Der transzendental idealistische Raum

Immanuel Kant hat bekanntlich einen besonderen Idealismus gestiftet,  einen transzendentalen, den er vom überkommenen Idealismus wie von einem materialen unterschied. Danach sind Raum und Zeit Anschauungsformen, Vorstellungsarten. Das heißt, Raum und Zeit existieren nicht an sich, sondern nur für uns. Sie sind „nichts an sich selbst und außer meinen Vorstellungen Existierendes, sondern selbst nur Vorstellungsarten“ (Prolegomena, Kants gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 341/42). Analoges gilt für jedes räumlich Gegebene, für alles räumlich Beschaffene, für jeglichen Gegenstand in Raum und Zeit. „Wenn ich von Gegenständen in Zeit und Raum rede“, sagt Kant, „so rede ich nicht von Dingen an sich selbst, darum weil ich von diesen nichts weiß, sondern nur von Dingen in der Erscheinung, d. i. von der Erfahrung als einer besondern Erkenntnißart der Objecte, die dem Menschen allein vergönnt ist.“ (Ebenda, S. 341). Beliebige Dinge können also räumlich gegeben sein, räumlich beschaffen sein, im Raum sein nur als Erscheinungen, allein in der Form, in welcher sie uns erscheinen und von uns vorgestellt werden, ausschließlich als Gegenstände der Erfahrung. Nur für uns. Wie dagegen die Dinge, auf die unsere Vorstellungen und Begriffe Bezug nehmen, an sich selbst beschaffen und gegeben sind, können wir nicht wissen; es läßt sich lediglich negativ von ihnen sagen, daß sie mit Sicherheit nicht räumlich gegeben und beschaffen sind. Alles Räumliche ist ein solches nur für uns, und wie immer die Dinge an sich selbst beschaffen sein mögen, auf alle Fälle nicht räumlich.

Also bestehen gar keine äußeren Gegenstände, keine außer uns befindlichen? Sie bestehen sehr wohl, nur eben nicht wie etwas an sich Seiendes. Es „sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren.“ (Ebenda, S. 289). Ganz merkwürdige räumliche Gebilde zeichnen sich da ab: Dinge, die – so wie sie uns und nur uns gegeben sind – dennoch als außer uns befindliche Gegenstände gegeben sind. Betrachten wir sie genauer. Das sind nicht einfach äußere Dinge und nicht etwa Dinge außerhalb der Erfahrung. Es sind Gegenstände der Erfahrung, und alle Gegenstände der Erfahrung sind „nur in der Erfahrung gegeben und existiren außer derselben gar nicht.“ (Kritik der reinen Vernunft, Kants gesammelte Schriften, Bd. III, S. 339). Mehr noch. So etwas wie ein Außer-der-Erfahrung kann es – unter den eingangs markierten Voraussetzungen – gar nicht geben. Zwar lassen sich von den Erfahrungsgegenständen und Erscheinungen, durchaus die Dinge, wie sie an sich selbst sind, unterscheiden, aber diese Dinge können sich doch weder außerhalb noch innerhalb von irgendwas befinden, weil ihnen Räumlichkeit schlechthin und überhaupt abgeht. Ein Mißverständnis, zu sagen, die Dinge an sich selbst befänden sich außer der Erfahrung. Und wie jegliches Außer-der-Erfahrung beim transzendental idealistischen Raum schlechtweg unmöglich ist, so befinden sich auch „außer uns befindliche Gegenstände der Sinne“ keineswegs außer der Erfahrung. Allein in der Erfahrung können Dinge als außer uns befindliche Gegenstände gegeben sein. Wie ist das möglich? Wie verträgt sich dieses „außer uns“ mit jenem „in“? Durch eine Asymmetrie von Dasein und Sosein. Das eine ist es, wie die fraglichen Gegenstände gegeben sind, das andere, als was sie gegeben sind. Da sind sie ausschließlich in der Erfahrung. Und als was sind sie da? Als außer uns befindliche. So sind sie. Ihre Befindlichkeit außer uns ist reines Sosein, im Unterschied zu ihrem Dasein, zu ihrer Gegebenheit in der Erfahrung. Diese Asymmetrie von Dasein und Sosein charakterisiert den transzendental idealistischen Raum recht weitgehend.

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Die Figur des Lebens

Was ist dem Leben eigentümlich, was zeichnet Lebewesen aus? Unter Philosophen und Biowissenschaftlern gibt es eine starke Neigung, auf die Frage mit der Hervorhebung von gewissen Selbstbeziehungen zu antworten. Etwa mit dem Verweis auf Selbsterhaltung. Bereits die älteren Stoiker behaupteten, der erste Trieb, der sich bei Lebewesen regt, sei der der Selbsterhaltung (Diog. Laert., Vitae philos. VII, 85). Heutigentags ist eine Auffassung verbreitet, die nicht zuletzt von Humberto R. Maturana ausgearbeitet wurde. Danach gehören „lebende Systeme zur Klasse autopoietischer Systeme“. Die autopoietischen Systeme wiederum werden von den allopoetischen unterschiedenen. Allopoietisch sei ein System, das ein Produkt hat, das nicht es selbst ist, das vielmehr „von ihm selbst verschieden ist.“ Autopoietisch hingegen sei ein System, das ein Produkt hat, das es selbst ist. Und jedes Lebewesen sei wie gesagt ein solches System (Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 158 f, 163). In der Konsequenz heißt das: Jedes Lebewesen hat ein Produkt, das es selbst ist; alle Lebewesen haben sich selbst zum Produkt ihres Funktionierens. Bemerkenswert an Auffassungen wie dieser ist vor allem eins: Bestätigung erfahren sie allein durch eine Betrachtung unstrittiger Phänomene des Lebens, die diese Phänomene verkürzt.

Nehmen wir als Phänomen das Leben einer einfachen Zelle. Dazu aufgefordert, das Leben dieser Zelle mit seiner eigentümlich vitalen Figur denkbar bündig zu beschreiben, möglichst in einem Satz und ohne bloßes Aufzählen von Merkmalen, würde ich folgendermaßen formulieren: Aus fremden Molekülen und Energien sich nährend, wächst und entwickelt sich die Zelle, auf daß sie sich teilt und in ihrer Teilung aufgeht, dabei in allem eine Idee von sich, einen sogenannten genetischen Bauplan, ebenso verwirklichend wie überschreitend. Und nun suche man an dieser Figur nach der Autopoiese. Was findet sich?

1. Der Theorie der Autopoiese zufolge, müßte sich die Zelle als ein Wesen erweisen, das ein Produkt hat, welches es selbst ist. Aber wenn es denn überhaupt Sinn macht, im gegebenen Kontext von Produkten zu sprechen, so gilt es einen erheblich anderen Bezug herauszustreichen. Wenn überhaupt, so hat die Zelle ein Produkt, daß gerade nicht sie selbst ist, das vielmehr etwas anderes als sie selbst ausmacht – nämlich ein Paar Tochterzellen, manchmal auch mehr als ein Paar. Statt sich selbst zum Produkt zu haben, geht die Mutterzelle in ihrem Produkt völlig auf, ja sie verschwindet darin. Selbst wenn die Tochterzellen genetische identische Kopien der Mutterzelle ausmachen sollten, ist das Produkt der letzteren eine Kopie und nicht das Kopierte selbst. Wenn man die Figur des Lebens freilich verkürzt betrachtet, indem man sozusagen ihren ersten Abschnitt für sich nimmt, bietet sie sich einem wie eine Selbstbezüglichkeit dar, die an Autopoiese erinnern mag: Aus fremden Molekülen und Energien sich nährend, wächst und entwickelt sich die Zelle…- so scheint sie immerfort sich selbst zum Produkt zu haben, als eine wieder und wieder gewachsene, entwickeltere Zelle. Aber das scheint auch nur so, denn der Zelle Wachstum ist doch zugleich und vor allem das sukzessive Ausbilden von Tochterzellen. Man darf eben nicht dabei stehen bleiben, einen gewissen Abschnitt der ganzen Figur des (zellularen) Lebens für sich zu betrachten, man kann das nur zu dem Preis tun, das eigentümlich Vitale an ihr zu verfehlen. Halten wir fest: Was die Figur des (zellularen) Lebens beschreibt, ist nicht eine Selbstbeziehung wie die Autopoiese, nicht die unentwegte Rückkehr in sich, sondern ein Über-sich-hinausgehen. Das Leben bekam schon einmal Gelegenheit, sich ganz in diesem Sinne zu offenbaren: „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KGA VI 1, S. 144 ). – Nun trifft der Begriff des Über-sich-hinausgehens das Eigentümliche des Lebens ganz gewiß noch nicht hinlänglich. Dazu fällt er viel zu weit aus. Er trifft zu, aber er trifft noch nicht die in Frage stehende Eigentümlichkeit. Er bedarf der Konkretisierung.

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Kosmos und Welt – differente Räume

Kosmos bedeutet urtümlich Schmuck und im übertragenen Sinne Wohlgeordnetheit, schließlich auch Himmelsschmuck. Desgleichen das lateinische Wort mundus. Beide Ausdrücke werden vom wissenschaftlichen und philosophischen Denken mit der metaphorischen Bedeutung Himmelsschmuck aufgelesen. Alexander von Humboldt meinte belegen zu können, „daß Pythagoras zuerst den Inbegriff des Universums Kosmos nannte wegen der darin herrschenden Ordnung.“ (Kosmos, Ffm. 2004, S. 33). Danach meint der Begriff des Kosmos nicht das Universum schlechthin und überhaupt, sondern das wohlgeordnete Universum. Analog der Begriff mundus. In dieser alten und eiigentlichen Prägung die Begriffe Kosmos und mundus mit den Begriffen der Welt oder des Weltalls ins Deutsche übertragen zu wollen, ist riskant, ja genau genommen falsch. Eine mustergültige Ausführung des alten Kosmosbegriffs bietet die Schrift Über den Kosmos von Pseydo-Aristoteles. Weil das All von einer aus Gegensätzen gebildeten Harmone durchzogen wird, heißt es dort, deshalb und nur deshalb trägt das All in Wahrheit den Namen Kosmos, schmuckvolle Ordnung, und nicht etwa den Namen Akosmia, Unordnung (VI, 399a).

Es gibt eine eigentümliche Räumlichkeit des Kosmos. Es handelt sich dabei um eine gewisse Gestalt, eine gewisse Auslegung oder verwandelte Form der Gegebenheit in extensio. Um eine typische Weise, wie das Wohlgeordnete als solches dem Menschen gegeben ist. Es ist ein bestimmtes Konfiguriertsein, ein bestimmter Zusammenhang des Menschen mit allem anderen, was das Universum zum Kosmos macht. Kurz gesagt, ist es dies: Als ein kosmisches, wohlgeordnetes kann das Universum weder objektiv noch subjektiv, sondern nur   schlechthin vorausgesetzt sein. Was meint das: vorausgesetzt? Die Wohlordnung ist als solche vollkommen und vollendet. Mithin auch endlich. Was seinen angemessenen Ausdruck darin fand, daß in der antiken Kosmosmetaphysik und der mittelalterlichen Ordometaphysik die Annahme der Endlichkeit des kosmischen Raumes bei weitem überwog und gegenteilige Annahmen eher als abweichende kursierten. Als eine endliche und vor allem vollendete, vollkommene Ordnung kann die typisch kosmische Wohlordnung niemals zum Objekt von Subjekten geraten, es sei denn im Frevel an ihr. An ihr gibt es nichts tätig zu verändern.

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Werden kraft Überfülle – Nietzsche

 Auch wenn die markanteste Idee von Plotin und Proklos in den mittelalterlichen Emanationslehren nicht wirklich eine Ausführung erfahren hat, die Lehren dieser beiden Denker wirken über die Jahrhunderte fort. Noch im 19. Jahrhundert werden sie als Stifter nicht zwangsläufig zustimmungsfähiger, aber doch origineller Ideen gehandelt. Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) bestellt sich eine besondere Ausgabe von Plotins einzigem Werk, den Enneaden; ihn interessiert vor allem die dort ausgebreitete Naturauffassung. Hegel sieht die beiden Häupter des Neuplatonismus auf dem Gipfel der antiken Philosophie thronen. Schopenhauer studiert sie und notiert, daß ihm deren Lehren allzu orientalisch inspiriert scheinen. Ob unter Zustimmung oder nicht, sie werden wahrgenommen im damaligen Zeitgeist, sind dort gleichsam lebendig. In dieser Atmosphäre unternimmt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zu der Zeit noch kaum bekannter Denker, gerade die Idee vom Hervorbringen vermittels der Überfülle an Kraft als einen Gedanken von grundsätzlicher Bedeutung wiederzubeleben und neu auszulegen. Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) läßt die Idee als Kernpunkt eines Prinzips wiederaufleben, das er das dionysische Prinzip nennt. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als um den einen Grundsatz, dem sich sein Philosophieren ein Leben lang verschreibt.

Bereits in seiner ersten Monographie „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ beginnt er damit, das dionysische Prinzip in der Unterscheidung von einem anderen Prinzip, dem apollinischen, zu profilieren. Das apollinische geht ideengeschichtlich auf den Mythos von Apollon zurück, das dionysische auf den Mythos von Dionysos. Beiden gemeinsam ist, daß es sich bei ihnen um Kunstgesinnungen handelt, um zwei Weisen des kunstvollen Handelns, Denkens, Fühlens. So jedenfalls zunächst.

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Negative Dialektik – Adorno

VON DER DIALEKTIK DER NEGATIVITÄT ZUR NEGATIVEN DIALEKTIK

Hegels Denkweise ist um das Prinzip der Negativität zentriert. In der geisteswissenschaftlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts wird dem Prinzip mehrfach widersprochen. Sigmund Freud (1856 – 1939) beispielsweise widersprach ihm mit seiner Entdeckung eines ganzen psychischen Kontinents – des Unbewußten, des Reichs der Triebe, des Es im Unterschied zum Ich und Über-Ich. Bei dieser Entdeckung stößt Freud auch auf einen Tatbestand, der jenem Prinzip entgegensteht. Das Prinzip unterstellt, daß ein jedes sein Negatives an sich hat. Während Freud findet, daß es im Unbewußten, im Es gar keine Negation gibt. Wie es dort auch keine Zeit geben soll. Im Es finde sich nichts, was der Negation vergleichbar wäre. Demzufolge will die Beziehung der beiden Grundtriebe aufeinander, die von Erostrieb und Destruktionstrieb, ohne den mindesten Gedanken an Negation verstanden werden. Ebenso kann demzufolge nicht länger unterstellt werden, alles habe sein Negatives an sich. Den unbewußten Trieben muß so etwas schlicht abgehen. Dialektik der Negativität muß dort eigentlich ausbleiben. Auf diese und ähnliche Weise hat das Prinzip der Negativität bereits seit längerem theoriegeschichtlich eine gewisse Relativierung erfahren, so auch durch Heinrich Rickert (1863 – 1936) oder Gilles Deleuze (1925 – 1995). Allerdings geschah das, ohne daß daraus jemand auch nur den Ansatz zu einer Neukonzipierung der Dialektik gewonnen hätte.

Das ändert sich, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Theodor W. Adorno (1903 – 1969) Hegels Begriff der Negativität einer kritischen Prüfung unterzieht. Er wird vermittels dieser Kritik versuchen, Dialektik anders als Hegel zu projektieren. Anlauf dazu nimmt er in mehreren Texten, von denen an dieser Stelle zumindest zwei Erwähnung finden müssen.

Der am meisten und am intensivsten gelesene, gedeutete und diskutierte Beitrag Adornos zum dialektischen Denken dürfte in dem gemeinsam mit Max Horkheimer (1895 – 1973) verfaßten Buch „Dialektik der Aufklärung“ bestehen. Den Denkformen nach zu urteilen, die dort Anwendung finden, zeigt sich dieses Buch nachhaltig inspiriert von der Verkehrungsdialektik, die Hegel in seiner „Phänomenologie“ betreibt und zu der er seinerseits schon die Anregung bei Jean Jacques Rousseau (1712 – 1787) vorfand, bei dessen Versuch zu zeigen wie „in unserem aufgeklärten Jahrhundert“ der Fortschritt der Wissenschaften und Künste sich in einen Verfall der Sitten verkehrt. Das Buch untersucht die „Selbstzerstörung der Aufklärung“: Unter Aufklärung wird dabei nicht lediglich eine literaturgeschichtliche Periode neben Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik verstanden, sondern ein weitläufiger historischer Prozeß, der bereits in der Antike anhebt. Dessen Selbstzerstörung wird thematisiert. Die Betonung liegt dabei auf das „Selbst“ in Selbstzerstörung“. Es wird nachgezeichnet, wie sich fortschreitende Aufklärung kraft ihres eigenen Prinzips und ihrer eigens entwickelten Institutionen zu jenem gesellschaftlichen Rückschritt verkehren konnte, der zur Zeit der Niederschrift vor allem als „internationale Drohung des Faschismus“ fühlbar war. An Hegels Verkehrungsdialektik erinnert besonders eine Einsicht Adornos. Was den historischen Prozeß der Aufklärung sich verkehren, was ihn buchstäblich pervertieren läßt, ist nicht ein gewisser Kreis von äußeren Umständen und auch nicht ein übermäßiges Betreiben, sondern sein eigenes Prinzip. Und sein Prinzip bilde die um des Menschen Herrschaft über die Natur zentrierte Freiheit. Die sorge dafür, daß ausgerechnet die Aufklärung in Mythos zurückschlägt. Der Mechanismus soll ungefähr der sein: Um der Selbsterhaltung willen und der dazu angestrengten Herrschaft über die Natur zuliebe, muß der rastlos sich aufklärende Mensch schließlich auch die eigene, innere, menschliche Natur beherrschen, unterdrücken, auflösen, und also gerade das angreifen, was eigentlich erhalten werden sollte. Mit solchen Überlegungen hält die „Dialektik der Aufklärung“ eine der besonders beeindruckenden Figuren lebendig, die Hegel in der „Phänomenologie“ ausführt. – In dem Buch „Minima Moralia“, das manche für das eigentliche Hauptwerk Adornos halten, weist er seine Methode noch ausdrücklich als eine an der Hegelschen geschulte aus; gleichwohl dieser die Methode auf dem Spannungsfeld Individuum-Gesellschaft nicht wahrhaft ausgetragen habe.

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Substanz

Der Gebrauch des Begriffs „Substanz“ folgt zwei verschiedenen Übersetzungstraditionen. Der einen Tradition zufolge bildet „Substanz“ bzw. die (von dem  römischen Rhetoriker Quintilian geschaffene) lateinische Vorgängerlautung „substantia“ direkt das Pendant zu dem griechischen  Wort „ousia“, das vor allem Aristoteles ausführlich expliziert hat, insbesondere in seiner Kategorienschrift und Metaphysik. „Substantia“ = „ousia“, unter dieser Voraussetzung werden dann alle Aussagen, die Aristoteles unter dem  Begriff „ousia“ versammelt hat, als Bestimmungen der Substanz gelesen, gedeutet und gedacht. Nun soll „ousia“ auch soviel wie Wesen bedeuten. Als die eigentliche Entsprechung für den griechischen Ausdruck „ousia“ unterstellt,  wird  darum der Begriff der Substanz in dieser Tradition weithin ungeschiedenen  von dem des Wesens verwandt. – Es gibt noch eine andere Tradition. Deren Ansatz findet  sich ausformuliert spätestens in des Thomas von Aquin Erstlingswerk  „Über das Seiende und das Wesen“.  Danach gilt es, „substantia“ wohlweislich zu scheiden von „essentia“ („Wesen“), von einer  Begriffsbildung also, die auf Cicero zurückgehen soll; Seneca benennt ihn als „Urheber“.[1] Und dem  griechischen Wort „ousia“ entspreche auf seiten des Lateinischen gerade nicht „substantia“, sondern „essentia“. „Usia ist … bei den Griechen dasselbe wie bei uns essentia“, bescheidet Thomas.[2] „Ousia“ = „essentia“, unter dieser Voraussetzung können dann all die Aussagen, die Aristoteles an den markierten Textstellen mit dem Begriff „ousia“ notwendig verknüpft hat, natürlich nicht unbedingt wie Bestimmungen der Substanz gelesen, zunächst einmal können sie nur als Bestimmungen von „essentia“, von „Wesen“ gedeutet werden.  Die Substanz-Begrifflichkeit bietet sich  in dieser zweiten Traditionslinie weniger wie eine Auslegung antik griechischer Texte als vielmehr wie eine eigenständige Schöpfung des lateinischen Philosophierens dar.

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Neuplatonische Dialektik

EIGENSTÄNDIGER ANSATZ – PLOTIN

Die spätantike Schule des sogenannten Neuplatonismus entwickelt eine eigenständige Idee zur Dialektik. Der Grieche Plotin (ca. 205 – ca. 270), auf den die Schulbildung zurückgeht, kreiert den Ansatz dazu. Er selbst meint, die platonische Dialektik mehr fortgeschrieben und ausgeführt als erneuert und verändert zu haben. Aber das ist allzu bescheiden gesagt.

Wie Platon versteht er zunächst unter Dialektik eine Form des Erkennens. Ähnlich wie dieser versteht er darunter das betont begriffliche Erkennen (Plotin, Enn. I 3, 4. ). Aber während Platon das der Form nach begriffliche Erkennen inhaltlich vordergründig als ein Denken in Gegensätzen und Widersprüchen auslegt, gibt Plotin ihm einen anderen und doch nicht minder dialektischen Inhalt.

Im Kern besteht der in einer besonderen Weise der Bewegung. Auf die stößt Plotin bei einem Versuch von kosmologischer Dimension. Er sucht die Genese des Kosmos zu begreifen. Daß alles aus Einem hervorgehen muß, ist ihm bereits gewiß. Alles geht aus etwas hervor, über das er durchaus in Erinnerung an jenes Eine spricht, das Platon vor allem im Dialog „Parmenides“ thematisiert hatte, und das er seinerseits in mancherlei Hinsicht anders hantiert als dieser. Dieses Eine übersteige alle Vorstellungskraft, mache weder ein diffuses Einerlei noch eine Leere aus, bilde weder einen Geist noch einen Gegenstand der Vernunft, sei vielmehr das „Übervernünftige“. Vor allem soll es jenseits aller Gegensätzlichkeit bestehen und wirklich einfach ausfallen. Wenn überhaupt, so kann das Vielgestaltige, das sich zum Universum ausgebreitet und hierarchisch gefügt hat, nur aus diesem Einen hervorgegangen sein. Aber wie? Wie kann ausgerechnet aus dem Einfachen all das Viele entstanden sein? Plotins Antwort: Indem jenes Eine, unbeschadet seiner Einfachheit, doch „von einer vollkommenen Fülle ist – es sucht ja nichts, hat nichts, braucht nichts – so ist es einfach übergeflossen, und seine Überfülle hat das Andere hervorgebracht.“ (Enn. V 2, 1.) 

Das ist die Skizze der besonderen dialektischen Bewegungsweise, die Plotin und seine Schüler zu denken beginnen. Das Viele entsteht, indem es vom Einen hergebracht wird. Das Eine besteht jenseits aller Gegensätzlichkeit; statt daß es das Viele vermittels einer ihm anhaftenden Gegensätzlichkeit hervorzubringen vermag, bringt es dieses kraft seiner Überfülle hervor. Es schießt über, strömt über zum Vielen.

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Kraft und Materie

 Aristoteles versucht ein Phänomen metaphysisch auszuzeichnen und zu begreifen, das er durchgängig „hyle“ nennt. Urtümlich bedeutet das griechische Wort „hyle“ auch Nutzholz. Mit dieser Ausgangsbedeutung konnte es – in einem übertragenen Sinne – etwas viel Umfassenderes als Nutzholz bezeichnen. Cum grano salis konnte es dasjenige bedeuten, aus  dem etwas durch kraftvolles Formieren entsteht und aus dem es dann in bestimmter Form besteht. Das Material also, Stoff.  Das „hyle“ genannte Material charakterisiert Aristoteles sodann als „aeides kai amorphon“[1], das heißt als träge und formlos. Und Trägheit denkt er in eins mit Kraftlosigkeit. Der Stoff, das Material sei kraftlos. Diese Bestimmung kommt durchaus folgerichtig. Soweit etwas als bloßes Material genommen, lediglich als ein der kraftvollen Formung harrender Stoff betrachtet wird, scheint es in der Tat kraftlos.

Die lateinische Philosophie überträgt den vorgefundenen  Ausdruck „hyle“ bekanntlich mit „materia“. Ein Wort, das urtümlich gleichfalls unter anderem Nutzholz bedeutet. Wie sein griechisches Pendant vermag es – im übertragenen Sinne –  das Material zu meinen. Es ist nun interessant zu sehen, wie erst  Albertus Magnus und dann  Thomas von Aquin dem Material etwas zuschreiben, das die Möglichkeiten bloßen Materials und Stoffs bei weitem überschreitet. So erblickt  Thomas in   ihm das „principium individuationis“[2]. Ein ganz ähnlich anmutender Gedanke von Aristoteles hatte bereits dessen Zeitgenossen und frühe Interpreten irritiert.   Obendrein macht Thomas am Material ein „esse per creationem“[3] aus. Was aber das Prinzip der Individuation hergeben und ein Sein per Kreation aufweisen soll, kann eigentlich nicht mehr als kraftlos gelten.

Das neuzeitliche Philosophieren macht es schließlich offenbar: Dasjenige, was in der aristotelischen Tradition lediglich als Stoff genommen wird,  an dem nichts weiter wahrgenommen wird, als daß es zum Material eines kraftvollen Formierens taugt, ist in Wahrheit entschieden mehr als dies. Wohl figuriert es als Material, von wem oder was auch immer, zugleich und zuvor noch aber  macht es etwas anderes  aus als dies. Im Horizont solcher Wahrnehmung bildet sich ein moderner Begriff der Materie aus.

In der Philosophie von Leibniz findet er sich weitgehend ausgebildet.  Erstens. Die Materie ist per se kraftvoll. Zweitens. Materie gibt es nur als Materien, und innerhalb der Vielheit der Materien nimmt die Kraft eine eigentümliche Gestalt an – die Gestalt einer wechselseitigen Kraft, die Gestalt eines Gegensatzes von aktiver und passiver Kraft. Aktivität und Passivität oder, wie Leibniz voreilig formuliert,  „Tätigsein und Leiden“ sind „bei den Geschöpfen wechselseitig … und folglich ist, was sich in bestimmter Hinsicht als aktiv erweist, von einem anderen Gesichtspunkt aus passiv: Es ist aktiv insofern, als das, was man deutlich an ihm erkennt, den Grund dafür abgibt, was sich in einem andern ereignet; und es ist insofern passiv, als der Grund dessen, was sich in ihm ereignet, sich in dem findet, was sich deutlich in einem anderen erkennen läßt.“[4] Drittens.  In der  Trägheit, die ehedem mit Kraftlosigkeit in eins gedacht wurde, erkennt Leibniz vielmehr eine ganz besondere Kraft der Materie. Trägheit und  Undurchdringlichkeit führt er auf eine „allgemeine passive Kraft des Widerstandes“ zurück, durch welche sich die Materie der Bewegung widersetzt. Und diese passive Kraft ist ihrerseits unzertrennlich von einer aktiven Kraft der Materie, von dem Vermögen zur Bewegung.[5]

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Marxsche Dialektik

Ideengeschichtlich stellt die Hermeneutik den ersten gelingenden Versuch dar, aus einer kritischen Wendung gegen Hegels Philosophie heraus zu einer eigenständigen Neukonzipierung von Dialektik zu gelangen. Den nächsten und ungleich wirkungsmächtigeren Vorstoß unternimmt Karl Marx (1818 – 1883).

Entgegen einer verbreiteten Annahme hat Marx sich direkt zum Thema „Dialektik“ recht selten in nachlesbarer Weise geäußert, und wenn, so stellt er die seinige Auffassung als eine Methode, eine Denkweise, eine Forschungsweise dar, niemals als eine Theorie, die so etwas wie Grundgesetze der Dialektik sortiert und dialektischer Materialismus heiße, geschweige denn als eine Weltanschauung.

In Marx Selbstverständnis ist seine dialektische Methode von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr „direktes Gegenteil“. Ihr direktes Gegenteil soll sie der ontologischen, erkenntnistheoretischen Grundlage nach bilden. Für Hegel sei der Denkprozeß, den er unter dem Namen „Idee“ sogar in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, der Baumeister aller Wirklichkeit. Man erinnert sich, wie er in seiner Logik, die Kategorienfolge innerhalb des unendlichen Geistes zur absoluten Idee zusammenfaßt und diese Idee im Vollzug der Schöpfung zur natürlichen Wirklichkeit sich realisieren sieht. Dagegen für ihn, Marx, das Ideelle nichts anderes als das im Bewußtsein umgesetzte Materielle ausmacht. Selbsteinschätzungen wie diese haben dazu Anlaß gegeben, Dialektik à la Marx als die materialistische – im Unterschied zur idealistischen Dialektik Hegels – zu verorten. Das Dialektische daran, die typisch dialektischen Figuren, die Marx auch die „allgemeinen Bewegungsformen“ der Dialektik nennt – also Widerspruch, Negation der Negation, Entwicklung als aufsteigende Selbstbewegung kraft innerer Widersprüche und dergleichen – habe Hegel bereits in umfassender und bewußter Weise dargestellt. Nur daß sie bei ihm gleichsam auf dem Kopf stehen und darum gewissermaßen „umgestülpt“ und auf die Füße gestellt werden müssen. Wie dieser Kraftakt nun eine eigenständige dialektische Methode hergibt, läßt sich erst an ihrer Anwendung, Ausführung ersehen. So soll es auch an dieser Stelle geschehen.

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Eine Unzertrennlichkeit von Tugend und Schlechtigkeit, die sich dem üblichen moralischen Gebieten sperrt

Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll”. Seine heutigen Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute” vorstellen. Dieses Gebieten stellt eine Handlungsorientierung dar. Es bedeutet mehr als nur das Bewerten von etwas als tugendhaft oder lasterhaft bzw. als gut oder böse und dergleichen. Es verlängert das differente Bewerten zur differenten Handlungsaufforderung: Das als gut bewertete gelte es zu tun, das als schlecht beurteilte gelte es zu unterlassen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz”, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß”, hier auf Erden jedenfalls. Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zum Lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zum Hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zum Hassen nicht ausrotten wollen kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden.

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