrachtung unstrittiger Phänomene des Lebens, die diese Phänomene verkürzt.

Nehmen wir als Phänomen das Leben einer einfachen Zelle. Dazu aufgefordert, das Leben dieser Zelle mit seiner eigentümlich vitalen Figur denkbar bündig zu beschreiben, möglichst in einem Satz und ohne bloßes Aufzählen von Merkmalen, würde ich folgendermaßen formulieren: Aus fremden Molekülen und Energien sich nährend, wächst und entwickelt sich die Zelle, auf daß sie sich teilt und in ihrer Teilung aufgeht, dabei in allem eine Idee von sich, einen sogenannten genetischen Bauplan, ebenso verwirklichend wie überschreitend. Und nun suche man an dieser Figur nach der Autopoiese. Was findet sich?

1. Der Theorie der Autopoiese zufolge, müßte sich die Zelle als ein Wesen erweisen, das ein Produkt hat, welches es selbst ist. Aber wenn es denn überhaupt Sinn macht, im gegebenen Kontext von Produkten zu sprechen, so gilt es einen erheblich anderen Bezug herauszustreichen. Wenn überhaupt, so hat die Zelle ein Produkt, daß gerade nicht sie selbst ist, das vielmehr etwas anderes als sie selbst ausmacht – nämlich ein Paar Tochterzellen, manchmal auch mehr als ein Paar. Statt sich selbst zum Produkt zu haben, geht die Mutterzelle in ihrem Produkt völlig auf, ja sie verschwindet darin. Selbst wenn die Tochterzellen genetische identische Kopien der Mutterzelle ausmachen sollten, ist das Produkt der letzteren eine Kopie und nicht das Kopierte selbst. Wenn man die Figur des Lebens freilich verkürzt betrachtet, indem man sozusagen ihren ersten Abschnitt für sich nimmt, bietet sie sich einem wie eine Selbstbezüglichkeit dar, die an Autopoiese erinnern mag: Aus fremden Molekülen und Energien sich nährend, wächst und entwickelt sich die Zelle…- so scheint sie immerfort sich selbst zum Produkt zu haben, als eine wieder und wieder gewachsene, entwickeltere Zelle. Aber das scheint auch nur so, denn der Zelle Wachstum ist doch zugleich und vor allem das sukzessive Ausbilden von Tochterzellen. Man darf eben nicht dabei stehen bleiben, einen gewissen Abschnitt der ganzen Figur des (zellularen) Lebens für sich zu betrachten, man kann das nur zu dem Preis tun, das eigentümlich Vitale an ihr zu verfehlen. Halten wir fest: Was die Figur des (zellularen) Lebens beschreibt, ist nicht eine Selbstbeziehung wie die Autopoiese, nicht die unentwegte Rückkehr in sich, sondern ein Über-sich-hinausgehen. Das Leben bekam schon einmal Gelegenheit, sich ganz in diesem Sinne zu offenbaren: „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KGA VI 1, S. 144 ). – Nun trifft der Begriff des Über-sich-hinausgehens das Eigentümliche des Lebens ganz gewiß noch nicht hinlänglich. Dazu fällt er viel zu weit aus. Er trifft zu, aber er trifft noch nicht die in Frage stehende Eigentümlichkeit. Er bedarf der Konkretisierung.

2. Die Zelle geht über sich hinaus, indem sie wächst und eben dabei sich teilt, und sie wächst, indem sie sich nährt. Nahrung verschafft Fülle und Überfülle. Das heißt, die Zelle geht über sich hinaus kraft Fülle und Überfülle. Das wiederum bedeutet, die Zelle luxuriert. – Auch der Begriff des Luxurierens fällt natürlich noch zu weit aus, um das Eigentümliche des Lebens hinlänglich zu treffen.

3. Nähren tut sich die Zelle aus fremden Materien, aus fremden Molekülen und Energien. Sie einverleibt sich fremde Materien, macht sie sich zu eigen, eignet sie sich an, und genau daraus speist sich ja ihre Fülle und Überfülle. Das aber bedeutet – und nunmehr zeichnet sich erstmals ein Geschehen ab, das die von Haus aus leblose Materie noch nicht kennt – die Zelle luxuriert in einer ausholenden, über Anderes und Fremdes ausholenden Weise, in der Art einer Aneignung.

4. Indem das Luxurieren der Zelle über fremde Materien ausholt, geschieht es sozusagen auf Kosten des Universums. Dabei handelt es sich erst recht um ein Geschehen, das die Materie noch nicht kennt. Kehrwert-Beziehungen finden sich dort bereits (z. B. Licht und Schatten). Aber der näherungsweise verwendete Ausdruck auf Kosten meint mehr als Kehrwertigkeit überhaupt. Leben ist eine Auflehnung gegen die vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik implizierte Tendenz des Universums zur Zunahme von Entropie.

5. All dies geschieht in der Weise einer Materialisierung. Wie gesagt, aus fremden Molekülen und Energien sich nährend, wächst und entwickelt sich die Zelle, auf daß sie sich teilt und in ihrer Teilung aufgeht, dabei in allem eine Idee von sich, einen sogenannte genetischen Bauplan, ebenso verwirklichend wie überschreitend. So ist sie in allem eine Materialisierung statt Materie.

 Abb.: Chirico, Der große Metaphysiker

 

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