Dialektiker und Antidialektiker

Diesen Text liest man am besten, nachdem man den vorangegangenen Eintrag über topische Dialektik zur Kenntnis genommen hat.

DER STREIT DER DIALEKTIKER MIT DEN ANTIDIALEKTIKERN IM MITTELALTER. Noch zu antiker Zeit wird von Cicero eine Topik verfaßt. Er verlieh ihr zwar ein vordergründig rhetorisches Gepräge, das einer rhetorischen Beweiskunst, ließ sich aber doch von dem aristotelischen Vorbild nachhaltig inspirieren. Eine Art Einführung in die Topik des Cicero erstellte dann Boethius (In Ciceronis topica), dessen Werke wiederum von mittelalterlichen Denkern intensiv studiert wurden. Vor allem auf diesem Wege gelangte der Geist einer Logik der Kontroverse ins mittelalterliche Philosophieren. Dort wurde die Logik der Kontroverse allerdings selbst auch kontrovers aufgenommen. Offenkundig machte dies der Streit der Dialektiker mit den Antidialektikern, der bereits zur Zeit der frühen Scholastik ausbricht. Für gewisse Zeit geriet das Wort „dialecticus / Dialektiker“ zu einem Schmähwort, dessen sich ein Teil der geistlichen Intelligenz bediente, um damit Genossen im Glauben herabzusetzen. Zu den Antidialektikern gehörten unter anderem der Kardinal Petrus Damiani (gest. 1072), der Augustinerchorherr Manegold von Lautenbach (gest. nach 1103), der Leiter der Klosterschule Bec Lanfrank (gest. 1089) und sein Schüler und Amtsnachfolger Anselm von Canterbury (gest. 1109). Zu den Dialektikern gehörten dagegen Anselm von Besate und Berengar von Tours (ca. 1015 – 1088), der angesehene Leiter der Domschule von Tours. Berengar ging in die Geistesgeschichte mit einem intellektuellen Vorstoß ein, der den sogenannten Abendmahlsstreit auslöste. Er unterzog die überlieferte Erzählung vom Abendmahl einer Neudeutung. Nach der zu seiner Zeit geläufigen traditionellen Deutung wird während einer Abendmahlsfeier durch bestimmte sprachliche Formeln des Priesters die Substanz des gereichten Brotes und Weines in die Substanz von Fleisch und Blut Christi verwandelt, so daß lediglich die äußerlichen Merkmale von Brot und Wein dabei erhalten bleiben. Nach der Neudeutung durch Berengar bleiben bei dem ganzen Akt Brot und Wein der Substanz nach unverändert, dafür aber würden sie zu einem Zeichen von Fleisch und Blut Christi erhoben, zu einem Zeichen, in Gestalt dessen Christus real präsent ist aber nicht dinglich, physisch präsent. Wie man sieht, eine der Sache nach vordergründig theologische Erzählung. Um so interessanter, daß ihm gerade diese theologische Angelegenheit den Vorwurf eintrug, ein Dialektiker zu sein, und er selbst im Streit mit Lanfrank sein erklärtermaßen dialektisches Denken verteidigte (Rescriptum contra Lanfrancum). Aber was genau an seinem Vorgehen soll das gewesen sein, das die einen der Dialektik bezichtigen und andere als dialektische Kunst verteidigen?

Nun, Berengar hat mit der bloßen Neudeutung die Abendmahlserzählung zu einer Streitfrage in dem anspruchsvollen Sinne der aristotelischen Dialektik erhoben. Werden Brot und Wein bei ihrer Darreichung im rituellen Abendmahl substantiell verwandelt oder nicht? Wird das Gereichte vielmehr zu einem Zeichen erhoben oder nicht? Diese Fragen stellt er sozusagen rückwirkend. Er wirft sie auf, indem er sie entscheidet. Sie tauchen hinter seiner in polemischer Diktion verfaßten Neudeutung auf. Damit hat er die Abendmahlserzählung im logischen Raum von Rede und Widerrede verortet. Damit wiederum war die Erzählung im Geltungsbereich einer Logik der Kontroverse plaziert, wo nur das begründende Bejahen und Verneinen zählt, allein das regelrechte Argumentieren anstelle der Macht der Tradition. Eben dies war es, was seinen Widersachern unerträglich anmuten mußte und sie demonstrativ als Antidialektiker reagieren ließ. Sie beharrten auf fraglose Treue zur Tradition und wollten dazu die Erzählung vom Abendmahl unbedingt aus dem Raum der Streitfragen, der Kontroverse, des Begründens heraushalten. Sie störte nicht diese oder jene Begründung, nicht das eine oder andere Argument, sondern daß das rituelle Abendmahl überhaupt zum Gegenstand einer begründenden, rationalen Rede und Gegenrede herabsinkt, wie sie das empfanden. Deshalb die Schmährede vom dialecticus. Die hintersinnige Botschaft dieser Rede: Der Dialektiker ist der Lieblingsfeind des Dogmatikers. Im 12. Jahrhundert wiederholte sich die Auseinandersetzung zwischen neuen Akteuren, vor allem zwischen Peter Abaelard (1079 – 1142) und Gilbert von Poittiers (gest. 1154) auf der einen Seite und Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) und Wilhelm von St. Thierry (gest. 1148) auf der anderen.

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Topische Dialektik – Aristoteles

BEGRÜNDUNG DER TOPISCHEN DIALEKTIK DURCH ARISTOTELES. Das Geschehen, dessen Logik diese Dialektik verhandelt und ausmacht, besteht in einer Unterredung, die über das von Platon gemeinte innere Reden hinausgeht. Sie findet zwischen leibhaftig verschiedenen Personen statt, die dabei konträre Rollen spielen. Die eine Person stellt einen Satz auf, behauptet ihn, zumal gegen Angriffe, sie verteidigt ihn. Sie wird direkt als der Aufstellende und Verteidiger bezeichnet. Die andere wird der Angreifer genannt. Sie hat den Satz auf eine noch näher zu beschreibende Weise in Frage zu stellen, ihn zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen. Bei dem Geschehen handelt es sich offenkundig um eine Kontroverse. Das Dialektische an der Kontroverse besteht im Widerspruch als Widersprechen und im Widersprechen als wechselseitige Sprechhandlung, mag sie mündlich oder schriftlich ausgeführt werden. In Gestalt der Kontroverse bildet der Widerspruch nicht bloß eine kahle Beziehung zwischen solchen Handlungen, sondern selbst auch eine Sprechhandlung. Die Kontoverse kennt eine ihr eigentümliche Logik, eine Logik des Behauptens, Infragestellens, Verteidigens und Widerlegens. Bei ihr handelt es sich nicht einfach um eine Schlußlogik, gleichwohl gewisse Formen des logischen Schließens dazugehören. Die Schlußlogik hatte Aristoteles bereits in seinem zweibändigen Werk „Analytik“ behandelt. Die Dialektik als Logik der Kontroverse verhandelt er in einem gesonderten Text, der den erläuterungsbedürftigen Titel „Topik“ trägt. Die „Analytik“ wie die „Topik“ gehören zu einer Abteilung seiner Werke, die unter dem Obertitel „Organon“ steht. Beiden Schriften gemeinsam ist der Werkzeugcharakter, den der Begriff des Organons verheißt. Wenn Aristoteles innerhalb des Organons seine Analytik noch um eine Topik ergänzt hat, dann deshalb, weil die Logik der Kontroverse von der Schlußlogik zwar nicht getrennt werden darf, wohl aber von ihr unterschieden werden kann und muß. Sie stellt eben eine Logik der Infragestellung, Prüfung, Widerlegung und Verteidigung von Auffassungen dar. Die beginnt damit, von welcher besonderen Art schon eine Frage sein muß, um folgerichtig in eine Kontroverse münden zu können, das heißt, um einen Streitsatz herzugeben.

STREITSÄTZE – PROBLEM, DIALEKTISCHES PROBLEM, PARADOXES PROBLEM. Der Streitsatz ist die logische Triebfeder der Kontroverse. Aristoteles qualifiziert ihn mit drei Begriffen (Topik 101b, 104a – 105a). Erstens: das Problem. Nur ein Problem taugt zum Streitsatz. Was aber ist ein Problem? Jemand stellt einen Satz auf, beispielsweise den Satz „Jede Lust ist ein Gut“. Nun findet sich ein anderer, der den Anspruch erhebt, diesen Satz zu prüfen. Seinen Anspruch artikuliert und resümiert er, indem er den Satz in eine Frage von ganz bestimmter Form überführt, in die Form „Ist jede Lust ein Gut oder nicht?“ In dieser Frageform gerät der Satz zu einem, wie es wörtlich heißt, Problem. Die markierte Frageform ist dem Autor der „Topik“ wichtig, Er will, daß man sie nicht verwechselt mit der einfachen Frageform „Ist jede Lust ein Gut?“. Die einfache Frage, ob jede Lust ein Gut ist, stelle lediglich eine Prämisse dar, noch nicht ein Problem. Für ein Problem ist sie zu linear. Um ein echtes Problem handelt es sich erst bei der alles andere als linearen Frage, ob jede Lust ein Gut ist, oder ob sie das nicht ist. Allgemein gesagt, ein Problem besteht darin, daß etwas und seine Negation zugleich befragt, zusammen erfragt wird. Indem eine positive Möglichkeit und ihre Negation erfragt werden, indem ihre Konjunktion befragt wird, stellt das Problem einen Widerspruch zur Entscheidung. Und indem die Konjunktion von etwas mit seiner Negation derart fraglich wird, erscheint sie als Alternative: etwas oder seine Negation. Mit anderen Worten, die Frage gilt der Konjunktion von etwas mit seiner Negation, sie ist auf diese Konjunktion gerichtet, auf einen Widerspruch, aber als Frage, als frageförmiger Gedanke macht sie aus der Konjunktion eine Alternative: etwas oder die Negation desselben. Das eröffnet folgerichtig eine Kontroverse. Um diesen Punkt noch in einer Zuspitzung deutlicher zu machen. Die zu späterer Zeit als besonders tiefsinnig geltenden Warum-Fragen stellen im Lichte der „Topik“ keine Probleme dar. Die Frage zum Beispiel, warum der Mensch nach Lust strebt, kann danach nicht als ein Problem durchgehen. Das vermag höchstens eine Frage wie: „Ist die Begierde der Grund des Strebens nach Lust oder nicht?“ In dieser Fassung wird wieder eine positive Möglichkeit und deren Negation erfragt, stellt das Fragen einen Widerspruch zur Entscheidung. In dem angegebenen Sinne ein Problem darzustellen, macht eine notwendige Bedingung für jeglichen Streitsatz aus. Eine hinreichende Bedingung allerdings ist das noch nicht. Es muß noch etwas hinzukommen, damit uneingeschränkt von einem Streitsatz gesprochen werden kann.

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An der Wiege der Dialektik – Platon

EIN TYPISCH DIALEKTISCHER GEDANKENGANG. Er findet sich bei Platon unter anderem in einer längeren Passage des Dialogs „Parmenides“, innerhalb der Unterredung, die dort das gleichnamige Haupt der eleatischen Schule mit dem jungen Aristoteles führt. Die Unterredung handelt vom Einen. Vorausgesetzt wird, daß dieses Eine ist, daß es existiert, Dasein hat, ein Seiendes ausmacht. Sodann gilt es herauszufinden, was alles darin liegt, daß das Eine ist. Dabei erweist sich folgendes. Wenn das Eine ist, so liegt darin sowohl das Eine als auch, daß es ist. Im Sinne des Soseins und Daseins müssen das Eine und sein Dasein in der Tat auseinander gehalten werden. „Also gibt es ein Sein des Einen, das nicht einerlei ist mit dem Einen.“ (Parmenides 142 b). Wenn das Eine existiert, dann liegt darin sogar ein Unterschied, der Unterschied zwischen dem Einem einerseits und seinem Dasein, seinem Existieren andererseits. Der Unterschied nun scheidet notwendig Vieles, setzt Vielheit. Das heißt, wenn das Eine ist, so ist es notwendig in sich unterschieden und mithin Vieles. Das Eine ist ebensogut Vieles. Im nächsten Schritt ergibt sich noch mehr. Wenn das Eine ist, dann ist es notwendig auch nicht Eines (sondern Vieles). Schließlich zeigt der Gesprächsführer seinem jungen Partner noch, wie sehr nicht nur das als seiend vorausgesetzte Eine so beschaffen ist; auch wenn man von seinem Existieren absieht und es allein als es selbst betrachtet, stellt es sich so dar. „Nicht nur das seiende Eine ist Vieles, sondern auch das Eine selbst, das gegen das Sein abhebende Eine ist notwendig Vieles.“ (Parmenides 144 e). Soweit der Gedankengang. Was charakterisiert ihn? Kurz gesagt handelt es sich bei ihm um einen Fall von Erkennen rein in Begriffen, das als solches folgerichtig in gegensätzlichen und widersprüchlichen Bestimmungen des zu Erkennenden gipfelt.

ERKENNEN REIN IN BEGRIFFEN. Zu solch einem Erkennen läßt Platon seinen Parmenides ausdrücklich auffordern. Wenn das Eine ist, hatte der vorab schon geboten, dann haben wir zu ermitteln, was eben daraus für das Eine folgt, was aus dem einmal gebildeten Gedanken, daß das Eine sei, für das Eine folgt; und alles, was daraus folgt, haben wir dem Einem allen Ernstes zuzugestehen, wie auch immer es ausfallen mag (Parmenides 142 b). Es konnte also nicht darum gehen, dem Begriff des Einen einfach etwas hinzuzufügen, ihn mit etwas zu verknüpfen, das nicht aus dem Sein des Einen folgt, oder ihn zu klassifizieren und mit Beispielen zu veranschaulichen. Es gilt das Eine selbst zu erkennen, und dazu muß der einmal gebildete Gedanke, daß das Eine ist, seinerseits durchdacht werden. Er muß daraufhin durchdacht werden, was in ihm liegt, was er – zeitgenössisch gesprochen – impliziert und wie er darum zu explizieren ist. So wird ein Erkennen rein in Begriffen vollzogen. Und in genau der Weise wird dialektisch vorgegangen. „Dialektik“, „dialektische Wissenschaft“, „dialektisches Verfahren“, „Kraft der Dialektik“ nennt Platon das Erkennen rein in Begriffen. Ein Erkennen, wie wenn einer eine „Rede“ hält und dabei ja versucht, „ohne alle Wahrnehmung, allein mittels des Wortes und des Gedankens auf das zu zielen, was ein Jegliches selbst ausmacht.“ Dieser „Weg“ wird „der dialektische“ genannt (Politeia, 532 a – 532 b). Man mag zu bedenken geben, die gegebene „Definition“ von Dialektik mute eher unspezifisch an, lasse alles vermissen, was sich einem intuitiv oder per Vorwissen mit dem Begriff der Dialektik verbindet, wie etwa das Denken von Widersprüchen. Um so interessanter zu sehen, wie Epochen später noch Hegel die Dialektik ganz ähnlich bestimmen wird. Die „reinen Gedanken an und für sich betrachten, heißt Dialektik“, bekennt er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, und „der Begriff der wahrhaften Dialektik ist, daß sie die notwendige Bewegung der reinen Begriffe aufzeigt.“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. II, Leipzig 1982, S. 47, 51). Das Erkennen rein in Begriffen darf natürlich nicht mit der sogenannten Begriffsdialektik, mit einem hohlen Hin und Her von leeren Begriffen verwechselt werden. Tatsächlich handelt es sich bei ihm um ein richtiggehendes Erkennen von etwas. Auch wenn rein in Begriffen erkannt wird, ist es doch stets etwas, das dabei auf den Begriff gebracht wird, etwas wie Pflanzen, Tiere, Artefakte, Gestirne oder das Gute, um nur die Beispiele zu erwähnen, die Platon gelegentlich in diesem Zusammenhang gegeben hat. In seiner Sicht wird rein in Begriffen gerade das Wesen (ousia) der Dinge erfaßt. Erkennen rein in Begriffen ist somit Erkennen rein von Wesenheiten. Das ist Dialektik. Darum meint Platon auch, den Dialektiker schon dadurch trennscharf charakterisieren zu können, daß er ihn als denjenigen auszeichnet, der „von jeglichem den Begriff seines Wesens (ousias) faßt.“ (Politeia 534 b). Rein in Begriffen erkennend, werde das Wesen der Dinge erfaßt, und auf diese Weise erschließt man sich „die Dinge selbst„. Das Wesen der Dinge bestehe nämlich in dem, was diese Dinge selbst sind. Davon nicht zu trennen aber doch zu unterscheiden ist, was sie nicht selbst sind, sondern was sie für-anderes sind, was sie nicht zuletzt für-uns sind. Darin erscheinen sie, treten sie in Erscheinung. Die Erscheinung als das, was etwas in Bezug auf etwas anderes ausmacht, für-anderes – das Wesen als das, was es selbst ausmacht. Gerade das nun, was ein Jegliches wesensmäßig ausmacht, was es selbst ist, sucht keine andere Wissenschaft als die dialektische ordentlich zu finden, heißt es ganz dezidiert (Politeia 533 b). Sie sei das Vermögen, „auf die Tiere selbst zu schauen und auf die Gestirne selbst, schließlich sogar auf die Sonne selbst“ (Politeia 532 a).

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Der Hintersinn der Moral

Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll“. Seine Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute“ vorstellen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz“, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß“, hier auf Erden jedenfalls (Theaitetos 176 a – 176 b). Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zu lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zu hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zu hassen nicht ausrotten kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden. Und wir Heutigen, die wir die Weisheit der Alten zu schätzen wissen, müssen mit unseren später entstandenen und geläufig gewordenen Begriffen ähnlich verfahren und folgende Konsequenz ziehen: All die Sollsätze, denen zufolge man das Gute tun und das Böse lassen soll, das moralisch Richtige machen und das Falsche meiden soll, gültige moralische Normen einhalten statt verletzen soll, stehen unter dem Verdacht, bloßes Geschwätz zu sein, weil und insofern sie unzertrennliche menschliche Lebensäußerungen trennen, in seinsollende und nicht seinsollende aufspalten.

Die Unzertrennlichkeit jener Lebensäußerungen, die von der Moral in Gut und Böse, Tugend und Laster, Richtiges und Falsches usw. eingeteilt werden, und derentwegen Platon das übliche Postulieren verhöhnt, hat in der nachfolgenden Geschichte der Ethik wieder und wieder Bestätigung erfahren. So schreibt Michel de Montaigne: „Die Laster spielen folglich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eine gleich große Rolle wie die Gifte für die Bewahrung der Gesundheit“ (Essais, Frankfurt am Main 1998, S. 391). Ganz ähnlich urteilt LaRochefoucauld: „Die Laster mengen sich in das Zusammenspiel der Tugenden wie die Gifte in das System der Heilmittel“ (Maximen 182). Würden sie tatsächlich ausgetilgt, beschwört Bernard Mandeville seine Zeitgenossen, müßte die Menschheit glatt „die Fähigkeit verlieren, sich zu großen, mächtigen und kultivierten Gesellschaften zu entwickeln“ (Die Bienenfabel, Leipzig – Weimar 1988, S. 7). Er will sie davon überzeugen, daß noch „die höchsten Tugenden der Stützung durch die schlimmsten Laster bedürfen“ (S. 86), weshalb schon um der Tugenden willen das Laster niemals aussterben dürfe. Schließlich sagt er vom Bösen in der Welt sogar, daß es „das großartige Prinzip ist, das uns zu geselligen Wesen macht“. Und „in dem Augenblick, da das Böse verschwindet, muß die Gesellschaft vor dem Ruin, wenn nicht gar der gänzlichen Auflösung stehen“ (S. 357). Immanuel Kant erkannte in den Erzlastern der Habsucht, Herrschsucht und Ehrsucht Triebfedern des kulturellen Fortschritts (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz). Man könnte sie nicht ausrotten wollen, ohne sich der mächtigsten Triebfedern kulturellen Fortschreitens zu berauben. – Das ist lediglich ein Ausschnitt aus der langen Liste von Positionen, die allesamt als Argumente zugunsten des platonischen Vorbehalts gelesen werden können. Und dann geschieht etwas Frappierendes. Einer von den Zeugen zugunsten des Vorbehalts wider das Postulieren in der Art des Psalms „Meide das Böse und tue das Gute“ ergeht sich ausdrücklich und mit programmatischer Diktion in eben diesem Postulieren. Es ist Bernard Mandeville.

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Der Neid der Angeglichenen

Von außen soll der typische DDR-Bürger, wenn es ihn denn gegeben hat, kaum neidisch und sehr bescheiden gewirkt haben. Kollegen, die diesen Typus bis 1989 vorzugsweise in der Außenansicht wahrnahmen, sagen, sie hätten sich damals schwer vorstellen können, wie soviel Bescheidenheit überhaupt zum Neid fähig gewesen sein sollte. Zu ganz ähnlichen Erwartungen konnte man aufgrund bestimmter wissenschaftlicher Annahmen gelangen. Einer durchaus verbreiteten Annahme zufolge finden sich innerhalb einer Gesellschaft um so mehr Anlässe für Neid, je krasser die soziale Ungleichheit dort ausfällt. In der DDR-Gesellschaft aber waren die historisch überkommenen krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich abgebaut und die sozialen Lebenslagen relativ weitgehend angeglichen worden. So daß sich dort – der verbreiteten Annahme zufolge – eigentlich weniger Anlässe für Neid gefunden haben müßten. Aus meiner Innenansicht, aus meiner sozusagen esoterischen Kenntnis besagter Gesellschaft heraus weiß ich: In Wirklichkeit war es anders. Der Neid, der sogenannte Sozialneid inklusive, erlebte durchaus eine gewisse Blüte. Wie kam das? Wie erklärt sich das? Erklärt sich das hinlänglich schon aus der Verwurzelung des Neides in der menschlichen Natur, in den anthropologischen Konstanten, in einer ahistorischen Triebstruktur? Oder lassen sich dafür auch gesellschaftliche Bedingungen, typisch staatssozialistische Ursachen ausmachen?

Meine These lautet: Sogar der Sozialneid trieb eigentümliche Blüten, aber nicht trotz der Einebnung krasser sozialer Gegensätze, nicht trotz der relativ weitgehenden sozialen Angleichung, sondern wegen derselben.

Was die These genauer meint, läßt sich gut an bestimmten Gestalten des Sozialneides zeigen, die sich bei einer seinerzeit durchgeführten empirischen Untersuchung markant genug abgezeichnet haben. Diese Untersuchung wurde Mitte der 80er Jahre in der DDR durchgeführt, vor allem in Industriebetrieben, vor allem also unter Arbeitern, Ingenieuren, Verwaltungsangestellten und Managern, wie man heute sagen würde. Sie zielte auf eine tiefere Kenntnis von Arbeitsmotiven und faktisch wirksamen Wertorientierungen insgesamt, und sie bediente sich dazu des Interviews nach einem Gesprächsleitfaden, der Befragung per Fragebogen und der teilnehmenden Beobachtung. Im Ergebnis zeichnete sich, neben vielem anderen,  eine Art Hierarchie des neidvollen Begehrens ab. Ganz oben in der Hierarchie rangierten drei Phänomene, drei Syndrome.

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Leib vs. Körper

Die deutsche Sprache bietet den Komfort, mit den Worten „Körper“ und „Leib“ eine Differenz ganz sinnfällig ausdrücken zu können, für die andere Sprachen lediglich einen doppeldeutigen Ausdruck bereit halten. Einen Leib kennen erst die Lebewesen, ein Körper ist schon leblos möglich – das ist den deutschen Ausdrücken eingeschrieben. „Leib“ unterstellt notwendig eine wie immer geartete Lebendigkeit, „Körper“ unterstellt das – notwendigerweise jedenfalls – nicht. Unter einem Leib kann man sich beim besten Willen nur etwas Biotisches vorstellen, unter einem Körper auch den technischen Hohlkörper, den Himmelskörper oder die Korpuskel der Quantenmechanik. Daß die nämlichen Begriffe in verteilten Rollen auf Lebendiges und Lebloses Bezug nehmen, ist also gewiß. Aber wie tun sie das? Wie versteht sich die Differenz von Leib und Körper? Dem will ich nach einigen Seiten hin nachgehen und dazu begriffsgeschichtlich etwas ausholen.

Das Körperparadigma

Es gibt eine Auffassung vom Verhältnis beider, die mir die gewöhnliche Auffassung zu sein scheint, die schon vorwissenschaftlich mögliche – eine Gestalt der Doxa gewissermaßen, die gleichwohl unter Wissenschaftlern und Philosophen zahlreiche Fürsprecher gefunden hat. Sie faßt sich in zwei Gleichungen zusammen: „Leib = spezifischer Körper“, „Leib = vitaler Körper“. Der Leib also als eine Art des Körpers. So als dürfte man sagen, alle Leiber sind Körper, aber nicht alle Körper sind Leiber. Als dürfte man sogar definieren, der Leib ist ein Körper, der sich von anderen Körpern durch seine Vitalität unterscheidet. Als würde also das Eigentümliche des Leibes, und das macht den springenden Punkt, lediglich gewisse allgemeine Wesensmerkmale der Körper besondern, auf besondere Weise abwandeln, modifizieren, ausprägen, kurz: spezifizieren. In diesem Sinne wird die fragliche Differenz für gewöhnlich gedeutet. Noch Maurice Merleau-Ponty, dem wir so viele Einsichten in die Eigentümlichkeit des Leibes verdanken, hat gelegentlich die Gleichung „Leib = lebendiger Körper“ bestätigt (Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 75).
Zu der gewöhnlichen Auffassung verführt freilich der Sprachgebrauch. Er verführt dazu schon deshalb, weil im Lateinischen, Französischen, Englischen und in anderen Sprachen die Worte „corpus“, „corps“, „body“ usw. beides meinen, sowohl den Leib der Lebewesen als auch den leblosen Körper. Der Leib des Lebewesens kann in diesen Sprachen nur adjektivisch ausgezeichnet werden, mit dem Ausdruck „le corps humain“ beispielsweise. Und genau das, die adjektivische Auszeichnung, läßt ihn auf plausible Weise wie eine Körperart erscheinen. Aber so plausibel das anmutet, es dürfte sich dabei doch um einen Fall von Verhexung des Denkens durch die Sprache handeln, um einen Fall von jener Verhexung, gegen die anzudenken Ludwig Wittgenstein für die erste Aufgabe der Philosophie hielt.
Deutlicher gesagt, die geläufige Bestimmung als Körperspezies wird falsch sein. Leiblichkeit will anders denn als eine Art von Körperlichkeit begriffen werden. Die naturgeschichtliche Entstehung des Leibes stellt eine evolutionäre Kreation dar, eine Kreation, welche die ganze Gattung der Körper richtiggehend überschreitet, statt ihr eine weitere Spezies zu verschaffen. Wie der Mensch, obschon aus der Affengattung hervorgegangen, dennoch keine Affenart bildet, sondern – mit Nietzsche gesprochen – den Überaffen, so bildet schon das erste leibhaftige Lebewesen, obgleich aus dem Körperkosmos herausgewachsen, ein die Körperlichkeit transzendierendes, neues Gattungswesen. Zweifellos weisen Leib und Körper Gemeinsamkeiten auf, nur – und das macht wieder den springenden Punkt – das Eigentümliche des Leibes ist keine Spezifizierung, keine Besonderung, keine Konkretion solcher Gemeinsamkeiten.

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Toleranz aus Stärke – Toleranz aus Schwäche

Tolerantia = Tugend, intolerantia = Laster, eine ganz einfache Unterscheidung haben die mittelalterlichen Tugend- und Lasterkataloge vorgegeben. Alle Toleranz sei gut, alle Intoleranz schlecht. Uns Heutigen erscheinen die Gleichungen eher als einfältig. Zu deutlich hat sich mittlerweile abgezeichnet, daß es solche und solche Toleranz gibt, und daß die unterschiedlichen Formen eine ebenso unterschiedliche politisch-ethische Bewertung erfahren müssen.

Dabei denke ich allerdings weniger an die bis auf den Tag geläufige Scheidung zwischen falscher und wahrer Toleranz. Unter falscher Toleranz versteht man üblicherweise, daß etwas Duldung erfährt, was eigentlich keine Duldung verdient. Im Gegenzug muß der Begriff einer wahren Toleranz bedeuten, praktisch nur zu dulden, was in der Tat Duldung verdient. Aber was verdient geduldet und ertragen zu werden und was nicht? Es gibt einen Sinn der Toleranz. Der Sinn der Toleranz liegt darin, den – im denkbar weiten Sinne des Wortes – kulturellen Reichtum der Menschheit zu bewahren und zu mehren. Danach soll die Vielfalt der Meinungen, Lebensformen, Religionen usw. toleriert werden, und mit Unduldsamkeit müßte alles zu rechnen haben, was wenigstens in der Konsequenz darauf hinausläuft, jene Vielfalt einzuschränken oder gar abzuschaffen.

Selbst wenn wir nur die Fälle des Lebens in Betracht ziehen, wo ausschließlich etwas Duldenswertes toleriert wird, wo sich gewissermaßen die Rede von der wahren Toleranz erfüllt und die falsche vermieden wird, selbst in solchen Fällen fällt einem zumindest auf den zweiten Blick auf, wie gravierend unterschiedlich Toleranz ausfallen kann, wie sie mal als ein souveränes Verhalten, mal dagegen gleichsam als Unterwürfigkeit erscheint. Um solche Wahrnehmungen treffend benennen zu können, ist es ratsam, eine von Friedrich Nietzsche hinterlassene Wertunterscheidung auf Tragfähigkeit hin zu prüfen.

Nietzsche unterschied: Es gibt Toleranz aus Stärke, und es gibt Toleranz aus Schwäche. Die Differenzierung gehört bei ihm zu einem systematisch bedeutsamen Gedankengang. Alles ethisch und ästhetisch Belangvolle, sagt der späte Nietzsche, kommt mindestens in zweierlei Gestalt vor. Einmal im menschlichen Großformat, das andere Mal mit einem kleinlichen, niedrigen und schwächlichen Zuschnitt. Das gilt für Rache, Neid und Pessimismus genauso wie für Gerechtigkeit, Liebe und Toleranz. Als Lebensäußerung einer starken Persönlichkeit kann Toleranz erhaben anmuten, als bloße Vorsichtsmaßnahme der Willens- und Charakterschwäche mag sie sogar abstoßend wirken.

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Eine Umkehr zwischen Sein und Werden – die Prozeßontologie von Wolfgang Sohst

Der Autor hat den Anspruch, den „metaphysischen Denkstil“ und die „Dialektik als Methode“ in eins zu praktizieren. Er will Dialektik und Metaphysik miteinander verbinden. Ich nenne das „Metaphysica dialectica“. Erfunden haben wir dieses Konzept allerdings beide nicht. Das ausdrücklich formulierte Programm einer Liaison der Metaphysik mit Dialektik geht auf Ernst Bloch zurück.

Unter Dialektik versteht Wolfgang Sohst im Kern „die Behauptung der Entstehung von etwas aus einem vorgängigen Widerspruch“ (Prozeßontologie, Berlin 2009, S. 50). Die Zentrierung der Dialektik um Widerspruchsdialektik kommt mir zwar etwas eilig – topische Dialektiker und hermeneutische Dialektiker könnten sich von ihr aus dem Kreis der Eingeweihten ausgeschlossen fühlen – aber sie bringt doch eine Gestalt des dialektischen Denkens zu Ehren, die ideengeschichtlich wie keine andere attackiert worden ist. Zumal der Widerspruch im Weiteren als ein operationales Verhältnis gefaßt, als solches gegen bloß logische Verhältnisse abgehoben und dieserart unter den ontologisch bedeutsamen Zusammenhängen ausgemacht wird.

Das Buch handelt vom Werden und Sein. Es ist der Versuch, eine Auffassung über die Beziehung zwischen Werden und Sein, die traditionell wieder und wieder ausdrücklich behauptet oder stillschweigend unterstellt wurde, umzukehren. Für die traditionell bevorzugte Auffassung von Sein und Werden mag exemplarisch der Denkeinsatz in Hegels „Wissenschaft der Logik“ stehen. Dort läßt Hegel seinen systematischen Gedankengang unter dem Begriff des Seins einsetzen. Negativ zum Sein macht er das Nichts aus. Darauf folgt seine These von der Einheit des Seins und des Nichts. Und diese These sieht er schließlich zum Begriff des Werdens überleiten. Ontologisch gesprochen: das Sein als irgendwie unmittelbar, das Werden als vom Sein vermittelt, als eine Art Abkömmling oder verwandelte Form des Seins. Das ist die traditionell bevorzugte Gedankenabfolge, die es wahrlich verdient, umgekehrt zu werden. Nicht das Werden als eine gewisse Weise zu sein, sondern umgekehrt, das Sein als eine eigentümliche Weise zu werden. Damit war Heidegger befaßt, wo er das Dasein als ein wesenhaft zeitlich verfaßtes dachte und sich vornahm, den Begriff des Raumes aus dem der Zeit herzuleiten, während in Hegels „Enzyklopädie“ die Naturphilosophie nicht zufällig bei dem des Raumes einsetzt.

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Der Nichtnazi – über Alain de Benoist und die Nouvelle Droite

1968 findet sich eine Gruppe französischer Intellektueller zusammen, die man allerdings schwerlich als 68er in dem üblicherweise gemeinten Sinne bezeichnen kann, eine Gruppe von Rechtsintellektuellen. Fortan wird sie unter dem Namen „Nouvelle Droite“ öffentliche Aufmerksamkeit zu finden versuchen. Von Anfang an das Haupt der Gruppe: Alain de Benoist, Jahrgang 1943, Autor von rund 50 Büchern, darunter von einem, das die honorige Académie francaise 1978 mit ihrem Grand Prix de l’Essai auszeichnet. Er und die Seinen legen großen Wert darauf, als neue Rechte wahrgenommen und mit den alten Rechten nicht verwechselt zu werden. Von Nazismus, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus distanzieren sie sich. Dem Selbstverständnis nach denken sie dezidiert rechts und sind doch weder dem Nazismus noch dem Neonazismus verhaftet. Das hat Benoist nun nicht davon abhalten können, zur deutschen Ausgabe eines seiner Bücher das Vorwort von Armin Mohler schreiben zu lassen, einem deutschen Rechtsintellektuellen, der gelegentlich schon einmal bekannt hat, ein Faschist zu sein. Um so interessanter die Frage, worin das Neue an diesen neuen Rechten bestehen soll, ob und inwiefern sie rechtes Denken, Rechtsideologie allen Ernstes auf neue Weise darbieten.

Differenzpolitik rechts gewendet

Benoist erhebt den Anspruch, eine ganze Weltanschauung auszuarbeiten und anzubieten, von der Kosmologie über die Anthropologie bis hin zur gesellschaftspolitischen Zukunftsvision. Zentrale politische Thesen begründet er darum nicht lediglich politisch. Die Begründung holt weit aus, geht bis auf kosmologische Prämissen zurück. Unter den Prämissen findet sich eine, die Benoist bereits in einem Text der 70er Jahre, in „Vu de droite“ (Aus rechter Sicht, Tübingen 1983/84) auszuformulieren begann. Die Prämisse lautet: Wir leben gar nicht in einem Universum, sondern in einem Pluriversum; unsere Welt stellt ein Pluriversum dar. Das heißt, das Weltall ist, und zwar von Grund auf, vielgestaltig. Hinter der Vielheit ist nichts mehr, schon gar nicht eine Einheit. Nicht irgendeine Einheit bildet den uranfänglichen und grundlegenden Zusammenhang, sondern die Vielheit. Das Viele, die vielen Ladungswolken, Elektronen, Atome, Moleküle usw. verbinden sich natürlich, und durch ihre Verbindung konstituieren sie eine Art Einheit der Welt, aber die bildet doch nur einen sekundären statt primären Zusammenhang.

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Wilhelm Schmids „Die Liebe neu erfinden“

Angelo Bronzino, Alegorie der Liebe (Detail)

Dieses Buch ist ganz schwer zu besprechen, weil von außergewöhnlicher Klugheit. Das macht es einem Rezensenten schier unmöglich, der eigenen Eitelkeit durch noch klügere Kommentare Genüge zu tun. Vor allem läßt es die Kritik an dem einen oder anderen Standpunkt des Autors von vornherein als kleinlich erscheinen. Ich würde gern die von ihm vorgenommene Gleichsetzung des Schönen mit dem Bejahenswerten als eine unspezifische Bestimmung bemängeln, fange damit auch an, um bereits im Ansetzen das schale Gefühl zu empfinden, mit solch punktuellem Raisonnieren das Format des Buches beiweiten zu unterbieten.

Was ist sein Format? Großes und betont systematisch verfahrendes Philosophieren hat sich mit der Liebe stets merkwürdig schwer getan. Es hat über die Liebe immer Aphorismen voller Weisheit und Essais voller Esprit gegeben. Aber in der Systematik der historisch prägend gewordenen Philosophien fand die Liebe auffälligerweise nicht ihren Platz. Aristoteles vermochte die Freundschaft in seinem System einigermaßen denknotwendig zu verorten, Hegel die Familie, Heidegger die sexuelle Differenz … Das Denken der Liebe jedoch blieb dem System, der begrifflichen Architektur, der inneren Logik von Epoche machenden Philosophien äußerlich. Oder aber das, was durchaus konzeptionell eingebunden wurde und an Liebe erinnerte, war bloß ein dürres Moment von ihr, eines, das – wie etwa die Sexualität in Foucaults Texten – durch seine gedankliche Verselbständigung unweigerlich lieblos geraten mußte. Dieses ideengeschichtliche Defizit könnte nunmehr getilgt sein. Auch wenn seine Philosophie der Lebenskunst noch nicht fertig ist und als Philosophie gerade der Lebenskunst vermutlich niemals fix und fertig sein kann, Wilhelm Schmid hat als erster die ungeteilte, ungestutzte, prallvolle Liebe in mitten einer philosophischen Konzeption gedacht. Dies nicht schon deshalb, weil die Liebe innerhalb der offenen Gliederung seiner Philosophie eine Stelle zugewiesen bekommt, vielmehr dadurch, daß er die Liebe als eine Art Mikrokosmos des Menschenkosmos denkt, als das Konzentrat der ganzen „Dialektik des Lebens“.

In einem so weiten und lichten Horizont gibt sie sich preis, offenbart sie sich als das Überschießende, das Übervolle sondergleichen. Sie läßt sich sehr bestimmt denken, aber nur zu dem Preis, daß es immer noch etwas anderes an ihr zu bedenken gibt. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: „Liebe ist Sanftmut? Aber oft zeigt sie ein kämpferisches Gesicht. Liebe ist Kampf? Aber ihre größte Stärke ist der Verzicht auf das Gebaren der Stärke. Liebe ist Harmonie? Aber der Gleichklang der Seelen wird immer wieder zerrissen vom Mißklang. Liebe ist ein unendliches Gefühl? Aber eine nicht sehr gefühlvolle Endlichkeit setzt ihr wieder Grenzen. Selbst die tautologische Definition, ebenso tiefgründig wie nichtssagend, ‚die Liebe ist eben die Liebe‘, hilft hier nicht weiter, denn die Liebe birgt in sich zuweilen auch Haß, nicht etwa nur auf den, der ihr im Weg steht, sondern auch auf den, der eigentlich geliebt wird. Auf seine Vergötterung folgt die Verteufelung, auf blindes Vertrauen die große Verbitterung. Die stärkste Erfahrung im Leben kann die Liebe sein, ebenso verzückend wie verheerend. Immer ist sie noch etwas Anderes, Gegensätzliches: Liebe ohne Ende.“

Wilhelm Schmid, Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 397 S.

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