In dem verblichenen ostelbischen Staatswesen sollten die Leute „auf der Linie liegen“. Im ausgedehnten westelbischen Staatswesen sollen sie „im Trend liegen“. Liegen müssen sie immer noch – statt aufrecht zu gehen.
Ein Ausbund an Intoleranz
Der Erziehungsdiktator in spe
Maxim Biller hat eine seuchenhaft grassierende „Ossifizierung des Westens“ diagnostiziert (Deutsche deprimierende Republik, FAZ v. 21. 03. 09). Am Ende weist er einen Ausweg aus der Misere. Es sei „Zeit, die Kommunikation wieder so zu bestimmen, daß aus den verosteten Wessis die vernünftigen, unnationalistischen Leute werden, die sie mal waren. Und wenn ‚wir‘ dann wieder okay sind, machen wir ’sie‘, die Ossis, bestimmt auch zu besseren Menschen. Denn sie selbst schaffen es aus eigener Kraft nicht. Oder kann sich hier wirklich jemand ein ostdeutsches ’68 vorstellen?“
Item: 1) „Wir“ wissen, wie der bessere Mensch aussieht. 2) „Sie“ wissen das nicht und werden das von allein nie werden. 3) „Sie“ müssen dazu gemacht werden, und das müssen „wir“ machen.
Dies ist der Denkeinsatz einer jeden Erziehungsdiktatur.
Und wenn „sie“ sich nicht umerziehen lassen wollen? Nun, dann müssen „wir“ etwas nachhelfen. Mit Nachdruck, mit Druck. Für besonders Verstockte wird sich ein Lager finden…
Berlinkritiker
Der Suhrkamp Verlag zieht nach Berlin um. Betroffene Intellektuelle äußern sich darauf über die Stadt Berlin.
Etwa folgendermaßen: „Berlin ist nicht die Stadt der feinen grünen Sößchen nach Geheimrat Goethes Lieblingsrezept. Berlin ist die Stadt der Buletten. Um sich hier ordentlich zu integrieren, muss man etwas bulettig werden. Und wie wird man ein Klops? Indem man vorher kräftig durch den Fleischwolf gedreht wurde!“ (Mely Kiyak, Frankfurter Rundschau, 21. 02. 09).
Man teilt aus, will verletzen, weil einem verständlicherweise die Ahnung, provinziell zu geraten, unerträglich ist.
Abbildung: Carl Spitzweg, Zeitungsleser, 1868, Pfalzgalerie Kaiserslautern
Sprüche
Der Untergang des Abendlandes ist eben nicht nur ein Buchtitel.
Man lebt immer in einer anderen Zeit als man glaubt.
„Sie sind doch gottlob ein normaler Mensch“, sagte der gute Bekannte. Herr Keuner erbleichte.
Dem Zeitgeist zufolge haben wir lauter Bestsellerautoren, aber keine Schriftsteller.
Schwache Lebenskraft erhebt sich, indem sie andere herabsetzt, starke Lebenskraft muß niemanden herabsetzen, sie überbietet – vornehmlich sich selbst.
Nach drei Jahrzehnten grassierender Anerkennungssucht zeichnet sich ein Fortschritt ab: es kommt jetzt die Anerkennungspflicht.
Grafik: Siegfried Völker, Fisch an Land, 1987
Kinderschänder
Wieso erregen sich die Gemüter über Kinderschänder ungleich heftiger als über Kindermörder? Wenn eine Frau ihren Säugling vom Balkon wirft, ist die Öffentlichkeit entsetzt, wenn ein Kind mißbraucht wird, ist sie voller Abscheu. Niemand entzündet die Vergeltungsphantasie des Volkes dermaßen intensiv wie der Kinderschänder, niemand zieht eine so haßerfüllte Empörung auf sich wie er. In den Gefängnissen, unter Häftlingen steht er am schlechtesten da. Wer eine Frau vergewaltigt hat, ist dort ein Krimineller unter Kriminellen, wer ein Kind mißbraucht hat, steht noch unter den Kriminellen. Selbst inhaftierte Serienmörder, Kriegsverbrecher und Berufskiller empfinden gegenüber dem Kinderschänder tiefe Abscheu und meinen, ihn auch ihrerseits noch verfolgen und bestrafen zu müssen.
Ein Mord berührt vornehmlich unsere moralischen Gefühle; und das Grundgefühl der Moralität ist eine Angst – die Angst vor der Aggression des Mitmenschen. Der Kindesmißbrauch berührt mehr noch einen anderen Gefühlskomplex, einen, der beim Ekel seinen Ausgang nimmt. Morden ist böse, Kindesmißbrauch ist widerwärtig. Der Ekel aber sitzt anthropologisch tiefer als jene Angst vor dem Mitmenschen, die uns den Begriff des Bösen hat erfinden lassen. Der Ekel mit seinen zahlreichen Abkömmlingen kommt elementarer, basaler, wuchtiger daher. Deshalb bewegen Kinderschänder heftiger noch als Kindesmörder die Gemüter.
Sprüche
Nicht Reichtum, Armut macht gierig.
Kapitalismus ist, wenn man immer mehr haben muß, nicht um mehr zu sein, sondern schon um überhaupt zu sein.*
Kapitalismus macht aus Lebensfragen bloße Überlebensfragen.
Im Kapitalismus macht Reichtum doch gierig, weil er dort unterderhand eine merkwürdige Form von Armut ist.
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* „Wenn das Ungeheuer nicht mehr wächst, so stirbt es. Es kann nicht immer gleich groß bleiben.“
(John Steinbeck, Früchte des Zorns).
Herabsetzung der Differenz zum bloßen Unterschied
Niels Bohr hat den Begriff des Komplementären in die Physik eingeführt. Er bedeutet: zwei Begriffe schließen einander derart aus, daß die von ihnen gemeinten physikalischen Größen niemals gleichzeitig genau bestimmbar sind. Den prominentesten Fall von Komplementarität bietet die Heisenbergsche Unschärferelation. Man erinnert sich, danach können der Ort eines Teilchens und sein Impuls niemals gleichzeitig, stets nur ungleichzeitig exakt bestimmt werden. Anton Zeilinger sprach sich nun jüngst dafür aus, „daß es zu jedem physikalischen Begriff zumindest einen gibt, der mit ihm komplementär verbunden ist“ (Einsteins Schleier, München 2005, S. 172). So wäre die Komplementärität keineswegs bloß ein apartes Phänomen etwa der Quantenphysik, sondern etwas Allgegenwärtiges im physischen Universum. Bei solcher Verbreitung lohnt es, sich ihrer philosophisch zu vergewissern. Unter folgender Frage: Welche Konstellation von Differenz und Wiederholung liegt in der Komplementarität?
Sprüche
Optimismus der Schwäche – Optimismus der Stärke
Es gibt alles zweifach – einmal aus Stärke, einmal aus Schwäche. So auch bei Pessimismus und Optimismus. Dazu vier Typogramme.
Optimismus der Schwäche. Paul lebt in dem Gefühl einer übermächtigen Abhängigkeit von den Umständen. Tief geprägt ist er von dem Erleben, wie sehr er in seinen Erfolgen und Mißerfolgen von anderen Menschen und äußeren Bedingungen bestimmt wird und wie wenig dagegen in seiner Macht steht. Zugleich ist er ganz intensiv von dem Wunsch beseelt, Erfolg zu haben, es zu etwas zu bringen und überhaupt ein gelingendes Leben zu führen. Untergründige Ohnmachtsstimmung und heißes Erfolgsverlangen – aus diesem Kontrast stammt seine Neigung, die Umstände und ihre künftige Dynamik zu günstig zu beurteilen. Sein Wunsch, als Gewinner abzuschneiden, ist so brennend und zugleich dermaßen an die Gunst der Umstände gebunden, daß er deren Dynamik sich oft allzu rosig ausmalt, als könnte er nicht zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden. Mit ‚günstigen Aussichten‘ kompensiert er das Gefühl mangelnder Handlungsmächtigkeit.
Pessimismus der Schwäche. Peter kennt dieses beherrschende Gefühl einer defizitären Handlungsmächtigkeit ebenfalls. Bevor er sich fragt, was er selbst tun will, analysiert er sorgfältig, für welche Handlungen die Mitmenschen und die äußeren Bedingungen überhaupt günstige Voraussetzungen bieten. Um dann zu finden, daß diese Voraussetzungen eigentlich fast immer fehlen. Anders als Paul beurteilt er nämlich die Umstände und ihre künftige Dynamik überwiegend negativ. Wäre er nicht einfach gezwungen, gewisse Dinge doch zu tun, würde er womöglich alles Tun als hoffnungslos verwerfen. Tatsächlich aber projiziert er dabei nur sein eigenes Selbstbild und Selbstgefühl in die Umstände hinein. Es ist eine Projektion seines tiefsitzenden Gefühls eigener Ohnmacht, was ihm die Umwelt als eine von düsteren Aussichten vollends gezeichnete gegenübertreten läßt.