Physikalische Zeitauffassung

Es mag verwundern, wenn hier die physikalischen Zeitanschauungen darauf befragt werden sollen, womit genau sie befaßt sind, was eigentlich ihren Gegenstand bildet, aber die Frage stellt sich allen Ernstes. Sie erhebt sich bereits angesichts auffälliger Themen und Titel, unter denen solche Anschauungen gelegentlich vorgetragen werden. Vor Jahren hat Stephen W. Hawking „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (Reinbek b. Hamburg 1988) veröffentlicht, ein Buch, das erklärtermaßen eine Sache verhandelt, die eine Geschichte habe. Die Zeit soll das sein. Indes, unter den Gegenständen, die eine Geschichte haben, die mit anderen Worten die Zeit genuin historisch ausfüllen und diesen Sinnes eine Zeit haben, ihre Zeit haben, wird man nach der Zeit selbst garantiert umsonst fahnden. Eine Geschichte hat der Raum. Die Verräumlichung gehört zu den Urereignissen des Alls – nicht nur, daß Ereignisse zumeist im Raum geschehen, schon die Verräumlichung stellt ein Ereignis dar – und Ereignisse dürfen grundsätzlich für geschichtsfähig gehalten werden. Die Verräumlichung kennt zudem kulturgeschichtliche Passagen. Es gibt kulturgeschichtlich differente Räume, namentlich der Kosmos (der Wohlgeordnetheit) einerseits und das Weltall, das total verweltlichte All andererseits stehen dafür. Der Raum also empfiehlt sich geradezu der historischen Narration. Dagegen die Zeit, ihr kann man eine Geschichte nur um den Preis eklatanter Inkohärenz anhängen. Ich brauche mich auf die vielen Geschichtsauffassungen, die umgehen, nicht im einzelnen einzulassen, um daran erinnern zu dürfen, daß sie allesamt unter Geschichte ausdrücklich oder stillschweigend eine auf spezifisch historische Weise ausgefüllte und erfüllte Zeit verstehen, eine typisch historische Art, die Zeit auszufüllen, wie immer sie das originär Historische daran definieren mögen. Eine außerhalb der Zeit stehende Geschichte behauptet niemand. Die Geschichte der Zeit erzählen zu wollen, hieße demnach, ein ganz merkwürdiges Vorhaben zu projektieren. Es hieße, zur Darstellungen bringen zu müssen, wie die Zeit, die alles andere als ein Ereignis ausmacht, in der vielmehr ausnahmslos alle Ereignisse geschehen, nichtsdestotrotz noch eine historische Ereignisfolge bilden könne, wie also die Zeit sich selbst historisch ausfüllen soll, wie ausgerechnet sie, die von allem Datieren immer schon vorausgesetzt wird, ihrerseits noch historisch datierbar sein und gleich einer geschichtsträchtigen Ereignisfolge eine Frühzeit, Hochzeit, Spätzeit durchlaufen soll. Um spätestens beim Ziehen solcher Konsequenzen jener Iteration zu verfallen, jener Unterstellung einer in der Zeit geschehenden Zeit zum Opfer zu fallen, die kohärentes Denken scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wer eine Geschichte der Zeit zu schreiben sucht, schreibt mit Sicherheit keine Geschichte der Zeit. Wieder anders liegen die Dinge bei der sogenannten Kalender- und Uhrzeit, die hat unbedingt eine Geschichte, eine Kulturgeschichte. Sie kann die aber doch nur haben, weil sie wie das Zeitigen insgesamt mit der Zeit differiert. Von der mit dem Zeitigen unverwechselbaren Zeit hingegen vermag niemand eine wenigstens im Tenor schlüssige historische Erzählung zu fabulieren. Auch Hawking hat sie nicht geschrieben. So manche wissenschaftliche Wahrheit versammelt sein Text, offensichtlich aber zu einem anderen Thema. Fragt sich, worüber jemand eigentlich schreibt, der ein Ding der Unmöglichkeit zu vollbringen, eine Geschichte der Zeit zu verfassen vorgibt und doch unterm falschen Titel viel Wahres mitzuteilen weiß. Gern will ich in Rechnung stellen, daß es sich bei seinem Werk um ein modernes Sachbuch handelt, dessen Titel nicht allein wissenschaftlichen Kriterien genügen möchte, aber wende ich darauf meine Aufmerksamkeit ganz dem Inhalt physikalischer Zeitanschauungen zu, stellt sich eher nachdrücklicher noch die Frage, was eigentlich ihren Gegenstand bilde.

Fälle von erstaunlicher Indolenz. Es gibt in der Physik eine hartnäckig sich haltende Neigung zur Hinnahme und Inkaufnahme von offenkundig logisch fragwürdigen Definitionen der Zeit. Das hat bereits Tradition. Schon an Isaac Newtons Naturlehre fällt das auf. Newton wußte, wie wenig die Zeit mit der Kalender- und Uhrzeit verwechselt werden darf; er schied die wirkliche Zeit von einer sogenannten Zeit, als welche er das Messen der wirklichen in Stunden, Tagen, Monate usw. einstufte. „Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und ist in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ‚Dauer’. Die relative Zeit, die unmittelbar sinnlich wahrnehmbare und landläufig so genannte, ist ein beliebiges sinnlich wahrnehmbares und äußerliches Maß der Dauer, aus der Bewegung gewonnen (sei es ein genaues oder ungleichmäßiges), welches man gemeinhin anstelle der wahren Zeit benützt, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr.“ (Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg 1988, S. 44). Die Kalender- und Uhrzeit bloß als sogenannte Zeit, eine tiefe Einsicht. Daß schon für Newton die Kalender- und Uhrzeit etwas höchst Relatives war, sei absichtsvoll vermerkt. Der Art und Weise allerdings, wie er die wirkliche Zeit zu bestimmen suchte, gebricht es an Kohärenz. Er bestimmte sie als eine in sich fließende, mithin als eine Form von Bewegung, und als solche müßte die Zeit ihrerseits wieder in der Zeit geschehen. Nicht genug, daß die Anwendung der beliebten Flußmetaphorik also logische Schwierigkeiten von der bereits eingekreisten Art beschert – Hermann Schmitz hat sie an dem klassischen Text ausführlich kritisiert (System der Philosophie, Erster Band, Bonn 1964, S. 358/59) – sie nimmt sich auch auffällig inkonsequent aus nach allem, was Newton der Kalender- und Uhrzeit nachgesagt hat. Dieser sogenannten Zeit war doch gerade angelastet worden, aus der Bewegung gewonnen zu sein. Wie konnte er da noch der für wirklich und wahr gehaltenen Zeit einen Bewegungscharakter zuschreiben wollen? Und vor allem, wie sollte man annehmen dürfen, die logischen Schnitzer seien ihm einfach unterlaufen und von ihm unbemerkt geblieben? Ähnlich merkwürdig ungereimt anmutende Verwicklungen begegnen einem in der Physik bis heute. Im Rahmen einer preisgekrönten Arbeit hat Ilja Prigogine die Entdeckung einer inneren Zeit präsentiert (Vom Sein zum Werden, München – Zürich 1988, bes. S. 225 ff). Die Entdeckung verdanke sich der Thermodynamik. Dagegen die Mechanik, die klassische- wie die Quantenmechanik, die Zeit als etwas beschreibt, berechnet und voraussetzt, das er die äußere Zeit nennt. Nämlich als Bewegung, sei es als Bewegung von Punkten, sei es als die von Wellenfunktionen, auf alle Fälle als Bewegung im Sinne des alten Begriffes kinesis. Unschwer erkennt man unter dem Titel äußere Zeit die schon mehrfach reklamierte Verwechslung wieder. Wenn dagegen nun ein Begriff der inneren Zeit abgesetzt und stark gemacht werden soll, möchte man sich davon die Überwindung eben dieser Verwechslung versprechen. Gerade darin müßte sich doch das Innerliche an der inneren Zeit erweisen, daß sie sich der Veräußerung an bloße Bewegung sperrt. Allein, Prigogines Untersuchung geht in eine andere Richtung. Thermodynamisch sei die Zeit zwar nicht im Sinne von kinesis, wohl aber im Sinne von metabole zu fassen. Das heißt, als Entstehen und Vergehen (Ebenda, S. 257). Und damit hat sich die logisch problematische Auslieferung des Zeitbegriffs an den der Bewegung nicht erledigt, sondern reproduziert. Das Entstehen und Vergehen schließt der neuzeitliche Bewegungsbegriff in sich ein, mithin bleibt die angestrengte Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Zeit in der Ausdifferenzierung zweier Arten von Bewegung stecken. An dieser Stelle hebt das alte Lied an, die alte Leier. Wie jede Reduktion von Zeit auf Bewegung, muß auch die Reduktion auf die besondere Bewegungsform des Entstehens und Vergehens zu einer Iteration ad infinitum ausufern; alles Entstehen und Vergehen hat seine Zeit, wäre Zeit das Entstehen und Vergehen, müßte sie gleichfalls ihre Zeit haben; solange man aber die Zeit als etwas zu begreifen sucht, das sie selbst schon voraussetzt, hat man sie mit Sicherheit nicht begriffen, sondern lediglich die Fortsetzung eines Verfahrens eingesteuert, bei dem sie auf immer und ewig unbegriffen bleiben wird. Und was noch ungleich mehr ins Gewicht fällt, die logische Problematik springt auch in diesem Falle so sehr ins Auge, daß man sie sich kaum wie eine unbemerkt unterlaufene erklären möchte. Näher liegt die Annahme, sie wurde hingenommen, wurde in Kauf genommen zugunsten eines Prinzips, das für wichtiger gehalten zu werden scheint als das der Kohärenz und Konsistenz des Denkens. In der jüngeren Vergangenheit haben Physiker, zumal philosophierende, den einen oder anderen ernsthaften Versuch unternommen, einen von der Iteration freien und dennoch durchgreifend physikalisch geprägten Zeitbegriff auszubilden. Beredtes Zeugnis davon legt Hans Reichenbachs Zeitlehre ab. Bei den reüssierenden physikalischen Theorien jedoch ist die Neigung zur Hinnahme logisch fragwürdiger Zeitbegriffe übermächtig geblieben. In Darstellungen der zeitgenössischen Stringtheorie wächst die Neigung sogar zur demonstrativen Indolenz aus. Im besonderen Maße trifft das auf die von Brian Greene gegebene Darstellung zu, und speziell auf eine Passage, die zeigen soll, woraus die Raumzeit besteht. Sie bestehe aus einer gewaltigen Zahl von Strings, die alle das gleiche Graviton-Schwingungsmuster ausführen. Die einzelnen Strings stellten gleichsam Scherben von Zeit und Raum dar, sobald sie nach dem Muster der Gravitationskorpuskel koordiniert schwingen, würden sie Zeit und Raum im herkömmlichen Sinne bilden (Das elegante Universum, Berlin 2000, S. 436 f). Es liegt flach auf der Hand, besteht die Raumzeit aus Strings von bestimmter Schwingung, so besteht sie in einer ebenso bestimmten Bewegung, und besteht sie in einer Bewegung, so muß die Zeit, wie schon der Raum, in der Zeit geschehen. Abermals eine zeitigende Zeit, was das physikalische Modell projektiert. Aber dies sichtlich nicht infolge logischer Arglosigkeit. Der Stringtheoretiker weiß um die logischen Verwicklungen des Modells, fast möchte man sagen, er bekennt sich dazu, indem er erklärt, die sprachlichen Klimmzüge, die zur Vermeidung selbstbezüglicher Definitionen erheischt seien, sich und dem Leser nicht antun zu wollen (Ebenda, S. 54). Was hat die mittlerweile schon demonstrative Indolenz gegen logisch fragwürdige Definitionen des Zeitbegriffs zu bedeuten, woher rührt die bereits traditionelle Gleichgültigkeit? Daß sie der Nachlässigkeit geschuldet, wollte und will ich ausschließen, zu offensichtlich sind die Ungereimtheiten, zu scharfsinnig die Autoren. Es muß dafür tiefere Gründe geben. Ich meine, in jener Indolenz setzt sich der begrenzte Gegenstand der Physik durch – gegen den vermessenen Anspruch, einen umfassenden und nichtsdestotrotz durch und durch physikalischen Zeitbegriff prägen zu wollen. Die Grenze der physika macht sich darin geltend – gegen das Ansinnen, sie übertreten zu wollen, ohne sie nach Denkweise und Gegenstandsbildung richtiggehend überschreiten zu können. Wo liegt diese Grenze, hinsichtlich der Zeit? Einige Aussagen aus berufenem Munde werden zu ihrer Markierung hilfreich sein.

Diesseits und jenseits physikalischer Realität. Albert Einstein reicherte seine Vorlesungen über Relativitätstheorie mit Aussagen von propädeutischer Art an. Sie führen in das Verhältnis der Physik zur Zeit ein. Vor allem indem sie Bedingungen angeben, unter denen Zeitliches überhaupt im Gegenstandsbereich der Physik auftauchen kann, unter denen die Zeitlichkeit allein eine, wie es heißt, physikalische Realität haben und die Rede von der Zeit erst physikalische Bedeutung annehmen kann. Erstens. Physikalische Realität hat danach nicht der Zeitpunkt und der Raumpunkt, zu dem und an dem etwas geschieht, sondern nur das Ereignis selbst (Grundzüge der Relativitätstheorie, Berlin und Heidelberg 2002, S. 33). Das heißt, Physiker, die sich bei ihren Untersuchungen von Zeitlichkeit und Zeitlichem an die physikalische Realität halten, dem Gegenstand ihrer Wissenschaft treu bleiben, statt sich in sogenannten Spekulationen zu ergehen oder auf anderweitige Abwege zu begeben, sind mit dem Ereignis befaßt. Mit der Zeit folglich nur insoweit, wie sie sich am Ereignis darstellt. Was sie zwar unbedingt tut, aber doch ohne darin hinlänglich aufzugehen; es bleibt die untilgbare Differenz von Darstellung und sich Darstellendem, von der sich darstellenden Zeit und ihrer Darstellung am Ereignis. Physikalische Realität hat mit anderen Worten nur das Zeitigen. Allein dieses kann bei fachgerechter Thematisierung und Gegenstandsbildung den Physikern begegnen. Einzig das Zeitigen taucht im originär physikalischen Denk- und Wahrnehmungsraster auf. Kein Wunder, daß Ilja Prigogine sich auf das Entstehen und Vergehen kapriziert. Entstehen und Vergehen, das ist typisch Zeitigen, das ist etwas, in Gestalt dessen sich die Zeit dem Ereignis geradezu einverleibt, nachgerade eingekörpert haben mag. Das platzt vor physikalischer Realität. Es gibt allerdings noch jenseits dieser tatsächlichen oder vermeintlichen Realität wenigstens ein Etwas – die aufs Zeitigen irreduzible Zeit. Die überragt die physika, übersteigt das Fassungsvermögen der Physik bei weitem. Als eine auf das Zeitigen von Ereignissen irreduzible Zeit taucht sie im Gegenstandsbereich der Physik eigentlich gar nicht auf. Und muß doch bedacht werden. Ohne sie zu denken, läßt sich das Zeitigen von Ereignissen zwar abzählen, messen, berechnen, aber wohl kaum verstehen. Zweitens. Um dem Zeitbegriff überhaupt eine physikalische Bedeutung zu geben, so konditionieren die Vorlesungen weiter, bedarf es der Benutzung irgendwelcher Vorgänge, welche Relationen zwischen verschiedenen Orten herstellen können (ebenda, S. 31). Das heißt, der Zeitbegriff hat per se keine physikalische Bedeutung. Wenn er die überhaupt besitzen kann, müßte er sie erst verliehen bekommen, und wenn er eine solche je verliehen bekommen kann, dann nur unter der Bedingung, daß der Gedanke an irgendwelche Vorgänge mit örtlichen Relationen von vornherein impliziert sein darf. Diese Bedingung vermag der Begriff des Zeitigens nahezu unumschränkt zu erfüllen. Das Zeitigen der Ereignisse geschieht zumeist im Raum, nicht unbedingt aber doch zumeist. Im gleichen Maße verschränkt es sich mit dem Räumlichen, mit örtlichen Relationen. Aber die aufs Zeitigen irreduzible Zeit? Da die Verräumlichung selbst ein Ereignis darstellt, selbst in der Zeit geschieht und sogar ein Entstehungsdatum kennt, muß Zeit im Grunde ohne die Unterstellung von Räumlichkeit gedacht werden, oder sie läßt sich überhaupt nicht denken. Pointierter gesagt, wenn der Zeitbegriff eine physikalische Bedeutung nur annehmen kann, indem die Zeit an Vorgänge mit örtlichen Relationen gebunden gesehen wird, dann ist die Bildung eines Begriffs der Zeit von eminent physikalischer Bedeutung ein Ding der Unmöglichkeit. Im physikalischen Theoriegefüge findet sich sodann Platz höchstens für einen Begriff des Zeitigens. Drittens. Die schon auf das bloße Zeitigen fixierende raumzeitliche Beschreibung wird von Einstein abermals konditioniert. Ihr wahres Element sei ein Ereignis, welches durch vier Zahlen beschrieben wird, durch drei Zahlenwerte für räumliche Koordinaten und durch eine uhrzeitliche Angabe (ebenda, S. 33). Das heißt, das wahre Element der physikalischen Zeitanschauung ist der uhrzeitliche Zahlenwert in Kombination mit räumlichen Zahlenwerten. Diese Kombination und Verrechnung von uhrzeitlichen mit ortsbezogenen Zahlenangaben bildet auch die Herkunftsheimat einer oft pauschal behaupteten Unzertrennlichkeit des Zeitlichen und Räumlichen. Was Einstein das Raum-Zeit-Kontinuum nannte und seitdem häufiger noch die Raumzeit genannt wird, ist nichts weiter als die erwiesene Abhängigkeit der Uhrzeit von örtlichen Parametern wie der Entfernung. Daß verschiedene Beobachter noch mit gleichermaßen richtig gehenden Uhren für das gleiche Ereignis notwendigerweise ungleiche uhrzeitliche Werte messen, weil und insofern sie ihre Messungen aus ungleich großer Entfernung vornehmen, daß außerdem die Uhrzeit in der Nähe von massiven Körpern mit intensiver Gravitation eine, wie es heißt, geringere Ganggeschwindigkeit hat als in großer Entfernung von solchen Körpern, diese Abhängigkeiten des uhrzeitlichen Messens von der Entfernung sind das einzige, was die Relativitätstheorie an Verschränkung des Zeitlichem mit dem Räumlichen erwiesen hat. Von dermaßen vordergründigen Maßverhältnissen gleich auf das Verhältnis der Zeit zum Raum überhaupt zu schließen, wirkt ziemlich unbesonnen, in sich folgerichtig kommt das nur unter der Voraussetzung einer fragwürdigen und noch hinter Newton zurückfallenden Gleichung: Zeit = Uhrzeit.

Ein Dilemma physikalischer Zeitanschauungen. So absurd es wäre, zu behaupten, die Physik hätte mit der Zeit nichts zu schaffen, so notwendig ist es, festzuhalten, daß sie das Zeitliche nur als Zeitigen, als Darstellung der Zeit am Ereignis, zu ihrem Gegenstand zu machen vermag. Wenn denn die propädeutischen Aussagen Einsteins zutreffen. Dies vorausgesetzt, wird sich ein wahrer, weil auf das Zeitigen irreduzibler Begriff der Zeit mit strikt physikalischer Diktion unmöglich bilden lassen. Sodann muß das Aufstellen eines Zeitbegriffs, der sowohl fachwissenschaftlich operationabel ausfallen als auch die Zeit unverkürzt abdecken soll, zwangsläufig mit Iteration und anderen logischen Fragwürdigkeiten geschlagen sein. Die Physiker geraten dadurch in ein Dilemma. Entweder fällt die aufgestellte Definition physikalisch operationabel aus, und dann wird sie an logischen Defiziten leiden, oder sie bleibt verschont von solchen Mängeln, und dann wird sie sich kaum als operationabel erweisen. Angesichts eines Dilemma entscheidet man sich gerne für das kleinere Übel. Vermutlich haben Wissenschaftler wie Hawking, Prigogine und Greene das kleinere Übel gewählt, als sie jeweils einer logisch fragwürdigen aber dafür fachwissenschaftlich funktionstüchtigen Begriffs- und Modellbildungen den Vorzug gaben. Deshalb die sonderbare Indolenz. Es ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Übel, die sich in dem Bewußtsein einstellt, immerhin das kleinere gewählt zu haben. Im Kern ist die physikalische Zeitanschauung eine Art Kosmologie der Kalender- und Uhrzeit, sei es in makrokosmischer, sei es mikrokosmischer Dimension. De facto bescheidet sich Physik längst mit Chronometrie.

Zugleich treibt es die Physik oft genug und auf ureigensten Wegen zu Konsequenzen, die rückwirkend die grassierende Gleichsetzung von Zeit mit Uhrzeit untergraben. So gelangt die allgemeine Relativitätstheorie zu dem Schluß, „daß die physikalische Zeitdefinition direkt mit Hilfe von Uhren durchaus nicht jenen Grad der Evidenz hat wie in der speziellen Relativitätstheorie“ (Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Berlin und Heidelberg 2001, S. 65). Zugleich treibt es die Physik oft genug und auf ureigensten Wegen zu Konsequenzen, die rückwirkend die grassierende Gleichsetzung von Zeit mit Uhrzeit untergraben. So gelangt die allgemeine Relativitätstheorie zu dem Schluß, „daß die physikalische Zeitdefinition direkt mit Hilfe von Uhren durchaus nicht jenen Grad der Evidenz hat wie in der speziellen Relativitätstheorie“ (Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Berlin und Heidelberg 2001, S. 65).

Der an der Relativitätstheorie so oft als eine ihrer Leistungen herausgekehrte Übergang von einer absoluten zu einer relativen Zeit verdient eine Richtigstellung. Was sich theoriegeschichtlich tatsächlich vollzog, ist der Übergang von der selbstverständlichen, in der Doxa tief verwurzelten Annahme einer absoluten Uhrzeit hin zu der Einsicht in die Relativität der Uhrzeit. Gegenüber der klassischen Physik kann in dieser Hinsicht die Relativitätstheorie schwerlich etwas fundamental Neues gebracht haben. Um die Relativität der Kalender- und Uhrzeit wußte schon Newton; das war doch von ihm ausdrücklich so formuliert worden: Das Messen der Dauer in Stunden, Tagen, Jahren – von der wahren Zeit wohl zu unterscheiden – ist relativ. Genau den Gedanken führt die Relativitätstheorie aus, und nur weil die moderne Physik die tiefe Differenz von Zeit und Zeitmessen vergessen hat, konnte ihr das wohl als Entdeckung einer relativen Zeit schlechthin und überhaupt dünken. Wie dem auch sei, das rückhaltlose Fragen nach der Zeit ist jedenfalls metaphysischen Charakters, der Zeitbegriff als solcher Sache der Philosophie – dort offenbart er auch seine eigentlichen Aporeme.

 

Abb.: Mirko Schallenberg, Zeit und Raum, Öl auf Leinwand, 2010

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2 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Scjmidt,

    mit Interesse habe ich Ihren Text „Physikalische Zeitauffassung“ gelesen.

    Ich empfehle zum Begriff „Zeit“ mein Essay „Zeit – Kritische Überlegungen zum Begroiff“.
    Der Text ist frei und kostenlos im www erhältlich.

    Kritik ist ausdrücklich erwünscht.

    Mit feundlichem Gruß
    Bert Steffens

  2. Sehr geehrter Herr Schmidt,

    mit Interesse habe ich Ihren Text „Physikalische Zeitauffassung“ gelesen.

    Ich empfehle zum Begriff „Zeit“ mein Essay „Zeit – Kritische Überlegungen zum Begroiff“.
    Der Text ist frei und kostenlos im www erhältlich.

    Kritik ist ausdrücklich erwünscht.

    Mit feundlichem Gruß
    Bert Steffens

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