Sein, Nichts und Werden – Hegel 2

Nachstehende kurze Abhandlung liest man am bestem als Weiterführung eines Eintrags vom 16. Oktober 2012, der Hegels dialektische Methode nachvollzieht. Sie soll die Ausführung dieser Methode demonstrieren, anhand eines ausgewählten Kapitels der „Wissenschaft der Logik“. Es handelt sich um das erste. Pikanterweise ist das jenes Kapitel, in dem die Methode, genauer gesagt das Prinzip der Negativität, erst fundiert wird. Es spricht vom Sein, vom Nichts und vom Werden. Es tut das in acht Denkschritten, die sich in einer denkbar knapp gehaltenen Ableitung und mehreren Anmerkungen merkwürdig ausgebreitet finden.

1. Am Anfang war das Sein. Das Sein aber, das den Anfang jeglicher Entwicklung zu bilden vermag, das buchstäblich uranfängliche, muß ein schlechthin unmittelbares, rundum voraussetzungsloses ausmachen. Es muß allen besonderen Formen des Seins wie z. B. dem Dasein oder der menschlichen Existenz zuvorkommen. Es wird darum „reines Sein“ genannt. Ein Sein, für das sich kein einziges Bespiel und keinerlei Phänomen angeben läßt. – Am Anfang steht also das reine Sein. Eben dort setzt eine logische Bewegung ein, die schrittweise bis zur Kategorie des Werdens führt.

2. Reines Sein ist völlig unbestimmt. Als ein reines kann es unmöglich irgendeine Bestimmung haben. Ansonsten wäre es bereits irgendein bestimmtes, vermitteltes Sein und nicht das uranfängliche. So läßt es sich auch nicht definieren. Um dem Definieren zugänglich zu sein, müßte es eine Besonderheit in der Art des artbildenden Unterschieds aufweisen. Das tut reines Sein mitnichten. Es kann nicht einmal einfach sein, bestimmungsarm, es muß nachgerade bestimmungslos ausfallen.

3. Als etwas Bestimmungsloses weist das reine Sein Negativität auf. Seine Unbestimmtheit selbst ist das Negative. Reines Sein fällt sogar dermaßen radikal unbestimmt – und in diesem Sinne negativ – aus, daß es schon heißen muß, es sei nicht mehr und nicht weniger als Nichts. Weil „das Sein das Bestimmungslose ist, ist es nicht die Bestimmung, welche es ist, also nicht Sein, sondern Nichts.“ (Hegel, Ges. Werke, Bd. 11, S. 51).

4. Das Nichts ist dievollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit“. Jedenfalls das reine Nichts, das allen bestimmten Formen des Nichts – etwa dem Nichtsein, der Negation von Sein – genauso zuvorkommt, wie das reine Sein schon allem bestimmten Sein zuvorkommt. Es ist dieselbe Bestimmungslosigkeit, die bereits für reines Sein festzuhalten war. So sind beide dasselbe.

5. „Das reine Sein und das reine Nichts sind dasselbe.“ (S. 44). Ein Satz, den Hegel zu dem Härtesten zählt, was das Denken sich zumuten kann. Der Satz meint natürlich nicht, es wäre völlig gleichgültig, ob z. B. der Leser dieser Zeilen existiert oder nicht existiert. Bei des Lesers Existenz handelt es sich bereits um ein bestimmtes Sein, um menschliche Existenz, und für das bestimmte Sein kann, muß und darf nicht geltend gemacht werden, was allein dem reinen zukommt. Einzig vom reinen Sein gilt, daß es dasselbe wie das reine Nichts ausmacht.

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Gewissen – anders als der innere Gerichtshof

Kants Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof ist berühmt, sie bewegt sich aber nicht auf der Höhe seines Kategorischen Imperativs.

Ein Gericht urteilt und verurteilt nach einem Gesetz, das es nicht selbst gegeben hat. Bei der in modernen Gesellschaften üblichen Praxis jedenfalls ist das Gericht nicht zugleich Gesetzgeber. Der Gesetzgeber ist eine andere Institution. Insoweit wird das Gericht von Fremdgesetzgebung, von Heteronomie geprägt. Das gilt uneingeschränkt auch für den inneren Gerichtshof, den Kant das Gewissen nennt.

Anders beim Kategorischen Imperativ. Der soll Kant zufolge die sittliche Selbstgesetzgebung, Autonomie verbürgen. Indem wir unsere Handlungen daraufhin prüfen, welchen Maximen sie folgen, und die Maximen wiederum darauf befragen, ob wir sie gegebenenfalls zu allgemeinverbindlichen Gesetzen erheben könnten, agieren wir selbst als virtuelle Gesetzgeber. So beurteilen wir unsere Handlung nicht nach einem vorausgesetzten, fremdbestimmten Kriterium, sondern nach einem selbst gesetzten Maßstab. Die Maxime, von der wir selbst wollen könnten, daß sie unter Umständen auch als ein Gesetz für alle zur Geltung gebracht werde – das ist ein weitgehend von uns selbst bestimmter Maßstab.

Das ist auch der Punkt, weshalb ich meine, Kants Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof bewegt sich nicht auf der Höhe seines Kategorischen Imperativs. Dieser steht eher für Autonomie, für ein Urteilen über Handlungen, das seine Maßstäbe im gewissen Sinne durchaus selbst bestimmt. Jene Umschreibung des Gewissens als innerer Gerichtshof dagegen steht eher für Heteronomie, für ein Urteilen über Handlungen, das seine Maßstäbe, die Gesetze, gerade nicht selbst setzt, sondern von einem fremden Subjekt vorgesetzt bekommt. Es kann einfach nicht einleuchten, mit welchem Recht man das Gewissen, diese so subtile Instanz, weit unter dem Autonomieanspruch des Kategorischen Imperativs verorten will.

Gerade das Urteilen im Sinne des kategorischen Imperativs trägt doch den Charakter jener moralischen Vergewisserung, die der Begriff des Gewissens intuitiv assoziiert. Was verdiente mehr den Namen „Gewissen“ als ein Vorgang, bei dem das Individuum ganz auf sich selbst verwiesen ist, indem es sich nicht nur seiner Handlungen zu vergewissern hat, sondern sich auch noch der Beurteilungskriterien vergewissern muß?

Deshalb neige ich seit langem zu folgender Auffassung. Das gewissenhafte Verhalten läßt sich nicht einfach auf ein pflichtgemäßes Verhalten reduzieren. Das Gewissen muß letztendlich an moralische Autonomie gebunden werden, an ein Urteilen in der Weise des kategorischen Imperativs. Zumindest muß das für ein vollentwickeltes Gewissen ausbedungen werden.

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Dialektik der Negativität – Hegel 1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) weiß es zu schätzen, welche Aufwertung die Dialektik in Kants Philosophie erfahren hatte. Für Kant war sie der Teil seines Philosophierens, der – zumindest in der „Kritik der reinen Vernunft“ – die umfänglichste Darstellung findet und die intensivste Aufmerksamkeit des Lesers verdient. Bei alledem blieb Dialektik allerdings ein Teil, eine unter mehreren philosophischen Disziplinen, eine Rubrik im System. Für Hegel bedeutet sie mehr als ein Teil, eine Disziplin, eine Rubrik; sein Philosophieren versteht sich in allen Teilen und nach allen Seiten hin als ein dialektisches – als dialektisch konzipiertes wissenschaftliches System. Am vollständigsten und umfänglichsten hat er sein System in dem Buch „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ ausgebreitet. Danach besteht es aus einer Logik, einer Philosophie der Natur, die auch von Raum und Zeit handelt, und einer Philosophie des Geistes, die eine Ethik und Staatslehre einschließt und im Rahmen einer speziellen Vorlesung über die Vernunft in der Geschichte um eine Geschichtsphilosophie ergänzt wird. Der Dialektik verschrieben sind alle drei Teile. In allen drei wird Dialektik als Theorie und Methode von Entwicklungen ausgeführt. Unter Entwicklung wird dabei eine Bewegung verstanden, die zweierlei auszeichnet. Erstens ist das eine aufsteigende Bewegung, und das soll heißen: eine Bewegung vom Einfachen zum Vielfältigen, vom Bestimmungslosen über das Bestimmungsarme zum Bestimmungsreichen, ja vom Niederen zum Höheren, wie es vor allem in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen heißt. Zweitens ist Entwicklung Selbstbewegung, und das soll heißen: Bewegung vermittels einer Kraft, die dem Bewegten eigen ist und seine Negativität genannt wird. Entwicklung oder dialektische Bewegung sei die aufsteigende Selbstbewegung kraft Negativität.

Der Philosophie des Geistes hat Hegel das erste seiner Epoche machenden Werke gewidmet. Es trägt den Titel „Phänomenologie des Geistes“. Es vollzieht eine der dialektischen Bewegungen nach, eine Entwicklung. Es stellt dar, wie sich der Geist – und zwar der endliche, wesentlich menschliche Geist – von seinem einfachsten, niedersten Phänomen bis zu seinem vorläufig höchsten Phänomen entwickelt hat, von der sinnlichen Gewißheit bis hin zum absoluten Wissen. Dieses Werk steht chronologisch am Anfang.

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These, Antithese, Synthese – Fichte

Wie Immanuel Kant die Dialektik ausgelegt hat, beschreibt auf dieser Seite ausführlich der Eintrag vom 31. Dez. 2011. Danach besteht der dialektische Prozeß, den Kant unter dem Titel „transzendentale Dialektik“ vorstellt und den er als Autor in und mit seinem Text ja eigens durchläuft, in folgender Bewegung der Vernunft: Die Vernunft, die nicht anders anheben kann als auf dem Niveau einer „gemeinen Menschenvernunft“, verwickelt sich als solche unvermeidlich in antinomische Widersprüche, angesichts derer sie genötigt ist, sich selbst zu überprüfen, ihre spontanen Grundannahmen zu hinterfragen, um schließlich diese Annahmen als falsch zu erkennen, sie durch richtige zu ersetzen, vermittels dessen die Antinomien zu beheben und auf diese Weise über sich hinauszuwachsen zu einer selbstfundierten Vernunft. So weit war der bereits präsentierte Text gekommen. Der nachstehende Eintrag gibt dazu eine Ergänzung.

DAS SYNTHETISCHE VERFAHREN. Kants Auslegung der Dialektik wirkt fort. Am wirkungsmächtigsten tut sie das allerdings nicht mit ihrem zielartigen Anspruch, daß sich die Vernunft mit transzendental idealistischen Einsichten selbst fundiere. Was Kants Nachfahren vielmehr fortsetzen, ist sein Denken in Antinomien. Dabei bleibt das Fortgesetzte nicht unverändert, es erfährt sogar erhebliche Veränderungen, die von ihren Akteuren auch noch als Weitentwicklung präsentiert werden. Das beginnt schon im Philosophieren von Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814). Das Denken der vorzugsweise als „Widerstreit“ bezeichneten Antinomien wird von ihm zu einem Verfahren ausgebaut, das er das „synthetische Verfahren“ oder die „synthetische Methode“ nennt. Dabei verlängert er die Ableitung von Thesen und Antithesen zu einem sogenannten Dreischritt, zur Triade: These – Antithese – Synthese. Statt wie Kant den Widerstreit durch ein Hinterfragen, durch Aufdeckung seiner unbewußten Voraussetzungen auflösen zu wollen, gelte es, nach einer Synthese der einander widerstreitenden Gegensätze zu suchen. Diese Synthese heißt bei Fichte zumeist „Vereinigung der Gegensätze“. In jedem Fall soll die Vereinigung von Gegensätzen in etwas aufgefunden werden, das etwas – im Vergleich mit den beiden Gegensätzen – Drittes ausmacht. Unter Umständen kann das Dritte in einem Mittelglied bestehen, das es zwischen die Gegensätze, zwischen These und Antithese einzuschieben gilt bzw. das zwischen ihnen schon immer vermittelt.

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Hermeneutische Dialektik – Gadamer

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht im deutschsprachigen philosophischen Diskurs eine auf Hegel gemünzte polemische These zur Dialektik um: Wahre Dialektik ist kein Monolog! Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) hat sie gleichsam in Stein gemeißelt. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkens mit sich selbst, sie ist der Dialog zwischen Ich und Du.“ So lautet einer seiner „Grundsätze für die Philosophie der Zukunft“ (§ 64), die er 1843 publizierte. Jahre zuvor schon, noch zu Lebzeiten Hegels, hatte eine philosophische Denkrichtung sich auszubilden begonnen, für die die kritische Wendung gegen den tatsächlich oder vermeintlich monologischen Charakter der hegelschen Dialektik eine geradezu motivische Bedeutung erlangt – die moderne philosophische Hermeneutik. Sie wird von Friedrich Daniel Schleiermacher (1768 – 1834) begründet, und zwar als die „Kunstlehre des Verstehens„. Seitdem durchlief die Hermeneutik eine beträchtliche Entwicklung, die Wendung gegen Hegels Monologisieren ist ihr aber geblieben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekräftigt Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) das Motiv: „Hegels Dialektik ist ein Monolog des Denkens, der vorgängig leisten möchte, was in jedem echten Gespräch nach und nach reift.“ (Wahrheit und Methode, Ges. Werke, Bd. 1, S. 375). Anders als die gewissermaßen antidialektische Kritik, die von kritischen Rationalisten wie Popper geübt wird, verwirft die Hermeneutik keineswegs die Dialektik schlechthin und überhaupt, sie kritisiert deren monologische Auslegung. Solche Kritik geht mit der systematischen Ausarbeitung einer eigenen Dialektik einher, die nicht selten als die wahre und eigentliche daherkommt. Man darf von hermeneutischer Dialektik sprechen. Über die ihr durch Schleiermacher verliehene Gestalt war bereits in dem Eintrag vom 31. März 2012 die Rede. An dieser Stelle soll nun vorgestellt werden, wie Gadamer, der wirkungsmächtigste philosophische Hermeneutiker des 20. Jahrhunderts,  Dialektik entwarf.

KUNST DES FRAGENS. Wie Schleiermacher versteht Gadamer die Dialektik ganz buchstäblich als „Kunst des Gesprächs“. Er kehrt am Gespräch jedoch eine Struktur heraus, von der aus er die hermeneutische Dialektik auf neue Weise konzipiert. Jedes wirkliche Gespräch habe „die notwendige Struktur von Frage und Antwort“. Von daher legt er die Dialektik resp. Unterredungskunst als „Kunst des Fragens und des Suchens der Wahrheit“ aus. Das Fragen und Antworten würde geradezu die „Vollzugsweise der Dialektik“ ausmachen. Die „Dialektik von Frage und Antwort“ finde sich tief eingelassen in die Struktur der hermeneutischen Erfahrung. Diese Konzeption nimmt einen Gedanken auf, der bereits zum Dialektikverständnis von Platon gehört hat. Der ließ seinen Sokrates an einer Stelle definieren: „Dialektiker ist, wer zu fragen und zu antworten versteht.“ (Kratylos 390c.). Eine recht schlicht anmutende These, die dennoch Ideengeschichte gemacht hat. Als nächstes taucht sie in der Logik der Stoiker auf. Dort gilt das methodische Fragen und Antworten als exklusive Leistung der Dialektik. „Ohne sie sei es nicht möglich, methodisch zu fragen und zu antworten.“ (Diog. Laert., Vitae philos. VII 47 – 48). Nachdem Platons These in einschlägigen Philosophien des Mittelalters und der Renaissance immer wieder Anklänge und Auslegung gefunden hat – etwa durch Petrus Ramus – und in der Folgezeit allerdings selbst bei erklärten Dialektikern in Vergessenheit geraten ist, wird sie von Gadamer wieder aufgenommen und mit ihrer intensiven Bindung der Dialektik ans Fragen und Antworten konzeptionell entfaltet. In seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ geschieht das. Angesichts der Etymologie des alten Wortes „dialektike“, in Erinnerung an „Unterredungskunst“ als seine einfache Wortbedeutung, vermag es spontan einzuleuchten, daß die Dialektik etwas mit einer Kunst des Fragens und Antwortens zu schaffen haben muß. Wie das Gespräch ein Fragen und Antworten einschließt, so die Kunst der Gesprächsführung die des Fragens und Antwortens. Das scheint selbstverständlich. Es gibt aber nur eine oberflächliche Begründung her. Was das Spiel von Fragen und Antworten tiefinnerlich zur dialektischen Bewegung und Kunst macht, ist der logische Stellenwert vor allem des Fragens für das wirkliche Gespräch, d. h. für das dialogische Denken, das dialogisch gemeinsame Verstehen.

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Romantische Dialektik – Schleiermacher

Die „Dialektik“ ist Friedrich Daniel Schleiermachers Hauptwerk, sagt man, bzw. sie wäre sein Hauptwerk geworden, hätte seine Lebenszeit zur endgültigen Ausarbeitung gereicht. Eine tödliche Lungenentzündung verhinderte die Ausführung. So blieb es bei Vorarbeiten, die von Mal zu Mal gediegener ausfallen. Darin nimmt Schleiermacher die urtümliche Bedeutung des griechischen Wortes „dialektike“, mit der schon Platon diesen Ausdruck vorfand, ganz buchstäblich: Dialektik ist Unterredungskunst, Kunst der Gesprächsführung, also eine bestimmte Form des Gesprächs, eine bestimmte Weise, Gespräche zu führen. Anders als Platon läßt er nicht schon die innere Rede, die noch im reinen Denken geschieht, als Gespräch gelten. Er meint das „eigentliche Gespräch“, die „eigentliche Wechselrede“. Darum handelt es sich bei der „mündlichen Verhandlung“, ferner bei dem „Gespräch zwischen Autor und Leser“, das im Schreiben und Lesen geschieht, schließlich auch bei Selbstgesprächen, im Verlauf derer sich Individuen mit ihren eigenen, aber früher vertretenen Gedanken auseinandersetzen. Dialektik ist eine bestimmte Weise, solche Gespräche zu führen, eben die kunstvolle Weise der Gesprächsführung. Sie hat einen Ansatzpunkt im Gespräch. Sie setzt an bei einer Differenz zwischen den von Gesprächspartnern ausgetauschten Gedanken, gleichviel ob diese Gedanken von wissenschaftlicher, philosophischer, religiöser, politischer oder noch anderer Art sind. Diese Differenz wird auch Streit genannt. Ausdrücklich führt Schleiermacher zwei Formen des Streits an. In der einen Form widerstreiten einander Gedanken wie „A ist b“ und „A ist nicht b“, in der zweiten dagegen Gedanken wie „A ist“ und „A ist nicht“ (Dialektik, Bd. 2, Frankfurt am Main 2001, S. 22). Unschwer erkennt man in den Formeln solche Aussagen wieder, die, wenn sie zu jeweils einer Aussage verbunden würden, Widersprüche bildeten. In dem thematisierten Gespräch tun sie das allerdings nicht, vielmehr werden sie dort von unterschiedlichen Gesprächspartnern vertreten. Differenzen von der markierten Art sind es, woran die Dialektik als Unterredungskunst anzusetzen habe, woran sie sich bewähren kann und muß. Und zwar in folgendem näheren Sinne. Es fragt sich, woher der Streit, die Differenz zwischen den Gedanken von Gesprächsteilnehmern rührt. Schleiermacher gibt darauf eine frappierende Antwort: Streit bricht aus, weil und insofern „kunstlos“ gedacht wird (ebenda S. 96). Kunstlos, das heißt ungeregelt, naturwüchsig, naiv. Streit bricht aus, weil und insofern ungeregelt, naturwüchsig, naiv gedacht wird. Folglich wird er überwunden, indem man von einem mehr oder minder weitgehend kunstlosen zu einem kunstvollen Denken übergeht. Genau das ist die Aufgabe der Dialektik als Unterredungskunst. Sie ist dazu bestimmt und befähigt, „dasjenige Denken, welches auf eine kunstlose Weise entstanden ist, in ein kunstmäßiges zu verwandeln“ (ebenda S. 98). So ist sie die Kunst, von einer Differenz im Denken zur Übereinstimmung im Denken zu gelangen (ebenda Bd. 1, S. 161 nebst Anmkg. 22). Dieserart vermag sie, „den Streit auf dem Gebiet des reinen Denkens zu beendigen“ und ein „streitfreies Denken“ zu stiften (ebenda S. 37).

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Die sogenannte Uhrzeit

Ob im folgenden abkürzend von der Uhrzeit gesprochen wird, unter stillschweigendem Einschluß der Kalenderzeit, oder ausführlicher von der Kalender- und Uhrzeit, in Rede stehen wird dabei durchweg jenes Messen, das wir näher besehen meinen und eigentlich nur meinen können, wenn wir behaupten, die Zeit zu messen, allen Ernstes die Zeit. Dieses Messen praktizieren wir mittlerweile in sehr vielfältigen und entwickelten Formen, in allen Formen folgt es jedoch einem schlichten urtümlichen Muster. Zunächst haben wir unter überschaubaren Bewegungen einige wenige, stets aber zyklische ausgezeichnet. So den Umlauf von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang, für den erwiesen ist, nicht in einem Umlauf der Sonne um die Erde, sondern in der Erdrotation zu bestehen. Außerdem die Bewegung des Mondes von einer Phase bis zum Wiedereintritt in die gleiche Phase, von Vollmond zu Vollmond beispielsweise. Ferner den Umlauf von Winter zu Winter oder von Frühling zu Frühling usw. Bekanntlich fällt er in der einen wie in der anderen Ansetzung mit dem Umlauf der Erde um die Sonne zusammen. Sodann haben wir die ausgezeichneten Bewegungen zu Standardbewegungen erkoren. Sie wurden – als Tag, Monat und Jahr bezeichnet – zu einem Maßstab für alle anderen Bewegungen kultiviert. Schließlich messen wir beliebige Bewegungen am Maßstab der Standardbewegungen, und das heißt, wir ermitteln beliebige Bewegungen als ein Bruchteil oder Vielfaches der Standardbewegungen. Dieserart bieten sie sich als sekundenlange, stundenlange, tagelange, jahrelange usw. dar. So ungefähr die minimale Anatomie der Uhrzeit. Eine recht karge Struktur. Leicht ließe sich deren knappe Beschreibung mit vielen interessanten und wichtigen Details anreichern und der vertrauten Praxis modernen Zeitmessens fortschreitend annähern. Daß wir seit der Renaissance für die genannten natürlichen Standardbewegungen zunehmend künstliche Stellvertreter eingesetzt haben, als erstes die von Christian Huygens dafür nutzbar gemachte periodische Bewegung eines Schwerependels, daß die natürlichen Standardbewegungen zudem nicht gleichmäßig sind, u. a. wegen der Wirkung der Gezeiten auf die Erdrotation ungleichmäßig verlaufen und darum einer gewissen Ausgleichung unterzogen wurden, indem wir, statt weiter mit dem wahren Sonnenjahr zu rechnen, erst mit einem mittleren Sonnenjahr und schließlich mit einem festgesetzten tropischen Jahr zu operieren begannen, daß überdies das Sonnenjahr mit seinen 365 Tagen nicht alternativlos ist, sondern kalendergeschichtlich mit einem Mondjahr von 354 Tagen konkurriert, an dem der islamische Kalender ungebrochen festhält – Details von solchem Gewicht ließen sich seitenweise nachreichen. Wenn es an dieser Stelle bei der Andeutung ihrer Vielfalt bleiben soll, so nur deshalb, weil ihre Kenntnis die philosophische Hauptfrage des sogenannten Zeitmessens einer Beantwortung um keinen Deut näherzubringen vermag. Die Hauptfrage lautet: Wie verhält sich die Kalender- und Uhrzeit überhaupt zur Zeit? Die Antwort läuft auf folgende Einsicht hinaus: Das gemeinhin als Uhrzeit bezeichnete Messen trägt weniger zu Recht als zu Unrecht den Namen der Zeit; unter dem geläufigen Terminus technicus messen wir etwas anderes als die Zeit.

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Transzendentale Dialektik – Kant

Welchen Platz die Dialektik in der Philosophie von Kant einnimmt, zeichnet sich bereits  an der Gliederung seines bedeutendsten Werkes, der „Kritik der reinen Vernunft“,  ab. Die ganze Schrift gliedert sich in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre. Die zuerst ausgebreitete Elementarlehre besteht aus einer Ästhetik, die von Raum und Zeit als Anschauungsformen handelt, und einer Logik. Die Logik wiederum hebt mit einer Analytik an. Zum bei weitem größeren Teil aber besteht sie aus einer Dialektik. Der größte Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ ist der Dialektik gewidmet. Die Analytik, mit welcher die Logik beginnt, ist mit dem Verstand befaßt, insbesondere mit den Verstandesbegriffen, die auch Kategorien genannt werden. Die Dialektik hingegen hat rundum mit reiner Vernunft zu schaffen. Sie hat ihren „Sitz“, wie es anschaulich heißt, in der Vernunft. Mit einer gewissen Anhänglichkeit gegenüber der vom Verstand unterscheidbaren Vernunft war die Dialektik ja schon an ihrer Wiege vorgestellt worden, durch Platon. Nach Kant vollziehen sich die typisch dialektischen Bewegungen an und mit den Begriffen der reinen Vernunft. Er nennt sie „transzendentale Ideen“. Und eine Dialektik, die sich an und mit solchen Ideen vollzieht, heißt „transzendentale Dialektik“. Sie geschieht in bestimmten Formen des Schließens. Das sind die dialektischen Schlüsse. Es sollen genau drei sein. Der eine dialektische Schluß wird „Paralogismus der reinen Vernunft“ genannt, ein weiterer „Ideal der reinen Vernunft“. Der dritte trägt den Titel „Antinomie der reinen Vernunft“. Kant selbst hat unter den drei Formen dialektischen Schließens eine Form ausdrücklich ausgezeichnet: die Antinomie. Er rät sogar dazu, „daß der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nötigen.“ (Prolegommena, Kants ges. Schriften, Bd. IV, S. 341). In dieser Weise soll hier seine Dialektik vorgestellt werden, hauptsächlich entlang der sogenannten Antinomie.

WAS EINE ANTINOMIE IST. Sie ist der „Widerstreit der Gesetze“, definiert Kant (KrV, Kants ges. Schriften, Bd. III, S. 282). Der formelhafte Ausdruck „Widerstreit der Gesetze“ entspricht recht direkt der aus dem Griechischen geschöpften Wortbildung „Antinomie“. Das Wort geht nach der einen Seite hin auf „nomoi / Gesetze“ zurück und enthält andererseits die mit „wider“ übertragbaren Vorsilben „Anti“. „Wider“ und „Gesetze“ – Widerstreit der Gesetze. Die Sache selbst, die auf diese Weise bezeichnet wird, läßt sich in klassisch gewordenen Begriffen folgendermaßen fassen. Erstens. Eine Antinomie macht stets einen Widerspruch aus. Der Widerspruch wiederum, auch Kontradiktion genannt, will nicht mit einem Gegensatz verwechselt werden. Davon war bereits die Rede. Während bei einem Gegensatz, auch Konträres genannt, die äußersten Enden auf einer Abstufungsebene zusammenbestehen, liegt der Widerspruch in dem Zugleich von etwas mit seiner Negation. Jede Antinomie ist solch ein Zugleich von etwas mit seiner Negation, ein Widerspruch. Nur Widersprüche taugen zur Antinomie. Zweitens. Nicht jeder Widerspruch aber ist eine Antinomie. Die Antinomie macht einen besonderen Widerspruch aus. Es muß sich deshalb zwischen antinomischen und nicht antinomischen Widersprüchen unterscheiden lassen. Wann stellt ein Widerspruch in der Tat eine Antinomie dar? Wenn es sich bei ihm um einen beidseitig notwendigen, nach beiden Seiten hin notwendig bestimmten, beiderseits denknotwendigen Widerspruch handelt. Das meint die bündige Formel „Widerstreit der Gesetze“. Der Ausdruck „Gesetz“ steht dabei als Inbegriff von allem allgemein notwendig Bestimmten. Ein nicht antinomischer Widerspruch dagegen liegt vor, wenn die Behauptung von etwas und seiner Negation gerade nicht beiderseits denknotwendig geschieht, wenn sie also bestenfalls nach einer Seite hin notwendig begründet und zumindest nach der anderen Seite hin einem Mangel an Folgerichtigkeit und Kenntnis geschuldet ist. Solche Widersprüche dürfen getrost als Ungereimtheiten abqualifiziert werden.

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Das antithetische Verfahren – Thomas von Aquin

Die topische Dialektik wird in den vielen Jahrhunderten ihrer vergleichsweise intensiven Ausübung immer wieder weiterentwickelt. Zumeist geschieht das auf dem Wege der Ergänzung und Differenzierung. So etwa wenn Albert von Sachsen (1316 – 1390) innerhalb seiner „Logik“ die „dialektischen Topen“ in einer Weise klassifiziert (Logik IV, 18 – 26), die sich weder bei Aristoteles noch bei Cicero findet, aber doch ihrer Absicht folgt, Topen aufzulisten, Ansatzpunkte für die Prüfung und Widerlegung eines aufgestellten Satzes auszuzeichnen und zu sortieren. Zuweilen tauchen dann noch Verfahrensideen anderer Art auf. Sie sind unverkennbar inspiriert von der Topik, zugleich überschreiten sie sichtlich deren Denkansatz. Vor allem gilt das für ein Verfahren des Thomas von Aquin (1224 – 1274), das als antithetisches Verfahren bezeichnet werden kann. In Reinform bedient sich Thomas des Verfahrens bei der Abfassung zweier Schriften, der „Summa theologica“ und der „Questiones disputatae“. In beiden Werken untersteht jedes der überaus zahlreichen Kapitel einer Problemfrage. Zum Beispiel der Frage, ob mit dem Wirken der Natur ein Schöpfungsvorgang verbunden ist (Quest. 7.1, qu. 3 a. 8; Sum. Theol. I, qu. 45 a. 8). Oder, ob aus dem Einen eine Vielheit hervorgehen kann (Quest. 7.1, qu. 3 a. 16; Sum. Theol. I, qu. 47 a. 1), ob die Welt immer schon gewesen ist (Quest. 7.1, qu. 3 a. 17; Sum. Theol. I, qu. 46 a. 1). Die Entscheidung solcher Fragen erfolgt in einem markanten Dreischritt.

Als erstes wird unter der ausdrücklichen oder faktischen Rubrizierung „Praeterea“ aufgeführt, was alles für die jeweils naheliegende Beantwortung spricht, mag das eine bejahende oder eine verneinende Antwort sein. Bereits dieser erste Schritt hat die Form der Argumentation. Vorzugsweise geht Thomas dabei so vor, daß er aus biblischen Gedanken, aus Thesen viel gelesener Vordenker und aus zu seiner Zeit verbreiteten Auffassungen Schlußfolgerungen ableitet, Konsequenzen zieht, die in die gewählte Antwortrichtung weisen.

Als zweites wird unter der Rubrik „Sed contra / dagegen (spricht)“ angeführt, was gegen die auf Anhieb in Betracht gezogene Beantwortung der Frage geltend gemacht werden kann. Wieder werden aus Gedanken von vielfältiger Abkunft Schlußfolgerungen abgeleitet, nur daß die den im ersten Schritt gezogenen Schlußfolgerungen zuwiderlaufen und die gegenteilige Beantwortung der Problemfrage stützen.

Darauf folgt ein dritter Schritt, unter der Rubrik „Respondeo / Antworten, Erwidern“. Thomas erwidert auf die von ihm gerade mit Argumenten untersetzten gegenläufigen Beantwortungen der Problemfrage. Dieses Verhalten zu ihnen setzt die beiden Antworten als These und Antithese. Die Erwiderung führt eine begründete Entscheidung über These und Antithese herbei und entscheidet so die Problemfrage.

Dieses dreistufige Vorgehen meint der Titel „antithetisches Verfahren“. Von der überkommenen Topik inspiriert zeigt es sich vor allem in einer Hinsicht: Überlegene Erkenntnis, das ist seine leitende Überzeugung, gewinnt man in der Kontroverse. Nicht nur um der Verbreitung der Wahrheit willen, schon um der Wahrheitsfindung willen muß man sich auf den Widerspruch in Gestalt des Einander – Widersprechens einlassen.

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Differenz und Dialektik

Gleichsam als ein Konkurrenzunternehmen zur Dialektik wurde die Differenzphilosophie nicht selten firmiert. Bereits in einem Text, der sich wie die Geburtsurkunde der neueren Denkrichtung liest, finden sich programmatisch intonierte Wendungen wider die Dialektik; als nämlich Gilles Deleuze vor Jahrzehnten die Aufgabe stellte, „Differenz und Wiederholung“ an die Stelle von „Identität und Widerspruch“ treten zu lassen (Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 11), ward das favorisierte Paar ausdrücklich gegen Grundbegriffe der Dialektik Hegelscher Prägung aufgeboten. Mittlerweile hat man den Verdrängungsprozeß schon als vollzogen angezeigt. Gianni Vattimo sah vor einem Jahrzehnt in einer Auflösung der Dialektik das Denken der Differenz triumphieren. Es mag zum gut Teil solchen Zeitgeistdiagnosen geschuldet sein, wenn sich heute zu dem geistesgeschichtlichen Vorgang bei Teilnehmern und Beobachtern, unter diesen allerdings ungleich mehr als bei jenen, eine Art doxa herausgebildet hat, ein Meinen alten Sinnes, das die Opposition „Differenzphilosophie vs. Dialektik“ ebenso selbstverständlich voraussetzt wie es offenkundig an der Fehlwahrnehmung zumindest einer der beteiligten Seiten, zumeist aber gleich beider, leidet. Der Dialektik wird das Meinen kaum gerecht, indem es sie stillschweigend auf eine ihrer Formen stutzt, auf die von Hegel gestiftete, und andere Formen, etwa die hermeneutische oder die topische Dialektik, unterschlägt. Dem Denken der Differenz wird das Meinen noch weniger gerecht, indem es seinen zentralen Begriff um die theoriegeschichtliche Neuheit bringt. Weithin macht sich im deutschsprachigen Diskurs die Neigung bemerkbar, sogar den mit modischer Emphase gebrauchten Begriff der Differenz wie ein Synonym für „Unterschied“ zu verwenden, von Differenz zu sprechen und Unterschied zu meinen bzw. etwas zu meinen, das sich verlustlos mit dem vertrauten Wort des Unterschiedes ausdrücken ließe. Als würde Differenzphilosophie bloß eine Vorliebe für Unterschiede verheißen, als hätte sie lediglich die Radikalisierung des historisch überaus geläufigen Denkens in Unterschieden zu bieten.

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