Es ist üblich, sagt Platon, moralisch zu postulieren, „daß man die Schlechtigkeit meiden und der Tugend nachstreben soll”. Seine heutigen Leser dürfen sich dabei als Muster den Psalm „Meide das Böse und tue das Gute” vorstellen. Dieses Gebieten stellt eine Handlungsorientierung dar. Es bedeutet mehr als nur das Bewerten von etwas als tugendhaft oder lasterhaft bzw. als gut oder böse und dergleichen. Es verlängert das differente Bewerten zur differenten Handlungsaufforderung: Das als gut bewertete gelte es zu tun, das als schlecht beurteilte gelte es zu unterlassen. Solches Gebieten, sagt Platon weiter, ist „der alten Weiber Geschwätz”, eine Torheit sozusagen, ein Geplapper, das man weder eigentlich noch uneigentlich ernst nehmen kann. Warum nicht? Weil „es immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben muß”, hier auf Erden jedenfalls. Hienieden seien Güte und Schlechtigkeit so unzertrennlich, meint er, daß man die Schlechtigkeit nur austilgen könnte, indem man zusammen mit ihr auch die Güte angreift. Die Fähigkeit zum Lieben zum Beispiel ist von der Fähigkeit zum Hassen ähnlich unzertrennlich wie der Schatten vom Licht, weshalb man die Fähigkeit zum Hassen nicht ausrotten wollen kann, ohne unterderhand die Liebesfähigkeit anzugreifen. Was doch unsinnig wäre. Worauf aber das übliche Postulieren hinauslaufe, indem es etwas gebietet, das davon Unzertrennliche aber verbietet, so daß etwas Unzertrennliches getrennt, zum Tun und Lassen getrennt werden soll. Eben darum verdiene jenes Gebieten, als Geschwätz abgetan zu werden.
Das Selbst, das noch nicht Subjekt ist
Was ist ein Subjekt? Das Selbst als Substanz und die Substanz als Selbst; das Selbst, das zugleich Substanz wird. Genau dies wird und ist das stoische Selbst noch nicht. Die Seele, als welche das stoische Selbst sich vornehmlich versteht, besteht nicht substantiell, sondern an etwas. Denn sie ist ein „Stück”, ein „Teil” Gottes, wie Epiktet sagt (Unterredungen, I 14), ist direkt ein göttliches Wesen, das jedem Einzelnen von eben diesem Wesen zufloß, wie es bei Marc Aurel heißt (Wege zu sich selbst, XII 26). Nachdem Seneca in der Vernunft den „besten Teil seines Selbst“ ausgemacht hat, versichert er von diesem Teil des Selbst, nichts anderes zu sein „als ein in den menschlichen Körper gesenkter Teil des göttlichen Geistes” (Ad Lucilium 66, 12) . So findet sich das stoische Selbst quasi pantheistisch eingebettet, es besteht an etwas statt eigenständig, und derart eingebettet kann es folgerichtig beschwören, wie nahtlos doch Selbstliebe und Kosmosverehrung, Selbstliebe und Gottesliebe zusammenfallen, wie bruchlos ein Leben nach sich selbst und die inbrünstige Einfügung in die kosmische Wohlordnung zusammenstimmen.
Abb.: Andreas Jaeggi, Das Objekt / Subjekt
Zur Kritik der Kritik am Vitalismus
Vitalisten sehen das Leben an eine ihm eigentümliche Kraft wie an eine notwendige Bedingung gebunden. An eine eigentümliche Kraft – das heißt, an eine auf Energie, auf physikochemische Kraft nicht reduzierbare. Ältere Vitalisten nannten sie „vis vitalis”. Eine Bezeichnung, die der aufgeklärten Naturwissenschaft auf immer suspekt bleiben mußte, war sie doch der Alchemie entlehnt. Jüngere Vitalisten, auch Neovitalisten genannt, gaben die dubiose Anleihe auf und suchten jene eigentümliche Kraft philosophisch zu begreifen. Der Naturphilosoph Hans Driesch begriff sie als Entelechie, worunter er ganz aristotelisch das verstand, was sein Ziel in sich trägt.[1] Henri Bergson brachte sie auf den Begriff „élan vital”.[2] Jahrzehnte zuvor hatte Eduard von Hartmann sie schlicht als Lebenskraft gefaßt.[3] Die Fügung der Worte „Leben” und „Kraft” zu „Lebenskraft” soll ein gewisser Casimir Medicus 1875 in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt haben. Sie steht keineswegs synonym zu dem alchimistischen Ausdruck „vis vitalis”. Letzterer Ausdruck meint genau genommen eine Leben stiftende, Leben gebende und in diesem Sinne belebende Kraft. Also eine hinreichende Kraft. Während „Lebenskraft (vitalitas, Vitalität)” die Kraft des Lebenden meint, die für sein Leben notwendig ausbedungen ist. In diesem Sinne will auch ich von Lebenskraft sprechen. Sie läßt sich nicht mehr auf Energie, auf physikomechanische Kraft reduzieren, gleichwohl sie sich auch aus Energien nährt.
Physikalische Zeitauffassung
Es mag verwundern, wenn hier die physikalischen Zeitanschauungen darauf befragt werden sollen, womit genau sie befaßt sind, was eigentlich ihren Gegenstand bildet, aber die Frage stellt sich allen Ernstes. Sie erhebt sich bereits angesichts auffälliger Themen und Titel, unter denen solche Anschauungen gelegentlich vorgetragen werden. Vor Jahren hat Stephen W. Hawking „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (Reinbek b. Hamburg 1988) veröffentlicht, ein Buch, das erklärtermaßen eine Sache verhandelt, die eine Geschichte habe. Die Zeit soll das sein. Indes, unter den Gegenständen, die eine Geschichte haben, die mit anderen Worten die Zeit genuin historisch ausfüllen und diesen Sinnes eine Zeit haben, ihre Zeit haben, wird man nach der Zeit selbst garantiert umsonst fahnden. Eine Geschichte hat der Raum. Die Verräumlichung gehört zu den Urereignissen des Alls – nicht nur, daß Ereignisse zumeist im Raum geschehen, schon die Verräumlichung stellt ein Ereignis dar – und Ereignisse dürfen grundsätzlich für geschichtsfähig gehalten werden. Die Verräumlichung kennt zudem kulturgeschichtliche Passagen. Es gibt kulturgeschichtlich differente Räume, namentlich der Kosmos (der Wohlgeordnetheit) einerseits und das Weltall, das total verweltlichte All andererseits stehen dafür. Der Raum also empfiehlt sich geradezu der historischen Narration. Dagegen die Zeit, ihr kann man eine Geschichte nur um den Preis eklatanter Inkohärenz anhängen. Ich brauche mich auf die vielen Geschichtsauffassungen, die umgehen, nicht im einzelnen einzulassen, um daran erinnern zu dürfen, daß sie allesamt unter Geschichte ausdrücklich oder stillschweigend eine auf spezifisch historische Weise ausgefüllte und erfüllte Zeit verstehen, eine typisch historische Art, die Zeit auszufüllen, wie immer sie das originär Historische daran definieren mögen. Eine außerhalb der Zeit stehende Geschichte behauptet niemand. Die Geschichte der Zeit erzählen zu wollen, hieße demnach, ein ganz merkwürdiges Vorhaben zu projektieren. Es hieße, zur Darstellungen bringen zu müssen, wie die Zeit, die alles andere als ein Ereignis ausmacht, in der vielmehr ausnahmslos alle Ereignisse geschehen, nichtsdestotrotz noch eine historische Ereignisfolge bilden könne, wie also die Zeit sich selbst historisch ausfüllen soll, wie ausgerechnet sie, die von allem Datieren immer schon vorausgesetzt wird, ihrerseits noch historisch datierbar sein und gleich einer geschichtsträchtigen Ereignisfolge eine Frühzeit, Hochzeit, Spätzeit durchlaufen soll. Um spätestens beim Ziehen solcher Konsequenzen jener Iteration zu verfallen, jener Unterstellung einer in der Zeit geschehenden Zeit zum Opfer zu fallen, die kohärentes Denken scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wer eine Geschichte der Zeit zu schreiben sucht, schreibt mit Sicherheit keine Geschichte der Zeit. Wieder anders liegen die Dinge bei der sogenannten Kalender- und Uhrzeit, die hat unbedingt eine Geschichte, eine Kulturgeschichte. Sie kann die aber doch nur haben, weil sie wie das Zeitigen insgesamt mit der Zeit differiert. Von der mit dem Zeitigen unverwechselbaren Zeit hingegen vermag niemand eine wenigstens im Tenor schlüssige historische Erzählung zu fabulieren. Auch Hawking hat sie nicht geschrieben. So manche wissenschaftliche Wahrheit versammelt sein Text, offensichtlich aber zu einem anderen Thema. Fragt sich, worüber jemand eigentlich schreibt, der ein Ding der Unmöglichkeit zu vollbringen, eine Geschichte der Zeit zu verfassen vorgibt und doch unterm falschen Titel viel Wahres mitzuteilen weiß. Gern will ich in Rechnung stellen, daß es sich bei seinem Werk um ein modernes Sachbuch handelt, dessen Titel nicht allein wissenschaftlichen Kriterien genügen möchte, aber wende ich darauf meine Aufmerksamkeit ganz dem Inhalt physikalischer Zeitanschauungen zu, stellt sich eher nachdrücklicher noch die Frage, was eigentlich ihren Gegenstand bilde.
Die Verkehrung
Im Allgemeinen folgen bei Hegels Dialektik die Übergänge dem Prinzip der Negativität, dem zufolge ein Jedes sein Negatives mit sich führt, kraft dessen es über sich hinausweist, hin zu komplexeren Gestalten des Geistes. Beim Nachvollzug der aufsteigenden Bewegung des menschlichen Geistes trifft man auf eine Besonderheit, die das Prinzip der Negativität dort annimmt.
Hegel nennt sie zumeist „die Verkehrung“, gelegentlich auch „das Umschlagen“. Gemeint ist stets eine Verkehrung ins Gegenteil oder Entgegengesetzte, ein Umschlagen in den Kehrwert. So verkehrt sich etwa die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks in das Gegenteil des Bezweckten. Nicht das Verfehlen des Zwecks, nicht sein Aufgeben oder bloß halbherziges Verfolgen, sondern seine intensivste und gelingende Verwirklichung schlägt dann in ein Ergebnis um, das dem Zweck entgegensteht, ihm sozusagen direkt ins Gesicht schlägt. Und es soll die Erfahrung dieser Verkehrung sein, was den fraglichen Übergang zu einer höheren Gestalt des Geistes einleitet.
Auf einer bestimmten Stufe der Geschichte des menschlichen Geistes sucht das prototypische Individuum, das mittlerweile zur tätigen Vernunft gekommen ist, nach seinem Zweck. Nicht nach diesem oder jenem Zweck in der einen oder anderen Situation, sondern nach dem Zweck seiner Lebenstätigkeit. Auf Anhieb sucht es diesen Zweck in der rein individuellen Lust. Lust verheißt die individuelle Selbstverwirklichung, die Verwirklichung seiner selbst in etwas Anderem. Indem nun die Verwirklichung seiner selbst im Anderen gelingt und genossen werden kann, widerfährt ihm eine Verkehrung. Durch die Verwirklichung seiner Individualität im Anderen hat es dieselbe gewissermaßen verdoppelt, dadurch aber ist das keine Individualität mehr, sondern das Gemeinsame eines Vielfachen, etwas Allgemeines. Die Verwirklichung seiner Individualität hat sich zu deren Aufhebung verkehrt. Das ganze Geschehen hinterläßt überdies anstelle eines lebendigen, begehrenden Daseins des Individuums einen bloßen Zusammenhang der Übereinstimmung und des Unterschiedes zwischen dem einen und dem anderen. Dieser durchaus abstrakte Zusammenhang aber macht nicht nur nichts Individuelles mehr aus, er stellt genau genommen nicht einmal etwas Lebendiges, Vitales dar. Die Verkehrung eines lebendigen Daseins in einen leblosen notwendigen Zusammenhang. Das Individuum erfährt die Verkehrung als Ausdruck der Beschränktheit des von ihm auf Anhieb gewählten Zwecks. Angesichts dessen lernt es, sich einen höheren Zweck zu setzen. Auf diese Weise vollzieht sich einer der erfragten Übergänge von Gestalt zu Gestalt des menschlichen Geistes.
Leib und Seele – Hegel
Leib und Seele sind unterschieden, das versteht sich. Mindestens ebenso versteht sich, jedenfalls für Hegel, wie sehr der Unterschied die Identität an sich haben muß, und also Leib und Seele eine Einheit bilden werden. Für die Einheit oder Identität beider macht er nun folgendes geltend: Man dürfe sie nicht wie einen „bloßen Zusammenhang auffassen, sondern in tieferer Weise“. Worin besteht die tiefere Auffassung, die Leib und Seele nicht einfach zusammenhängen läßt? Beide seien zwar unterschieden, aber doch nicht wie „Unterschiedene, welche zusammenkommen“, vielmehr würden sie „dieselbe Totalität derselben Bestimmungen“ bilden. Gewissermaßen dieselbe Totalität in unterschiedlichen Hinsichten, Weisen. Die Seele sei diese Totalität „als in sich subjektive ideelle Einheit“ und der Leib dieselbe Totalität als „die Auslegung und das sinnliche Außereinander aller besonderen Seiten“. Mit anderen Worten, die Seele ist auf eingefaltete Weise das, was der Leib auf auseinanderlegende Weise ausmacht. Mit abermals anderen Worten. Die Seele ist ganz raumlos und rein zeitlich dasjenige, was der Leib räumlich ausgebreitet ausmacht. – Hierbei handelt es sich um eine Position, die doch einigermaßen anders ausfällt als jene Auffassungen, die Hegel ideengeschichtlich bereits vorgefunden hatte. Um das im direkten Vergleich zu verdeutlichen.
Nach Aristoteles stehen Leib und Seele wie Materie und Form zueinander, der Leib als Materie, die Seele als Form. Das heißt auch, daß die Seele „weder ohne Körper noch ein Körper“ ist, sondern „etwas am Körper“– nämlich als Form an der Materie. Die Seele als etwas am Leibe. Das wird noch Nietzsche als eine zwischenzeitlich verschütt gegangene weise Einsicht herauskehren: „Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“. Ideengeschichtlich bedeutsam geworden ist noch die umgekehrte Zuordnung von Leib und Seele. Sie findet sich in Überlegungen, die Leibniz während einer bestimmten Schaffensperiode angestellt hat. Danach ist die Seele eine Substanz, d. h. etwas, was von selbst zu bestehen vermag, statt nur an etwas anderem bestehen zu können. Dagegen der Leib „keine Substanz, sondern ein Phänomen“ sei, etwas rein Erscheinendes, das einzig und allein in der Perzeption der Seele, in ihrem Empfinden auftaucht. Als dieses Phänomen aber ist der Leib ein Etwas an der Seele. Das ist die im Vergleich mit der aristotelischen Auffassung genau umgekehrte Zuordnung: der Leib als etwas an der Seele. Von der einen wie der anderen Zuordnung hebt sich die hegelsche Position ab. Weder sei der Leib ein Etwas an der Seele noch die Seele ein Etwas am Leibe, sondern beide machen eben „dieselbe Totalität“ aus, und das heißt, sie sind gleich statuiert.
Pöbel oben, Pöbel unten
Noch im 18. Jahrhundert war Pöbel der Name eines Standes, die umgangssprachliche Bezeichnung des untersten Standes in der spätfeudalen Ständeordnung. Offiziell hieß dieser Stand ordo plebejus. Der bekannte Sozialhistoriker Werner Conze hat in seinem Buch Vom Pöbel zum Proletariat den ordo plebejus ausführlich beschrieben. Es muß sich um eine Gruppe von Menschen mit geradezu viehischer Lebenslage gehandelt haben. Hegel gibt die neapolitanischen Lazzaroni als Prototyp an. Der viehischen Lebenslage soll eine außergewöhnlich brutale, rohe, stumpfsinnige Mentalität entsprochen haben. Herder spricht von extraordinärer Pöbelniederträchtigkeit, Lavater von blutgierschwangerer Pöbelwuth.
Der Pöbelstand verschwindet beim Übergang zum industriellen Kapitalismus, die Rede vom Pöbel aber bleibt. Mehr noch, erst jetzt bricht unter deutschen Intellektuellen ein gewisser Pöbeldiskurs aus. Dieser Diskurs sieht seinen Referenten eine überraschend kommende Wandlung durchlaufen. Man sieht den Pöbel plötzlich an Orten auftauchen, wo ihn seine Sozialgeschichte gar nicht vermuten läßt. Man findet ihn an Universitäten, bei Hofe, in der sogenannten besseren Gesellschaft. Kant beklagt sich an einer Stelle über den Pöbel der Vernünftler. Mit den Vernünftlern waren offenkundig Berufskollegen gemeint, Fachphilosophen, Lehrstuhlinhaber. Der Pöbel der Vernünftler muß sich mitten unter den Akademikern aufgehalten haben. Einige Jahre später beschreibt Geheimrat von Goethe, wie sich bei Hofe der pöbelhafte Hofmann breitmacht und vordrängelt. Der Pöbel nun auch als eine Sorte von Obrigkeit. Abermals einige Jahre später geht Heinrich Heine so weit, einen anderen prominenten Literaten seiner Zeit, Ludwig Börne, zum Pöbelmann zu erklären. Man bedenke, ein promovierter Lateiner, aus gutem Hause, betucht, wohlriechend, mit artigen Manieren, und nichtsdestotrotz eine solche Ausgeburt. All dies sollte besser nicht als salopper oder gar nachlässiger Umgang mit dem provokanten Begriff abgetan werden. Es will vielmehr als deutliches Anzeichen eines Bedeutungswandels verstanden werden. Der Begriff des Pöbels muß aufgehört haben, eine fest umrissene soziale Gruppe zu meinen. Er muß vor allem aufgehört haben, ein soziales Unten, das Unten in einer sozialen Hierarchie zu meinen. Goethe unterscheidet sogar ausdrücklich zwischen dem unteren und dem oberen Pöbel. Nietzsche bringt das auf den Punkt, wo er einen freiwilligen Bettler im Gespräch mit Zarathustra ausrufen läßt: Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch ‚Arm‘ und ‚Reich‘! (KGA VI 1, S. 332). Der fragliche Typus soll unten wie oben heimisch sein, unter den Armen wie unter den Reichen. Folgerichtig angenommen werden kann das allerdings nur unter einer Voraussetzung: Der Pöbel muß dann kein sozialstruktureller Typus mehr sein, sein Begriff darf nicht mehr der soziologischen Terminologie angehören. Was aber ist er dann? Was meint das so bedingungslos verächtlich klingende Wort, wenn man es sogar Hochgebildeten, Obrigkeiten und Wohlhabenden um die Ohren hauen darf?
Gottes Mörder – frei nach Friedrich Nietzsche
Seit längerem ist Gott nun schon tot. Die Art, wie er ums Leben kam – er wurde ja ermordet – bewegt die Gemüter nicht mehr so heftig wie vor Jahren, aber amtlich wird noch immer nach dem Mörder gesucht. Man vermutet, er hält sich versteckt in einem grauenhaften Tal namens „Schlangentod“, wo es nur so wimmelt vor huschigem, züngelndem, schleimigem Getier gräßlichster Bildung. Dorthin begibt sich eines Tages Zarathustra. Es dauert nicht lange, bis er auf einen Menschen trifft, den man den allerhäßlichsten Menschen auf Erden nennt. Als er an ihn herantritt und die ganze abgründige Häßlichkeit zu sehen bekommt, wird er über die Maßen verlegen. Er müht sich sehr, die Verlegenheit zu verbergen, aber Schamröte verrät ihn. „Du brauchst deine Verlegenheit nicht zu verbergen“, sagt da der Unglückliche, „sie zeigt mir, daß Du mich ernst nimmst. Die Menschen in meiner Heimat nahmen mich niemals ernst. Jeder Mensch ist in seiner Art schön, sagten sie mir, ausgerechnet mir. Schönheit komme von innen. Innere Werte seien wichtiger als Aussehen. So wenig respektierten sie mich, daß sie mich mit Redensarten abspeisen wollten. Du dagegen scheinst anders zu sein. Wirklich anders.“ Mit seinen von grintigen und eitrigen Hautlappen umhängten Augen sieht er den Besucher prüfend an, um dann fortzufahren: „Deshalb verrat ich Dir mein Geheimnis.“ „Dein Geheimnis?“, fragt Zarathustra mit belegter Stimme, dumpf ahnend, was er gleich zu hören bekommen wird. „Ich war’s. Ich habe Gott umgebracht.“ Mehr ungläubig als entrüstet schaut Zarathustra den Geständigen an. War dem eine so gefährliche Tat wirklich zuzutrauen?
Die Abenteuer des Selbst – Hegel 3
Nachstehender Text liest sich am besten im Anschluß an den Eintrag vom 27. 12. 2012.
Hegel hat einen ausgeprägten Sinn für Fülle, für Fülle durch Mannigfaltigkeit. Er bescheidet sich nicht mit der Unterscheidung von Verstand und Vernunft, die ja folgerichtig lediglich einen Verstand und eine Vernunft hinterläßt. Vielmehr beschäftigt ihn die Vielfalt der Formen, die von der Vernunft geistesgeschichtlich durchlaufen werden: beobachtende Vernunft, gesetzgebende Vernunft, tätige Vernunft … Er definiert das Selbst – als das in sich Zurückgekehrte – mehr noch allerdings interessieren ihn die mannigfachen Typen oder Gestalten, in denen Selbstbewußtsein und Selbst unter Menschen ihr Wesen oder Unwesen treiben: das einfache Selbstbewußtsein kraft Anerkennung, das auf Leben und Tod kämpfende Selbstbewußtsein, das herrische und das knechtische Selbstbewußtsein; sodann ein stoisches, ein skeptisches und ein tief unglückliches christliches Selbstbewußtsein; ferner das Erste Selbst, das die Person im Rechtszustand ausmacht, das Zweite Selbst im Reich der Bildung und das Dritte Selbst, als welches das Gewissen in der moralischen Welt auftaucht.
Für Hegel bilden Gestalten, Formen, Typen wie die exemplarisch aufgelisteten eine Fülle von Phänomen, von Erscheinungsformen, und zwar die Fülle der Erscheinungsformen des Geistes, genauer gesagt eines endlichen Geistes, des menschlichen gewissermaßen. Und es soll sich dabei durchweg um solche Phänomene handeln, die untereinander in einem Entwicklungszusammenhang stehen. Das heißt, sie stehen zueinander als das geringer und das höher Entwickelte. An den äußersten Enden dieses Zusammenhangs befinden sich die einfache sinnliche Gewißheit einerseits und das hochkomplizierte absolute Wissen andererseits. Ferner heißt das, daß es jene Phänomene zumeist nicht schon immer gegeben hat, solange es Menschen gab. Meist entstehen sie erst unter gewissen Umständen, die zu gewissen Entwicklungsstufen gehören. Das Gewissen beispielsweise hat es unter Menschen nicht schon immer gegeben. Vor Sokrates, vermerkt Hegel an einer Stelle, kann von einem Gewissen, ausgestattet mit den berüchtigten Nattern des Gewissens, schwerlich die Rede sein. Die Geburt des Gewissens stellt sogar ein vergleichsweise spätes Ereignis in der moralischen Entwicklung dar, und das sowohl in der, sozusagen, stammesgeschichtlichen moralischen Entwicklung der Menschheit als auch innerhalb der moralischen Entwicklung des Individuums während seiner Ontogenese. Schließlich stehen besagte Phänomene auch noch derart in einem Entwicklungszusammenhang, daß sie auseinander hervorgehen bzw. daß jeweils das eine aus jeweils einem anderen hervorgeht. Und dies immer mit der Tendenz zu Phänomenen, die dem Begriff und Wesen des Geistes besser entsprechen als ihre Vorgänger, auf daß schlußendlich eine Erscheinungsform des Geistes auftaucht, die seinem Begriff in vollendeter Weise entspricht.
Von der Topik zur Rechthaberei – Schopenhauer
Unter dem Titel „Die Kunst, Recht zu behalten“ erscheint postum ein Text von Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) , der eine Art Streitlehre darbietet und erklärtermaßen seine Dialektik hergeben soll. Einleitend wird ausdrücklich Bezug genommen auf die Tradition der Topik und namentlich auf die einschlägige Schrift von Aristoteles, Man darf sagen, daß in der Jahrhunderte währenden Auslegung der topischen Dialektik durch mittelalterliche Autoren niemals so ausführlich auf die von Aristoteles ausgestellte Geburtsurkunde eingegangen wurde, wie das Schopenhauer in dem angegebenen Text tut. Allerdings macht er das in einer letztendlich kritischen und sich absetzenden Weise. Die Kritik gilt vor allem der Zwecksetzung, der Aristoteles seine Dialektik und Argumentationstheorie unterstellt. Ihr Zweck soll es sein, der streitbaren Wahrheitsfindung zu dienen. Dagegen stellt Schopenhauer, die Wahrheitsfindung könne höchsten der Zweck einer Logik, nicht aber einer Dialektik sein.
Die eigentliche Dialektik müsse völlig „unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist)“ vorgehen. Sie habe nicht mit dem Wahrsein und Falschsein von Aussagen zu schaffen, sondern damit, wie Aussagen im Streit als wahr bzw. als falsch geltend gemacht werden können. Und das mache einen ebenso feinen wie fundamentalen Unterschied. Was als wahr gilt und als wahr geltend gemacht wird, muß nicht unbedingt wahr sein. Die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage ist das eine, die Behauptungen, die über ihre Wahrheit oder Falschheit aufgestellt werden, etwas anderes. Man kann im Streit, so wird weiter argumentiert, eine Aussage widerlegen wollen, d. h. sie als falsch geltend zu machen versuchen, obschon sie tatsächlich wahr ist, ja obwohl man selbst weiß, wie sehr sie in der Tat wahr ausfällt. Ebenso kann man Aussagen gegen den Widerlegungsversuch eines Kontrahenten verteidigen wollen, d. h. sie als wahr geltend zu machen versuchen, obgleich sie tatsächlich falsch sind und man vielleicht sogar um ihr Falschsein weiß. Eine Streitlehre oder Argumentationstheorie aber, die den Titel „Dialektik“ verdient, habe sich gerade damit zu befassen, wie sich im Streit Aussagen als wahr oder falsch geltend machen, zur Geltung bringen lassen. Gewiß kommt es vor, daß die Aussagen, die als wahr zur Geltung gebracht werden sollen, auch tatsächlich wahr sind, wie es auch vorkommt, daß Aussagen, die als falsch geltend gemacht werden sollen, in der Tat falsch sind. Selbst dann aber muß eine Streitlehre, die zu Recht als Dialektik bezeichnet wird, ausschließlich dieses Geltendmachen zum Gegenstand haben. So Schopenhauer.