„Deutsche Leitkultur“

Das Wort hat wir nie gefallen. Ähnlich wie „Leithammel“ klingt es so verschämt autoritär. Innerhalb der kulturellen Vielfalt, die hierzulande gelebt wird, soll eine der vielfältigen Kulturen gegenüber den anderen die leitende, bestiemmende, dominante sein, die „führende Rolle“ spielen. Das ist die dahintersteckende Vorstellung. Und die mutet recht altmodisch an, zutreffend auf das 17. Jahrhundert, als der Kathplizismus beschloß den Protestantismus zu dulden, zu tolerieren, vorausgesetzt der Katholizismus bleibt dabei die dominante Mehrheitsreligion. Über eine dominannte Kultur nachzudenken, lohnt sich m. E. nicht. Statt an einer Dominanten sollte uns an kulturellen Werten gelegen sein, die innerhalb der Vielfalt ein Band stiften, in aller Unterschiedlichkeit verbinden stattt trennen und damit auch Verbindlichkeit schaffen für unser Zusammenleben. Woher solche Werte nehmen,was ließe als solche Werte auszeichnen?

Aus einem Bestand des typisch Deutschen?

In der Diskussion zum Thema erwecken manche Beiträge den Eindruck, als komme es darauf an, etwas typisch oder gar genuin Deutsches herauszustellen. Und was das typische Deutsche sei, scheinen Touristen nicht nur gerne sondern auch leicht beantworten können, etwa inden si finden, deutsch sei in Sandalen Socken zu tragen. Tatsächlich ist das ein Terrain, auf dem man sich leicht irren kann, weil sich dort mittlerweile alle 15 Jahre das meiste ändert. Man sagt z. B. wir würden einander zur Begrüßung die Hand geben. Während die junge Generation längst dem Hanschlag die Umarmung vorzieht.

Zur beschleunigten Veränderlichkeit der Phänomene gesellt sich eine weitere Schwierigkeit: ein gewisses Verschwinden. Vor 200 Jahren haben ernstzunehmende Geister in Europa gemeint, die Deutschen seien das Volk der Dichter und Denker. Wer wollte derlei heute wiederholen, zumals in einer Zeit, da die Dichter hinter den Bestzellerautoren ganz zu verschwinden drohen. Das erinnert daran, wenn es jemals etwas eigentümlich Deutsches gegeben hat, muß uns das in vielerleich Hinsicht abhanden gekommen sein.

Fast das einzige speziell Deutsche, das uns blieb, ist die deutsche Sprache. Und auch das nicht ungefährdet. An der deutsche Sprache sind Tendenzen der Überfremdung unverkennbar. Die gehen allerdings nicht vom Islam aus, kommen vielmehr als Anglizismus daher. Sprachliche Überfremdung gab es freilich früher schon. Aber die einstige Neigung des aistokratischen Standes zum Französischen beschränkte sich vor allem auf das höfische Sprechen. Der zeitgnössische Angliziesmus grassiert dagegen in der Alltasgsrede und Umgangssprache des gemeinen Mannes. Die Übeltäter sind der Staat („Jobcenter“ ist eine Behörde), das große Unternehmen (Die Deutschen Bahnen gaben vor einiger Zeit einen Vokabelzettel in Umlauf, auf dem steht, was „infopoint“ und dergleichen zu deutsch bedeuten), oder der Liedermacher, der sich lieber „Songwrighter“ nennt und der Protestant, der Kirchentage gut findet, weil sie viele Gelegenheiten zu „face-to face-Situationen“ bieten. Die sprachliche Überfremdung geht so weit, daß die Pflege des Deutschen sich dringlich dazu emphielt, als ein Wert von verbindlicher Bedeutung für unser Zusammenleben ausgezeichnet zu werden. – Allerdings ist das auch schon alles, was sich aus einen vorhandenen Bestand des typisch Deutschen als wert gewinnen läßt. Alles weitere muß aus anderen Quellen geschöpft werden. Es muß in der Art einer richtighenden Wertsetzung gewonnen werden. Und zwar auf folgende Weise.

Kreative Auslegung des Grundgesetzes

Seit Jahrzehnten stehen im Grundgesetz Artikel, die für die Art unseres Zusammenlebens direkt bedeutsam sind. Von Generation zu Generation wurden sie in in einer Hinsicht immer gleich, in anderer Hinsicht unterschiedlich gelesen, ausgelegt und mit Konsequenzen versehen. Das erklärt, weshalb aus gewichtigen Freiheitsrechten erst mehr oder minder spät Konsequenzen gezogen wurden, die heute unhintergehbar erscheinen. So die Anerkennung der Andersliebenden aus dem Diskriminierungsverbot, die Abschaffung der Toderstrafe aus dem Recht auf Leben und das Verbot der körperlichen Züchtigung aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es gibt eine kleine Geschichte des erweiterten und vertieften Verständnisses der Menschenwürde. Vor diesem Hintergrund fragt sich: Wie muß all das, was schon immer im Grundgesetzt steht, von uns Heutigen angesichts einer veränderten Welt gelesen und auf Konsequenzen hin ausgelegt werden? Zum Beispiel der Artikel zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Früher mußte der nicht hinsichtlich der Rituale von Begrüßung und Verabschiedung ausgelegt werden. Heute muß er das auch in dieser Hinsicht. Wenn, dann natürlich ohne eines der wechselnden Rituale bevorzugen zu können. Meines Erachtens sollte gelten: Welches Ritual immer von Menschen in Deutschland bevorzugt wird, stets soll es Frauen und Männer gleich behandeln.

In diesem Punkt werden wir uns vermutlich leicht verständigen können, bei anderen wird das weniger leicht fallen. Seit drei Jahrzehnten erfährt die Idee der Toleranz in der deutschen Öffentlichkeit eine enorme Bedeutungssteigerung. Toleranz wird praktiziert, eingefordert und diskutiert als tief innerliche Bedingung der Freiheitsrechte. Je entschiedener sie beansprucht wird, desto deutlicher zeichnet sich ab, wie kontrovers sie verstanden wird. In dieser kontroversen Lage einen Konsenz zu erzielen, wenigstens aber ein deutliches Mehheitsvotum, bedeutete einenWertsetzung zugunsten unseres Zusammenlebens.

Nicht selten wird merkwürdigerweise unterstellt, tolerieren könne man nur, was grundsätzlich gut und richtig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Tolerieren kann ich nur, was ich für schlecht und falsch halte. Was ich für gut und richtig halte brauche icht mehr zu toleriren, das habe ich ja bereits akzeptiert. Gegnstand meinerToleranz ist nur das, was ich zwar nicht akzeptieren, aber doch dulden kann.

Freilich kann ich nicht alles für schlecht und falsch befundene tolerieren. Toleranz hat Grenzen. Über die wird oft recht unscharf geurteilt. In erster Näherung meine ich: Standdpunkte, Verhaltensweisen und Zustände, die auf eine Verletzung von Meschenrechten hinauslaufen, liegen jenseits jener Grenze. Die kann ich nicht nur nicht akzeptieren, sondern nicht einmal tolerieren.

Die von mir tolerierten Standpunkte, Verhaltensweisen und Zustände sind nicht vor meiner Kritik geschützt. Das sie toleriert werden, heißt: sie sind Gegenstand ausschließlich geistiger Auseinandersetzung; sie werden nicht strafrechtlich verfolgt.

Das ist meine Meinung. In einer öffentlichen Debatte könnte man sich  über den Wert Toleranz verständigen. Auf ähnliche Weise können bei kreativer Lesart des Grundgesetzes noch weitere kulturelle Werte zugunsten unseres Zusammmenlebens, auch des Zusammmenlebens mit den Neuankömmlingen im Lande, gesetzt werden.

Europäische statt deutsche Identität?

Einige Zeitgenossen raten dazu, die Rede von der deutschen Leitkultur ganz fahren zu lassen, ja ein Nationalgefühl überhaupt gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. es in sich auszutilgen und sich statt dessen um die europäische Identität wie um ein lichtes Banner zu scharren. Der Wechsel von der nationalen zur europäischen Identität soll geboten sein, weil das Nationalbewußtsein, und zwar jegliches, zwangsläufig in nationale Überheblichkeit, in Nationalismus ausarte.

Es fragt sich allerdings: Wenn das Bewußtsein nationaler Identität mit eherner Notwendigkeit überheblich gegenüber anderen Nationen stimmt, also diskriminierend, wieso soll dann das Bewußtsein einer europäischen Identität davor gefeit sein, auf seine Art ebenfalls zu diskriminieren, indem es arrogant gegenüber anderen Weltregionen stimmt. Tatsächlich gibt es nicht allein auf seiten des Nationalen eine diskriminierende Gesinnungsform – den Nationalismus – sondern auch auf seiten des europäischen Geistes – eine Zeit lang hat man die als „Eurozentrismus“ bezeichnet. Das Überlaufen von der nationalen zur europäischen Identität schützt also keineswegs vor diskriminierender Gesinnung. Die ist auf beiden Seiten möglich.

Sinnvoller ist es zu überlegen, wann, wieso, unter welcher Bedingung das Nationalgefühl und der europäische Geist anheben, Blüten der Herabsetzung anderer zu treiben.

Einer der Drehpunkte, um die herum sich Nationalbewußtsein in nationale Arroganz verkehrt, ist der Stolz. Von Haus aus ist Stolz genauso  wie Liebe und Haß oder Achtung und Verachtung ein persönliches Gefühl, eines, das konkrete Individuen auf sich selbst und andere konkrete Individuen haben und das heimisch ist in kleinen Menschengruppen, wo jeder jeden kennt. So können Eltern auf ihre Kinder stolz sein, Sportler auf sich und ihre Mannschaft, Erfinder auf ihre Erfindungen … In solchen persönlichen Formen ist Stolz stammesgeschichtlich entstanden und kann er unverfänglich bleiben, frei von Arroganz, zumal er in diesen Formen direkt oder indirekt an persönliches Tun und Leisten gebunden bleibt.

Anders wenn er auf die Zugehörigkeit zu großen Menschengruppen wie den Nationen projiziert wird. Was geschah als jüngst Politiker einer neueren deutschen Partei vor laufender Kamera einigermaßen trutzig bekannten, daß sie stolz darauf sind Deutsche zu sein. Man ist stolz auf etwas, das sich einzig dem Zufall der Geburt verdankt. In dieser unpersönlichen, großgesellschaftlichen Dimension nimmt der Stolz unweigerlich die Form der Herabsetzung anderer an. Schon weil er von Haus aus nicht auf diese Dimension „geeicht“ ist. Es passiert etwas Ähnliches, wie wenn die Liebe in diese Dimension projiziert und zur Vaterlandsliebe aufgebläht wird.

Das Überborden des Stolzes zum Nationalstolz und zur eurozentrischen Selbstgefälligkeit scheint mir die Quelle jener arroganten und in der Konsequenz diskriminierend wirkenden Stimmungen zu sein, die einige Zeitgenossen dem Nationalbewußtsein schlechthin und überhaupt anlasten möchten und durch behendes Wechseln von der nationalen zur europäischen Identität auszutrocknen gedenken. Ich selbst reagiere darauf mit der betont bewußten Unterscheidung der eurozentrischen Anmaßung vom europäischen Geist und des Nationalismus vom Nationalbewußtsein. Es gibt Nationalbewußtsein ohne Nationalismus, weil ohne Stolz.  Das ist beileibe nicht wertfrei. Es ist auch ein nationales Selbstwertgefühl und Verantwortungsbewußtsein, aber kein Hagestolz.

 

 

 

 

 

 

 

 

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