Herabsetzung der Differenz zum bloßen Unterschied

Niels Bohr hat den Begriff des Komplementären in die Physik eingeführt. Er bedeutet: zwei Begriffe schließen einander derart aus, daß die von ihnen gemeinten physikalischen Größen niemals gleichzeitig genau bestimmbar sind. Den prominentesten Fall von Komplementarität bietet die Heisenbergsche Unschärferelation. Man erinnert sich, danach können der Ort eines Teilchens und sein Impuls niemals gleichzeitig, stets nur ungleichzeitig exakt bestimmt werden. Anton Zeilinger sprach sich nun jüngst dafür aus, „daß es zu jedem physikalischen Begriff zumindest einen gibt, der mit ihm komplementär verbunden ist“ (Einsteins Schleier, München 2005, S. 172). So wäre die Komplementärität keineswegs bloß ein apartes Phänomen etwa der Quantenphysik, sondern etwas Allgegenwärtiges im physischen Universum. Bei solcher Verbreitung lohnt es, sich ihrer philosophisch zu vergewissern.  Unter folgender Frage: Welche Konstellation von Differenz und Wiederholung liegt in der Komplementarität?

Ein Teilchen ist in Bewegung, und sei es einfach als Teilnehmer an einer Strahlung. Dabei hat es stets einen genau bestimmbaren Ort, allerdings nur unter der Bedingung, daß es gleichzeitig keinen ebenso bestimmten Impuls haben kann; wie es auch in jedem Moment einen ganz bestimmten Impuls aufweist, nur daß es gleichzeitig keinen gleichermaßen bestimmbaren Ort aufweisen kann . – Darin liegt zunächst eine Differenz, eine Andersheit: die Differenz zwischen  Ort und Impuls. Ferner liegt darin ein Wiederholen. Das Teilchen, das in einem Moment einen ganz bestimmten Ort und zugleich keinen ebenso bestimmten Impuls hat, wiederholt sich in dem Teilchen, das in einem anderen Moment zwar nicht genau verortet, dafür aber dem Impuls nach exakt gemessen werden kann. Schließlich die erfragte Konstellation von Wiederholen und Differieren. Die nimmt sich hier ganz merkwürdig aus. Das  Teilchen wiederholt sich, und zwar so, daß es die Differenz von Ort und Impuls in jedem Moment lediglich nach einer Seite hin als eine genau bestimmbare aufweist, gleichsam nur zur Hälfte. Es wiederholt in der Weise, daß es niemals beiderlei aufweist, immer nur einerlei. Die Differenz als solche manifestiert sich einzig und allein darin, daß das Teilchen mal die eine Größe (ohne die andere), mal die andere Größe (ohne die erstere) preisgibt. Das aber heißt, die Differenz findet sich hier zu einer wechselnden, abwechselnden Einerleiheit des Teilchens herabgesetzt. Und dieserart ist sie der Wiederholung subsumiert.

Differenz, die dem Wiederholen subsumiert ist, nenne ich Unterschied (das Unter-Scheiden, die Geschiedenheit unter Einem, die untergeordnete Geschiedenheit). Und ein Wiederholen, das sich Differenz unterordnet, nenne ich Selbigkeit (Identität). Die erfragte Konstellation von Differenz und Wiederholung besteht mithin darin, daß im Falle der Komplementarität etwas in sich bloß unterschieden  und immer dasselbe ist.

Man mag gegen diesen Befund einwenden, er könne schwerlich das Komplementäre  ergiebig charakterisieren, weil Unterschied und Identität nichts Besonderes, sondern allgegenwärtig sind. Aber das trifft nicht zu. Unterschied und Selbigkeit sind sehr wohl etwas Besonderes und alles andere als allgegenwärtig. Die Zeit etwa – ich meine die eigentliche Zeit, die mit dem Zeitigen und namentlich mit der Uhrzeit nicht verwechselt werden will – ihr geht alle Unterschiedenheit und Identität vollends ab. Sie kennt Differieren und Wiederholen, aber doch allein in einer Weise, in der sie ihrer Abfälschung zur Unterschiedenheit  und Identität zuvorkommen. Ähnliches gilt noch weitgehend für den Raum als universale Gegebenheitsweise. Erst das atomare und molekulare Universum, das physiochemische, ist davon gezeichnet, daß Differenz zur Unterschiedenheit herabgesetzt, Wiederholung nur Identität überhöht wird. Und das in vielen Formen. Nur eine davon stellt die Komplementarität dar.


Das könnte Sie auch interessieren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert