BEGRÜNDUNG DER TOPISCHEN DIALEKTIK DURCH ARISTOTELES. Das Geschehen, dessen Logik diese Dialektik verhandelt und ausmacht, besteht in einer Unterredung, die über das von Platon gemeinte innere Reden hinausgeht. Sie findet zwischen leibhaftig verschiedenen Personen statt, die dabei konträre Rollen spielen. Die eine Person stellt einen Satz auf, behauptet ihn, zumal gegen Angriffe, sie verteidigt ihn. Sie wird direkt als der Aufstellende und Verteidiger bezeichnet. Die andere wird der Angreifer genannt. Sie hat den Satz auf eine noch näher zu beschreibende Weise in Frage zu stellen, ihn zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen. Bei dem Geschehen handelt es sich offenkundig um eine Kontroverse. Das Dialektische an der Kontroverse besteht im Widerspruch als Widersprechen und im Widersprechen als wechselseitige Sprechhandlung, mag sie mündlich oder schriftlich ausgeführt werden. In Gestalt der Kontroverse bildet der Widerspruch nicht bloß eine kahle Beziehung zwischen solchen Handlungen, sondern selbst auch eine Sprechhandlung. Die Kontoverse kennt eine ihr eigentümliche Logik, eine Logik des Behauptens, Infragestellens, Verteidigens und Widerlegens. Bei ihr handelt es sich nicht einfach um eine Schlußlogik, gleichwohl gewisse Formen des logischen Schließens dazugehören. Die Schlußlogik hatte Aristoteles bereits in seinem zweibändigen Werk „Analytik“ behandelt. Die Dialektik als Logik der Kontroverse verhandelt er in einem gesonderten Text, der den erläuterungsbedürftigen Titel „Topik“ trägt. Die „Analytik“ wie die „Topik“ gehören zu einer Abteilung seiner Werke, die unter dem Obertitel „Organon“ steht. Beiden Schriften gemeinsam ist der Werkzeugcharakter, den der Begriff des Organons verheißt. Wenn Aristoteles innerhalb des Organons seine Analytik noch um eine Topik ergänzt hat, dann deshalb, weil die Logik der Kontroverse von der Schlußlogik zwar nicht getrennt werden darf, wohl aber von ihr unterschieden werden kann und muß. Sie stellt eben eine Logik der Infragestellung, Prüfung, Widerlegung und Verteidigung von Auffassungen dar. Die beginnt damit, von welcher besonderen Art schon eine Frage sein muß, um folgerichtig in eine Kontroverse münden zu können, das heißt, um einen Streitsatz herzugeben.
STREITSÄTZE – PROBLEM, DIALEKTISCHES PROBLEM, PARADOXES PROBLEM. Der Streitsatz ist die logische Triebfeder der Kontroverse. Aristoteles qualifiziert ihn mit drei Begriffen (Topik 101b, 104a – 105a). Erstens: das Problem. Nur ein Problem taugt zum Streitsatz. Was aber ist ein Problem? Jemand stellt einen Satz auf, beispielsweise den Satz „Jede Lust ist ein Gut“. Nun findet sich ein anderer, der den Anspruch erhebt, diesen Satz zu prüfen. Seinen Anspruch artikuliert und resümiert er, indem er den Satz in eine Frage von ganz bestimmter Form überführt, in die Form „Ist jede Lust ein Gut oder nicht?“ In dieser Frageform gerät der Satz zu einem, wie es wörtlich heißt, Problem. Die markierte Frageform ist dem Autor der „Topik“ wichtig, Er will, daß man sie nicht verwechselt mit der einfachen Frageform „Ist jede Lust ein Gut?“. Die einfache Frage, ob jede Lust ein Gut ist, stelle lediglich eine Prämisse dar, noch nicht ein Problem. Für ein Problem ist sie zu linear. Um ein echtes Problem handelt es sich erst bei der alles andere als linearen Frage, ob jede Lust ein Gut ist, oder ob sie das nicht ist. Allgemein gesagt, ein Problem besteht darin, daß etwas und seine Negation zugleich befragt, zusammen erfragt wird. Indem eine positive Möglichkeit und ihre Negation erfragt werden, indem ihre Konjunktion befragt wird, stellt das Problem einen Widerspruch zur Entscheidung. Und indem die Konjunktion von etwas mit seiner Negation derart fraglich wird, erscheint sie als Alternative: etwas oder seine Negation. Mit anderen Worten, die Frage gilt der Konjunktion von etwas mit seiner Negation, sie ist auf diese Konjunktion gerichtet, auf einen Widerspruch, aber als Frage, als frageförmiger Gedanke macht sie aus der Konjunktion eine Alternative: etwas oder die Negation desselben. Das eröffnet folgerichtig eine Kontroverse. Um diesen Punkt noch in einer Zuspitzung deutlicher zu machen. Die zu späterer Zeit als besonders tiefsinnig geltenden Warum-Fragen stellen im Lichte der „Topik“ keine Probleme dar. Die Frage zum Beispiel, warum der Mensch nach Lust strebt, kann danach nicht als ein Problem durchgehen. Das vermag höchstens eine Frage wie: „Ist die Begierde der Grund des Strebens nach Lust oder nicht?“ In dieser Fassung wird wieder eine positive Möglichkeit und deren Negation erfragt, stellt das Fragen einen Widerspruch zur Entscheidung. In dem angegebenen Sinne ein Problem darzustellen, macht eine notwendige Bedingung für jeglichen Streitsatz aus. Eine hinreichende Bedingung allerdings ist das noch nicht. Es muß noch etwas hinzukommen, damit uneingeschränkt von einem Streitsatz gesprochen werden kann.