Die Neuplatoniker prägten eine markante Denkfigur. Plotin, der die Schule des Neuplatonismus begründete und von ca. 205 bis ca. 270 lebte, hat diese Denkfigur kreiert. Erstmals bot er sie bei dem Versuch auf, die urtümliche Genese des Alls zu begreifen. Daß alles aus Einem hervorgegangen sein muß, war ihm bereits gewiß. Aber wie konnte alles aus dem Einen hervorgehen, wie aus einem Einfachen all das Vielgestaltige werden, das sich zum Universum ausgebreitet und gefügt hat? Seine Antwort: Indem jenes Eine unbeschadet seiner Einfachheit doch „von einer vollkommenen Fülle ist – es sucht ja nichts, hat nichts, braucht nichts – so ist es einfach übergeflossen, und seine Überfülle hat das Andere hervorgebracht.“ (Plotin, Enn. V 2, 1) Aus dem Einen konnte alles andere werden, weil und insofern es eine Überfülle ausmacht und als solche einfach überschießen muß – hinein ins Viele.
Proklos (412 – 458) wandte den Gedanken nicht nur auf das urtümliche Werden, sondern auf jegliches Hervorbringen an. „Jedes Hervorbringende bringt das Zweite vermittels seiner Vollkommenheit und des Überschusses an Kraft hervor“ (Proklos, Stoicheiosis Theologike. Grundkurs über Einheit, übers., eingel. u. komm. v. E. Sonderegger, Kap. 27). Außerdem legte Proklos den Gedanken näher aus; er profilierte die übernommene Denkfigur schärfer, in dem er herauskehrte, worauf es bei ihr ankommt. Erstens. Um hervorbringen zu können, reicht dem Hervorbringenden nicht einfach eine Fülle. Denn „das Volle ist nur selbstgenügsam, nicht aber geeignet zur Weitergabe. Übervoll muß also das anderes Erfüllende sein und das anderem seine Ausstattungen Darbietende.“ (Ebenda, Kap. 131). Zweitens. Indem das Hervorbringende gerade vermittels einer Überfülle etwas hervorbringt, geht es keineswegs im Hervorgebrachten auf, schon gar nicht verliert es sich darin. Es „stellt das Zweite auf, unbewegt und unvermindert, es bleibt selbst, was es eigentlich ist, und weder verändert es sich in jenes noch wird es geringer. Denn das Hervorgebrachte ist kein abgetrennter Teil des Hervorbringenden; weder durch Werden hat es dies entsandt noch durch Gründe wie beim Erzeugen. Es findet auch kein Übergang statt; … das Hervorbringende wird nämlich nicht Hyle [Stoff] des Hervorgehenden; es bleibt vielmehr, was es eigentlich ist, und das Hervorgebrachte ist etwas anderes neben ihm.“ (Ebenda, Kap. 27). Drittens schließlich gelte es noch folgendes herauszukehren: daß „jedes Volle aus sich selbst hervorbringt gemäß seiner übervollen Kraft.“ (Ebenda, Kap. 152). Mit anderen Worten; indem etwas kraft Überfülle hervorbringt, bringt es das von sich aus, per se, aus sich selbst hervor.
Pseydo-Dionysius Areopagita schließt in seinem Philosophieren ausdrücklich bei dem des Proklos an. Über ihn vor allem geht jene Denkfigur in die Patristik ein, in das kirchenväterliche Philosophieren und Theologisieren. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts muß sich das zugetragen haben. Seine Texte hat er auf alle Fälle nach 500 und vor 539 verfaßt. An einer Textstelle charakterisiert er das Eine, an dem schon Plotin besonders gelegen war, als die „nicht zu füllende Überfülle“ bzw. als die „nicht zu erfüllende Überfülle“. Vermittels dieser Überfülle habe es jedes Einzelne und jegliche Vielheit erschaffen, vollendet und zusammengehalten (Pseydo-Dionysius Areopagita, De devinis nomibus, cap. II. 11, 649 C).
Wie läßt sich die Denkfigur, die gerade in dreierlei Gestalt nachgezeichnet wurde, in Reinform ausformulieren, abgesetzt von den kosmologischen und anderweitigen Besonderheiten ihrer jeweiligen Anwendung? Es handelt sich bei ihr um eine Art, gedanklich vom einen zum anderen zu gelangen. Grundsätzlicher gesagt, es handelt sich um eine eigentümliche Art und Weise, wie man das Eine ins Andere prozessieren sieht. Nämlich so, daß es von sich aus über sich hinausgeht, und dies einzig und allein kraft einer Überfülle, allein vermittels überschießender Fülle. Weshalb das Eine im Anderen auch nicht aufgeht, sondern überfließend bleibt. Diese Figur hat die neuplatonische Schule im abendländischen Philosophieren eingeführt. Etwas geht kraft überschießender Fülle von sich aus über sich hinaus, hin zum anderen, aber ohne in diesem aufzugehen. Daß insbesondere Plotin mit seinen theoretischen Innovationen auch Anregungen weiterführte, die der persischen Ideenwelt entstammen und ihm durch seinen Lehrer Ammonios übermittelt wurden, gilt als erwiesen.
Auf welchen Begriff läßt sich die markante Figur bringen? Auf den Begriff des Luxurierens. Daß etwas gerade vermöge seiner Überfülle über sich hinausgeht, das heißt, es luxuriert. Und das Vermögen zum Luxurieren ist urtümlich die Kraft. Es gibt sicherlich auch so etwas wie einen Überschuß an Kraft, eine überschießende Kraft. Proklos spricht ausdrücklich davon. Aber bevor man dieses schon ziemlich verwickelte Gebilde eines Kraftüberschusses bespricht, hat man zu verstehen, wie sehr die Kraft urtümlich in Überfülle besteht, in Überfülle liegt.
Die Figur des Luxurierens stellt übrigens alles andere als eine altmodische Denkfigur dar, wenn man nur bedenkt, welche systematische Rolle der Begriff der Plethora (der Fülle und Überfülle) im Philosophieren eines so modernen Denkers wie Georges Bataille spielt.