Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll”. Seine heutigen Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute” vorstellen. Dieses Gebieten stellt eine Handlungsorientierung dar. Es bedeutet mehr als nur das Bewerten von etwas als tugendhaft oder lasterhaft bzw. als gut oder böse und dergleichen. Es verlängert das differente Bewerten zur differenten Handlungsaufforderung: Das als gut bewertete gelte es zu tun, das als schlecht beurteilte gelte es zu unterlassen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz”, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß”, hier auf Erden jedenfalls. Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zum Lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zum Hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zum Hassen nicht ausrotten wollen kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden.
Mit seiner drastischen Kommentierung des üblichen moralischen Gebietens hat Platon, so knapp das in seinem Dialog „Theaitetos“ auch wegkommt, einen ethischen Denkeinsatz formuliert, der es wert ist, auf seine Voraussetzungen, Einschlüsse und Folgerungen hin ausgelegt zu werden. Der „Theaitetos“ gehört wie der „Parmenides“ zu seiner mittleren Schaffensperiode. Daß er zuvor und hernach noch andere ethische Ansätze ausformuliert oder wenigstens markiert, entspricht seinem rastlosen Suchen. Der im „Theaitetos“ vorgestellte Ansatz hat etwas hintergründig Dialektisches an sich. Das Dialektische an ihm ist die Einsicht in eine besondere Unzertrennlichkeit von Verhaltensweisen, die als gute und böse bzw. als tugendhafte und lasterhafte oder gar als moralisch richtige und falsche, so oder so aber doch ethisch voneinander geschieden und einander entgegengesetzt werden. Nicht nur, daß die Begriffe dieser Verhaltensweisen logisch unzertrennlich sind wie Korrelate, nicht allein also, daß der Begriff der Tugend den des Lasters und der des moralischen Richtigen den des Falschen usw. logisch unterstellt, so daß man den einen nicht denken und aussprechen kann, ohne den anderen intuitiv mitzudenken und stillschweigend mitzusprechen. Es soll auch der Vollzug, das Ausleben der einen Lebensäußerungen von dem Vollzug gewisser entgegengesetzter Lebensäußerungen unzertrennlich sein. Und diese besondere Unzertrennlichkeit soll in einer praktischen Unverzichtbarkeit von lasterhaften oder für böse gehaltenen Verhaltensweisen bestehen. Ja, sie bestehe unter Umständen direkt darin, daß die jeweils gutgeheißenen Verhaltensweisen selbst gewisse Laster und Bosheiten zur notwendigen Bedingung haben. So beispielsweise im Falle der Tapferkeit einerseits und der Furcht, der Angst andererseits. Die werden einander gegenübergestellt in den sogenannten Tugend- und Lasterkatalogen, wie sie nach Platon innerhalb der abendländischen Kultur bis ins späte Mittelalter hinein weite Verbreitung finden. Die für tugendhaft befundene Tapferkeit ist näher besehen nicht Abwesenheit von Furcht und Angst., sondern beherrschte Angst; tapfer zu sein heißt nicht, keine Angst zu kennen, alle Furcht in sich ausgelöscht zu haben, sondern sie in einer Verfassung der Gefaßtheit und Besinnung auf die eigene Kraft aufzuheben, zu kanalisieren, ihre Energie in die Kraft eines von Leichsinn und Tollkühnheit deutlich zu unterscheidenden Mutes zu überführen. Wer die Angst wie ein Laster in sich zu tilgen sucht, muß sich nicht nur hoffnungslos überanstrengen, er wird sich um die Möglichkeit bringen, Tapferkeit zu entwickeln. Weiter führen jene Kataloge den Gehorsam als Tugend und den Ungehorsam als Laster auf. Offenkundig ist der hoch geschätzte Gehorsam gar nicht möglich, ohne die zuvor gerade verlästerte Furcht als notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung einzuschließen, etwa in Gestalt einer Furcht vor Sanktionen. Außerdem macht jeder Gehorsam direkt auch einen Ungehorsam aus. Gehorsam gegenüber einer Autorität ist zwangsläufig Ungehorsam gegenüber den konkurrierenden Autoritäten, die niemals ausbleiben. Ähnlich bei Glaube und Unglaube, die ebenfalls in allen Tugend- und Lasterkatalogen aufgeführt werden. Der Glaube an eine metaphysische Größe ist direkt Unglaube an konkurrierende Größen, und das so notwendig, daß die Gläubigen aller Zeiten verführt waren, die Andersglaubenden als Ungläubige zu bezeichnen. Ohne allen Ungehorsam und Unglauben kein Gehorsam und Glaube. Angesichts solcher Zusammenhänge kann das geläufige Muster der Handlungsorientierung, etwas Gutgeheißenes zu tun und dessen tatsächliches oder vermeintliches Gegenteil zu lassen, wirklich nur törichterweise zur Anwendung gelangen. In der Konsequenz fordert es zu einer alternativen Weise der Handlungsorientierung heraus.
Bis hin zu dieser Konsequenz wird der dialektische Ansatz allerdings erst Jahrhunderte später ausgeführt. Im neuzeitlichen Philosophieren bildet sich eine Denkrichtung heraus, die es bis dahin bringt. Innerhalb dieser Richtung taucht früh schon Michel de Montaigne (1533 – 1592) auf, mit einem Gedanken, der vielfältige Phänomene und Symptome zusammenfassen soll: „Die Laster spielen folglich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eine gleich große Rolle wie die Gifte für die Bewahrung der Gesundheit”. Recht ähnlich urteilt Francois de La Rochefoucauld (1613 – 1680). „Die Laster mengen sich in das Zusammenspiel der Tugenden wie die Gifte in das System der Heilmittel”. Würden sie tatsächlich ausgetilgt, beschwört Bernard Mandeville (1670 – 1733) seine Zeitgenossen, müßte die Menschheit glatt die Fähigkeit verlieren, sich zu kultivierten Gesellschaften zu entwickeln. Er will sie davon überzeugen, daß noch „die höchsten Tugenden der Stützung durch die schlimmsten Laster bedürfen”, weshalb schon um der Tugenden willen das Laster niemals aussterben dürfe. . Einen gewissen Höhepunkt erreicht die markierte ethische Denkrichtung in der historischen Anthropologie von Immanuel Kant (1724 – 1804), dargelegt in seinem Thesenpapier „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. Dort werden die Neigungen des Menschen, seine Triebe und Affekte, als antagonistische Anlagen gedeutet, als Gegensätze von besonderer Schärfe. Die Neigung, sich zu vergesellschaften und gemein zu machen, bilde den einen Pol, die Neigung, sich zu isolieren und einander zu widersetzen, den anderen Pol. Die Pointe dieser Idee zu einer allgemeinen Geschichte lautet: Triebkraft des menschlichen Fortschreitens sei jener Antagonismus als solcher, in Gänze und also nach beiden Seiten hin. Nicht allein kraft seiner geselligen Neigungen, auch vermittels seiner ungeselligen Neigungen schreitet der Mensch historisch voran. Die Erzlaster der „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“ rechnet Kant zu den praktisch unverzichtbaren ungeselligen Neigungen. Nachgerade zu bedanken habe man sich für die Schöpfung solcher Laster. „Dank sei also der Natur … für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern.“ Nicht zu bedanken habe man sich bei der Natur lediglich für ein einziges Laster – die „Lügenhaftigkeit“. Die sei zu nichts nutze.
Von diesem einen Punkt einmal abgesehen, muß Kant es folgerichtig verwerfen, die durch Platon verhöhnte Weise des Gebietens – meide das Laster, folge der Tugend – erneuern zu wollen. Seine dialektische Interpretation der antagonistischen Anlagen von Menschen führt er zu einer anderen Handlungsorientierung weiter, die innerhalb einer vollkommenen Staatsverfassung verankert werden soll. Sie besteht in einer bestimmten Bemessung des Freiraumes, den innerhalb dieser Verfassung jedes Individuum eröffnet bekommen soll. Es gelte, allen Individuen, treffender gesagt: jedem Individuum eine möglichst große Freiheit zum Ausleben der antagonistischen Anlagen, zum Vollzug auch der traditionell verlästerten Dispositionen einzuräumen. Schon dazu aber, daß sich dieser Freiraum wirklich Jedem eröffnet, muß er für alle Individuen begrenzt werden, und zwar so begrenzt werden, und nur so, daß durchgängig dem Mitmenschen ein gleich großer Freiraum bleibt. Diese Regelung stellt sich in bezug auf die traditionell verlästerte Habsucht etwa folgendermaßen dar: Ihr ist ein denkbar weiter Freiraum zu eröffnen. Sie wird aber wirklich frei gesetzt nur, wenn sie jedem Individuum im gleichen Maße freisteht. Und damit sie Jedem gleichermaßen freisteht, muß sie in gewisser Form, sozusagen in ihrer übergriffigen Form, in der des Stehlens und Betrügens allen untersagt sein. Darin besteht im gegebenen Fall die Grenzziehung, die dem Mitmenschen den gleich großen Freiraum beläßt. – Man sieht, an die Stelle eines moralischen Gebietens tritt eine eher ethisch-rechtliche Regelung.
2 Kommentare
Guten Tag!
Text fehlt. Schade! So kann die kleine, dumme Gasthöhrerin doch nichts lernen.
Weihnachtsgruss von Pico
Pico: Pronto? Ah,Monsieur Montaigne!
Mont: Come va?Pico, Sie haben mir geschrieben, dass Sie sehr empört sind und es unverständlich finden,
dass ich der Meinung bin,dass Tugend und Schlechtigkeit unzertrennbar sind. Sie werden Ihrer
Meinung nach nie von dieser Welt verschwinden
Pico: Sie sind klug und ich schätze Ihre Gedanken, doch eines wissen Sie nicht: Es gibt doch
Die Vierte Welt. Manche nennen es NICHTS,manche sagen ES oder EXTERNITÄT.
Viele sagen es sei ein Raum,wo sich GUTES und BÖSES umarmen.
Sie haben recht,dieses kann nicht geschehen auf der Erde. Unser GEIST muss erst ins
schwarze Loch fliegen.Lügen macht viel Spass dem PICO