Emergenz und Luxurieren

Abb.: Frauke Marx, Emergenz, Pastell, 2009

Die Wissenschaft, zumindest die Naturwissenschaft, ist ins „Zeitalter der Emergenz“ eingetreten, sagt Robert B. Laughlin[1], der 1998 einen Nobelpreis für Physik erhielt. Eine Ära der Emergenz löse das „Zeitalter des Reduktionismus“ ab. Für den Begriff der Emergenz bedeutet das eine enorme Karriere, denn vor hundert Jahren war er in der wissenschaftlichen Welt noch weitestgehend unbekannt. Erst Conwy Lloyd Morgans Buch „Emergent Evolution“, das 1923 in London erschien, soll ihn bekannt gemacht haben.

Als einer der frühen und prominenten Vertreter der „Emergenzphilosophie“ gilt Charles Dunbar Broad. Er versteht unter Emergenz folgenden Sachverhalt: Ein „Gesamtkomplex“, der aus „Konstituenten“ besteht, die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen, weist „charakteristische Eigenschaften“ auf, die auch aus dem vollständigsten Wissen über die Eigenschaften der Konstituenten (in Isolation oder in anderen Komplexen) nicht abgeleitet werden können.[2] Solche Eigenschaften heißen dann emergente Eigenschaften. Die emergenten Bestimmungen eines Ganzen gehen nicht aus den Teilen hervor, sondern aus deren Verbindung zum Ganzen. Die emergenten Bestimmungen eines Systems gründen nicht in dessen Elementen, sondern in deren Konfiguration zum System, in seiner Struktur. Sie sind deshalb auch nicht auf die Bestimmungen der Elemente bzw. Teile reduzierbar. Vielmehr stellen sie etwas im Vergleich mit ihnen anderes, Neues dar. – So ist der Begriff der Emergenz einer des Übergehens, der naturgeschichtlichen Innovation.

Ich bevorzuge einen anderen Begriff des Übergehens, den des Luxurierens. Von ihm handelt u. a. mein Notat vom 10 Februar 2010. Unter „Luxurieren“ vestehe ich, daß etwas kraft seiner Fülle und Überfülle per se über sich hinausgeht.

Gewisse Anwendungen des Begriffs „Emergenz“ in den zeitgenössischen Naturwissenschaften kommen der Figur des Luxurierens allerdings auffallend nahe. Das betrifft vor allem die Art, wie der bereits erwähnte Robert B. Laughlin Emergenz verhandelt. Für ihn sind emergente Eigenschaften kollektive Eigenschaften, das heißt solche, die etwas allein kraft einer gewissen Fülle seines Vorkommens besitzt. Ähnlich wie bei den Wassermolekülen, die bekanntlich die Bestimmung, flüssig zu sein,  auch bei milden Temperaturen nicht an sich aufweisen, sondern nur, weil und insofern sehr viele von ihnen koexistieren. Flüssigkeit ist eine emergente Bestimmung von Wassermolekülen also in dem Sinne, daß sich  diese Bestimmung  an ihnen nur kraft einer Fülle ihres Vorkommens findet. Die ontische Rolle der Fülle macht die Figur der Emergenz in diesem Falle der Figur des Luxurierens höchst ähnlich. In einem abermals ähnlichen Sinne soll sogar die Relativität, die von Albert Einsteins Theorie zu einem Prinzip erhobene Relativität emergent sein, wie Laughlin meint. Die wohl kühnste These seines Buches „Abschied von der Weltformel“ lautet: Einstein käme heute, angesichts mittlerweile verfügbarer Befunde konsequenterweise zu dem Schluß, „daß sein geliebtes Relativitätsprinzip keineswegs fundamental, sondern emergent ist – eine kollektive Eigenschaft der die Raumzeit konstituierenden Materie“.[3] Zeit und Raum seien nicht au fond, nicht von Grund auf relativ, mithin auch nicht an sich, sondern nur als Sukzession und Konfiguration einer Fülle von Materien.

Durchaus möglich, daß zumindest in gewisser Hinsicht das Emergieren  Gestalten des Luxurierens hergibt.

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Debrahlee Lorenzana und die normative Vermittelmäßigung

Foto: Credit: Saswat Pattanayak

Das ist die Frau, deren Schicksal für eine neue Stufe der abendländischen Vermittelmäßigung stehen könnte.

Seit vielen Jahrhunderten läuft innerhalb der abendländischen Kultur ein Prozeß der methodisch bewußten Vermittelmäßigung. Das theoretische Programm dafür hat Aristoteles mit seiner Tugendlehre vorgegeben. Bei allen menschlichen Dispositionen, heißt es dort, gibt es ein Übermaß, ein Untermaß und ein mittleres Maß. Tugendhaft sei stets nur das mittlere Maß. So etwa bei den Lüsten. Das Untermaß an Lust ist der Stumpfsinn, das Übermaß ist die Genußsucht und tugendhaft ist allein das mäßige, besonnene Lüstchen. Übermaß und Untermaß heißen auch „Extreme“. In der Praxis der Vermittelmäßigung hat das Wort „extrem“ darum weithin einen durch und durch pejorativen Klang angenommen. Derzeit klingt es nur in zwei Kontexten wenigstens neutral: In den Formulierungen „Extremsportarten“ und „extreme sexuelle Praktiken“. Extreme Meinungen, extreme Reaktionen („Überreaktionen“), extreme Empörung usw. usf. gelten dagegen als unbedingt schlecht. Denn das Gute kann immer nur in der Mitte zwischen zwei Extremen liegen. Das ist seit langem zu einer grundlegenden Denkfigur geraten. Natürlich stellen sich zur Tendenz der Vermittelmäßigung periodisch auch gegenläufige Tendenzen ein. Man denke nur an die zeitgenössische Aufwertung des Geizes. Das ist eine von jenen gegenläufigen, das Extreme huldigenden Tendenzen, die aber schlußendlich kulturgeschichtlich unterliegen.

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Rückfall in die Prämoderne

Moderne Gesellschaften und Staatswesen geben sich an mehreren Merkmalen zu erkennen. Eines dieser Merkmale: das Gewaltmonopol des Staates. Bestimmte Organe des Staates sollen zum Schutz der Staatsbürger, zur Wahrung von Recht und Gesetz bewaffnet sein, die Masse der Staatsbürger jedoch soll in der Regel nicht bewaffnet sein.  Das gehört unveräußerlich zur Modernität. Vorbei die  eher mittelalterlichen Zeiten, da jedermann mit den Waffen seiner Zeit herumrannte und sie nach Gutdünken einsetzen konnte.

Vormodern fällt dagegen ein Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten aus,  der seit 1791 in Kraft ist: „Das Recht des Volkes auf den Besitz und das Tragen von Waffen  darf nicht beeinträchtigt werden.“ Auf diesen das moderne Gewaltmonopol des Staates unterlaufenden Passus griffen fünf der neun Richter des Obersten Gerichts der USA zurück, als sie vorgestern eine von kommunalen Behörden der Stadt Chicago verhängte Beschränkung des privaten Waffenbesitzes außer Kraft setzten. Mit Sicherheit werden nun auch in anderen Landesteilen einschlägige Beschränkungen aufgehoben. Eine  Reprivatisierung der Waffengewalt kommt auf Touren, ein Rückfall ins Vormoderne.

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Craig Venter spielt nicht Gott

Der jüngste Erfolg von Craig Venter auf dem Arbeitsfeld der „synthetischen Biologie“ verführte diverse Journalisten zu reichlich törichten Einschätzungen. Venter hätte „künstliches Leben“ erzeugt, heißt es, oder doch wenigstens „künstliches Erbgut“; Venter würde  „Gott spielen“, die Rolle eines Schöpfers spielen; Venter habe etwas „kreiert“, einen „künstlichen Einzeller“ nämlich, das „erste synthetische Lebewesen“. Tatsächlich hat er mit seinem Team all dies nicht gemacht, sondern folgendes.

Er hat ein vergleichsweise sehr großes und sehr komplexes Molekül nachgebaut,  hat es  aus basischen Bausteinen, wie sie auch die Natur verwendet,  in vitro synthetisiert. Eine Säure namens DNA wurde dabei mit genau der Bausteinsequenz kopiert, die schon das natürliche Urbild aufweist. Technologisch stellt das eine enorme Leistung dar, wenn man nur bedenkt, daß es sich bei dem nachgebauten DNA-Molekül um eine Sequenz mit über eine Million Bausteinen  handelt.  Und das alles in mikroskopisch winziger Größenordnung. Ferner  hat er bewiesen, daß die von ihm synthetisierte DNA-Bausteinsequenz als genau das fungiert, als was schon ihr natürliches Urbild fungiert – als sogenannter „Träger einer genetischen Information“. Das nachgebaute DNA-Molekül findet sich naturgemäß in dem Bakterium Mycoplasma mycoides und fungiert dort als „Träger des genetischen Bauplans“, nach dem dieser Einzeller wächst und sich teilt. Das im Glas synthetisierte DNA-Molekül erfüllt nachweislich die gleiche Funktion. Nachgewiesen wurde das auf folgende Weise. Man nahm sich einen verwandten Einzeller vor, das Bakterium Mycoplasma capricolum,  entfernte daraus die ihm naturgewäß eigene DNA und pflanzte ihm statt dessen die künstlich synthetisierte DNA ein. Tatsächlich begann darauf das manipulierte Bakterium, einen Lebensprozeß zu vollziehen,  zu wachsen und sich zu teilen, und zwar so, daß die Tochterzellen nicht wie Mycoplasma capricolum, sondern wie Mycoplasma mycoides beschaffen sind.

Wie gesagt, technologisch gesehen ein atemberaubend spannendes Geschehen. Richtiggehend kreiert worden allerdings ist dabei lediglich eine Technologie, die ist wirklich neu,  und sonst nichts. Wenn denn Kreation an das Erscheinen von etwas Neuen gebunden werden muß. Weder wurde Leben überhaupt kreiert noch ein besonderer Lebensprozeß noch auch nur eine neue „Erbinformation“. Alles ein Nachbau, ein redliches, überaus redliches Abkupfern von der Natur.  Außer der von ihnen verdienstvoller Weise  entwickelten Technologie haben die „Gen-Ingenieure“ nichts erfunden. Weshalb sie auch völlig unverdächtig sind, Gott zu spielen. Gott hat Leben erfunden, sie habe einen Weg gefunden, jene Erfindung wenigstens punktuell zu kopieren.

Aber ist das manipulierte Bakterium mit dem künstlich eingesetzten und künstlich synthetisierten  DNA-Molekül nicht wenigstens ein künstliches Lebewesen? Es ist das fast genauso wenig, wie ein Klon ein künstliches Lebewesen ausmacht, nur weil beim Klonen der Zellkern einer Zelle gegen den Kern einer anderen Zelle ausgetauscht wird.

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Streitpunkt „Rassen“

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat im April dieses Jahres erneut vorgeschlagen, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetzt zu streichen. Begründet wird das in einer Publikation des Instituts zusammenfassend mit zwei Argumenten: Erstens suggeriere der Gebrauch des Begriffs, „daß es unterschiedliche menschliche Rassen gebe“, während es in Wirklichkeit, das meint der Wortlaut offenkundig,  gar keine gibt. Zweitens sei „jede Theorie, die auf die Existenz unterschiedlicher menschlicher ‚Rassen‘ abstellt, in sich rassistisch“.[1]

Das letztere Argument, wonach schon die bloße Annahme der Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen  per se rassistisch ausfalle,  ist gewiß falsch. Rassismus besteht nicht schon in der Behauptung der Existenz menschlicher Rassen, sondern erst in der Behauptung einer Ungleichwertigkeit zwischen ihnen. Rassistisch denkt nicht, wer annimmt, daß es menschliche Rassen gibt, rassistisch denkt, wer glaubt, daß sie sich wie minderwertige und höherwertige unterscheiden würden, wer also ein werthaltiges Niveaugefälle zwischen ihnen  behauptet. Dadurch erst diskriminiert er. Und allein der diskriminierende Diskurs über Rassen erfüllt den Begriff des Rassismus.  Es gibt aber nicht nur den diskriminierenden Diskurs über menschliche Rassen, sondern auch einen nicht diskriminierenden. Der nicht diskriminierende Diskurs ist über viele Jahrzehnte geführt worden – gegen den diskriminierenden, gegen Rassismus. Seine  logische Voraussetzung bestand und besteht in der Prämisse: es gibt Unterschiede zwischen großen Menschengruppen, die keine Ungleichwertigkeiten darstellen; es können große Menschengruppen wirklich existieren und sinnfällig sich voneinander unterscheiden, ohne sich werthaltig zu unterscheiden, ohne wie Minderwertiges und Hochwertiges zu differieren. Diese Prämisse müßte man außer Geltung setzen, wenn man bereits die schlichte Annahme der bloßen Existenz von Rassen innerhalb der menschlichen Gattung  in einer logisch halbwegs folgerichtigen Weise des Rassismus bezichtigen wollte. Konsequenterweise müßte man dann unterstellen, alle Existenz und Verschiedenheit von großen Menschengruppen sei an sich schon eine werthaltige, eine ungleichwertige. Eine solche Unterstellung aber würde geradewegs in die Totalisierung des diskriminierenden Denkens münden.

Zu dem anderen Argument, demzufolge der Begriff der Rasse aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll, weil seine Verwendung suggeriert, daß innerhalb der Menschheit verschiedene Rassen existieren, während es in Wahrheit solche Rassen gar nicht gebe. Es gibt keine menschlichen Rassen, heißt es auch in einem Papier der UNESCO, das im Vorfeld der Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ von 1995 verfaßt wurde.[2] Danach  gibt es  zwar  Schwarze, Weiße und vergleichbare Gruppierungen, nicht jedoch als Rassen. Bei der vermeintlichen Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurde es sogar als ein besonders wichtiges Untersuchungsergebnis herausgestellt, daß die genetischen Unterschiede zwischen Weißen, Schwarzen usw. –  prozentual gesehen – sehr geringfügig ausfallen, viel zu geringfügig, um eine  Statuierung als Rassen rechtfertigen zu können. Wann immer in der jüngeren Geschichte  von natürlichen menschlichen Rassen  gesprochen wurde, müßte es sich dabei also um den Akt oder Ausdruck bloßer Erfindungen gehandelt haben. Daß die sogenannte „jüdische Rasse“ eine pure Erfindung der Nazis war, gilt weithin als unstrittig. Hinzuzufügen wäre aber, daß  auch  die vier „Racen der Menschen“, die Immanuel Kant, dieser philosophische Anwalt der Aufklärung und der Menschenwürde, unterschied[3], als Erfindung verbucht gehören. Für einen Moment möchte ich mich auf all dies einlassen und will dazu auch darüber hinwegsehen, daß die erwähnte genetische Argumentation mit ihrer durchdringenden  prozentrechnerischen  Diktion wohl kaum etwas mehr zu bezeugen vermag als  die Begrenztheit der heutigen Deutung des menschlichen Genoms. Was ergibt sich dann in der Konsequenz? Wenn Weiße, Schwarze und vergleichbare Gruppierungen keine Rassen sind, dann kann eine Diskriminierung von Schwarzen oder eine Diskriminierung von Weißen usw.  keine Rassendiskriminierung, kein Rassismus sein. Wie sollte man eine Diskriminierung von Angehörigen nichtrassischer Gruppierungen logisch folgerichtig als Rassendiskriminierung, als rassistische Diskriminierung bezeichnen dürfen.  Eine sehr bedenklich stimmende Konsequenz. Man wendet sich  gegen Rassendiskriminierung, tut das aber so, daß der Begriff derselben unanwendbar wird. Und wird der Begriff der Rassendiskriminierung unanwendbar gemacht, kann die Sache selbst nicht mehr begrifflich konsistent kritisiert werden.  Es ist – auf logisch folgerichtige Weise –  nicht möglich,  zugleich zu postulieren, daß kein Mensch  als Angehöriger einer Rasse bezeichnet werden darf und daß kein Mensch einer Rassendiskriminierung ausgesetzt werden darf.

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Andreas Brenner: Leben

Andreas Brenner hat ein sehr lesenswertes Buch über das Leben geschrieben. Er gehört zu den wenigen deutschen Philosophen, die – wenn sie über die Natur philosophieren – mit den Naturwissenschaften selbstbewußt umgehen. Durchaus ein Kenner der einschlägigen naturwissenschaftlichen Theorien, ist er zugleich erfolgreich darum bemüht, diesen Theorien gegenüber einen eigenständigen philosophischen Denkanspruch geltend zu machen. Zumeist verfahren Naturphilosophen nicht so. Sie wollen unbedingt in Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Befunden denken und schreiben, gestatten sich und anderen Autoren ausschließlich Aussagen, die mit solchen Befunden konform gehen, liefern sich philosophisch ungeprüften Begriffsbildungen von Biologen, Chemikern und Physikern aus, um sodann alle eigenständigen Erkenntnisansprüche des philosophischen Denkens zu verfehlen. Man rennt den Naturwissenschaften hinterher, so kommt man sich als Philosoph abhanden. Anders der Autor des neuen  Buches über das Leben. Gleich zu Beginn wird dort der unter Naturwissenschaftlern verbreitete Anspruch, die Natur labormäßig erkennen zu können, gebührend relativiert. „Die Natur kann im Labor schon deshalb nicht erkannt werden, weil sie in der Vorbereitung für die Untersuchung im Labor präpariert und damit zu einem gewissen Grad entnaturalisiert wird.“ (S. 15).

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Luxurieren als metaphysische Denkfigur

Die Neuplatoniker prägten eine markante Denkfigur. Plotin, der die Schule des Neuplatonismus begründete und von ca. 205 bis ca. 270 lebte, hat diese Denkfigur kreiert. Erstmals bot er sie bei dem Versuch auf, die urtümliche Genese des Alls zu begreifen. Daß alles aus Einem hervorgegangen sein muß, war ihm bereits gewiß. Aber wie konnte alles aus dem Einen hervorgehen, wie aus einem Einfachen all das Vielgestaltige werden, das sich zum Universum ausgebreitet und gefügt hat? Seine Antwort: Indem jenes Eine unbeschadet seiner Einfachheit doch „von einer vollkommenen Fülle ist – es sucht ja nichts, hat nichts, braucht nichts – so ist es einfach übergeflossen, und seine Überfülle hat das Andere hervorgebracht.“ (Plotin, Enn. V 2, 1) Aus dem Einen konnte alles andere werden, weil und insofern es eine Überfülle ausmacht und als solche einfach überschießen muß – hinein ins Viele.

Proklos (412 – 458) wandte den Gedanken nicht nur auf das urtümliche Werden, sondern auf jegliches Hervorbringen an. „Jedes Hervorbringende bringt das Zweite vermittels seiner Vollkommenheit und des Überschusses an Kraft hervor“ (Proklos, Stoicheiosis Theologike. Grundkurs über Einheit, übers., eingel. u. komm. v. E. Sonderegger, Kap. 27). Außerdem legte Proklos den Gedanken näher aus; er profilierte die übernommene Denkfigur schärfer, in dem er herauskehrte, worauf es bei ihr ankommt. Erstens. Um hervorbringen zu können, reicht dem Hervorbringenden nicht einfach eine Fülle. Denn „das Volle ist nur selbstgenügsam, nicht aber geeignet zur Weitergabe. Übervoll muß also das anderes Erfüllende sein und das anderem seine Ausstattungen Darbietende.“ (Ebenda, Kap. 131). Zweitens. Indem das Hervorbringende gerade vermittels einer Überfülle etwas hervorbringt, geht es keineswegs im Hervorgebrachten auf, schon gar nicht verliert es sich darin. Es „stellt das Zweite auf, unbewegt und unvermindert, es bleibt selbst, was es eigentlich ist, und weder verändert es sich in jenes noch wird es geringer. Denn das Hervorgebrachte ist kein abgetrennter Teil des Hervorbringenden; weder durch Werden hat es dies entsandt noch durch Gründe wie beim Erzeugen. Es findet auch kein Übergang statt; … das Hervorbringende wird nämlich nicht Hyle [Stoff] des Hervorgehenden; es bleibt vielmehr, was es eigentlich ist, und das Hervorgebrachte ist etwas anderes neben ihm.“ (Ebenda, Kap. 27). Drittens schließlich gelte es noch folgendes herauszukehren: daß „jedes Volle aus sich selbst hervorbringt gemäß seiner übervollen Kraft.“ (Ebenda, Kap. 152). Mit anderen Worten; indem etwas kraft Überfülle hervorbringt, bringt es das von sich aus, per se, aus sich selbst hervor.

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Früchte des Zorns

Es gibt ein Buch, das ich schon vor Jahrzehnten hätte lesen sollen und auch lesen können, aber  erst jetzt zur Kenntnis genommen habe: Früchte des Zorns von John Steinbeck. Es ist ein großer Roman über kleine Leute, einer  über die  Stärke der Schwachen, die mich schon immer ungleich mehr angezogen hat als die Stärke der Starken, weil sie anmutiger wirkt. Bei dieser Gelegenheit kommt mir die Novelle Die Kraft der Schwachen von Anna Seghers in den Sinn. Oder Die Mutter von Maxim Gorki.

Eine Landarbeiterfamilie, der die Umstände zur Zeit der großen Weltwirtschaftskrise übel mitspielen und die wirklich nichts  für ihre Verarmung kann, redet sich nicht auf die Umstände heraus, sondern macht sich auf die riskante und beschwerliche Suche nach einem Leben, in dem sie endlich aufhören kann,  Opfer der Umstände zu sein. Man weiß, daß die  Grenzen, die jeder Mensch hat,  keineswegs unverrückbar sein müssen. Man hat zumindest davon gehört, wie Menschen buchstäblich über sich hinauszuwachsen vermögen. An  Steinbecks Roman läßt sich genau das glaubhaft nachvollziehen. Je weiter der Roman vorankommt, desto größer werden  die kleinen Leute.  Nicht alle freilich. Aber die Mutter, Sohn Tom, der zweite Sohn, die erwachsene Tochter …  Am Ende sind es die nahezu  vollständigen Habenichtse, die mit nichts als einer körpereigenen Kraft das Leben eines fremden Menschen retten.

Anders als ich in meinem Kommentar, schreibt Steinbeck ganz sinnlich. Er erzählt, erzählt und erzählt. Periodisch legt er Passagen von biblisch  eindringlicher und beschwörender Diktion ein. Sie lassen das Kleine, Alltägliche und Persönliche gleichsam historisch vibrieren. Die Beschreibungen von Hitze, Staub und Sturm geraten zu Insignien einer Zeit.

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Als bedeutete Sein zugleich Schönsein

Das Foto wurde vom Hubble-Teleskop geschossen. Es zeigt einen Schleier-Nebel im Sternbild Schwan. Bei dem Nebel handelt es sich um die Explosionswolke einer Supernova, die sich vor 5000 bis 10.000 Jahren zugetragen haben soll.

Was interessiert mich an dem Bild? Daß es voller Schönheit ist. Alle Bilder, die Hubble uns gesandt hat, sind von erhabener Schönheit. Welche Region des Alls sie immer zeigen – hinreißend schön. Manchmal auch abgründig schön. Niemals jedenfalls so kahl und spröde, wie das wissenschaftliche Aussagen über kosmische Strukturen nahelegen.

Vom Standpunkt einer antiken Kosmologie kommt das alles andere als überraschend. „Kosmos“ bedeutet ja urtümlich soviel wie Himmelsschmuck. Im antiken Kosmos ist alles Sein zugleich ein Gutsein und Schönsein. Etwas von diesem Synkretismus findet sich in Hubbles Bildern bestätigt.

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Problematische Universalität

Ein berühmter Satz von Kurt Gödel, auch der „Gödel’sche Satz“ genannt, besagt:

1) „Das System S ist nicht entscheidungsdefinit, d. h. es gibt darin Sätze A (und solche sind auch angebbar), für welche weder A noch ~A beweisbar ist.“

2) „Ein Widerspruchsfreiheitsbeweis des Systems S kann also nur mit Hilfe von Schlußweisen geführt werden, die im System S selbst nicht formalisiert sind, und Analoges gilt auch für andere formale Systeme, etwa das Zermelo-Fränkelsche Axiomensystem der Mengenlehre.“ (Kurt Gödel, Einige metamathematische Resultate über Entscheidungsdefinitheit und Widerspruchsfreiheit, Sätze I u. II).

Ich interpretiere das folgendermaßen:

1) Ein formales Axiomensystem kann als ein widerspruchsfreies nur erwiesen werden mit „Schlußweisen“, die in dem System selbst „nicht formalisiert sind“, wie Gödel im zweiten Satz ausdrücklich schreibt. Mit anderen Worten, dieses System kann ein erwiesenermaßen widerspruchsfreies nur sein, indem es externe Beweisgründe unterstellt.

2) Indem dieses System externe Beweisgründe unterstellt, kann es nicht vollständig, nicht universell sein.

3) Das heißt: Entweder dieses System ist universell, und dann kann es nicht erwiesenermaßen widerspruchsfrei ausfallen, oder es fällt erwiesenermaßen widerspruchsfrei aus, dann aber muß es auf externe Beweisgründe bauen und kann mithin nicht universell sein.

Abb. von Konrad Jacobs, Erlangen
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